="http://www.w3.org/2000/svg" viewBox="0 0 512 512">

6.4 Grenzwerte von Funktionen

Wir betrachten jetzt wieder allgemeine Funktionen f : D auf einer allgemeinen Teilmenge D und wollen (eigentliche und uneigentliche) Grenzwerte für den Fall definieren, wenn x D gegen ein x0 strebt (oder auch wenn x D gegen + oder gegen divergiert).

6.4.1 Grenzwerte und punktierte Umgebungen

Sei D eine Teilmenge und x0 ein Häufungspunkt von D. Wir erinnern daran, dass Letzteres genau dann der Fall ist, wenn

D (x0 δ,x0 + δ) {x0} (6.7)

für alle δ > 0, oder äquivalent, wenn es eine Folge in D {x0} gibt, die gegen x0 strebt.

Für eine Funktion f : D ist A = lim xx0f (x) der Grenzwert von f(x) für x x0 , oder auch der Grenzwert bei x0, falls

𝜀 > 0 δ > 0 x D (x0 δ,x0 + δ) {x0} : |f(x) A| < 𝜀.

Informell ausgedrückt bedeutet dies, dass die Funktionswerte von f beliebig nahe bei A liegen wenn x D {x0} nahe an x0 heranrückt. Der Grenzwert von f(x) für x x0 muss natürlich nicht existieren; wenn er existiert, ist er aber eindeutig bestimmt (diese Eigenschaft ist der Grund, wieso wir (6.7) angenommen haben, siehe Übung 6.38).

Der Grenzwert erfüllt, analog zu Proposition 5.30, die gewohnten Eigenschaften. Er ist

linear (das heisst, falls lim xx0f (x) und lim xx0g (x) existieren, so existiert auch der Grenzwert lim xx0f (x) + g (x) = lim xx0f (x) + lim xx0g (x) und analog für skalare Multiplikation),
multiplikativ (das heisst, falls lim xx0f (x) und lim xx0g (x) existieren, so existiert auch lim xx0f (x)g (x) = (lim xx0f (x))(lim xx0g (x))),
monoton (f g impliziert lim xx0f (x) lim xx0g (x), falls die Grenzwerte existieren)
und erfüllt ein Sandwich-Lemma.

Übung 6.38 (Erste Eigenschaften).

(i)
Beweisen Sie, dass der Grenzwert lim xx0f (x) eindeutig bestimmt ist, falls er existiert.
(ii)
Beweisen Sie die drei Eigenschaften linear, multiplikativ und monoton des Grenzwerts von Funktionen auf D für x x0.
(iii)
Formulieren und beweisen Sie ein Sandwich-Lemma für den Grenzwert von Funktionen auf D für x x0.

Lemma 6.39 (Grenzwerte und Stetigkeit).

Sei D eine Teilmenge, x0 D ein Häufungspunkt von D und f eine reellwertige Funktion auf D. Dann ist f genau dann stetig bei x0, wenn  lim xx0f (x) = f (x0).

Beweis.

Falls f bei x0 stetig ist, dann existiert zu jedem 𝜀 > 0 ein δ > 0, so dass für alle x D die Implikation |x x0 | < δ|f(x) f(x0)| < 𝜀 gilt. Vergleicht man dies mit der Definition von  lim xx0f (x), erhält man  lim xx0f (x) = f (x0).

Falls umgekehrt  lim xx0f (x) = f (x0) gilt, so müssen wir wiederum nur die Definition der Stetigkeit (und die Gleichheit des Grenzwerts mit f(x0 )) verwenden, um Stetigkeit von f bei x0 zu erhalten.   

Obiges Lemma hat auch eine Interpretation für den Fall x0 D, denn in diesem Fall wäre der Grenzwert lim xx0f (x) (falls dieser existiert) ein guter Kandidat für eine Fortsetzung der Funktion auf die Menge D {x0 }, da diese Fortsetzung dann bei x0 stetig wird.

Man nennt einen Häufungspunkt x0 D eine hebbare Unstetigkeitsstelle von f, falls lim xx0f (x) existiert, aber nicht gleich f(x0) ist (siehe auch Figur 6.5). In diesem Fall kann man eine neue Funktion fneu : D durch

fneu (x) = { f(x) falls x D {x0} lim xx0f (x)falls x = x0

für x D definieren, die bei x0 stetig ist.

Genauso wie in dem Beweis von Proposition 5.50 sieht man nun, dass für eine Folge (xn )n in D {x0 } mit xn x0 für n die Gleichheit lim nf (xn) = lim xx0f (x) gilt, falls letzter Grenzwert existiert.

Lemma 6.40 (Grenzwerte mittels Folgen).

Sei D eine Teilmenge, f : D eine Funktion und x0 D ein Häufungspunkt von D. Dann gilt A = lim xx0f (x) genau dann, wenn für jede Folge (an)n in D {x0 } mit lim nan = x0 auch lim nf (an) = A gilt.

Beweis.

Angenommen A = lim xx0f (x) und (an )n ist eine Folge in D {x0} mit lim nan = x0. Dann existiert für 𝜀 > 0 ein δ > 0 mit

0 < |x x0| < δ|f(x) A| < 𝜀

für alle x D. Des Weiteren existiert ein N mit

n N0 < |an x0| < δ,

was gemeinsam

n N|f(an) A| < 𝜀

ergibt. Die Folge (f(an))n konvergiert also gegen A.

Für die Umkehrung nehmen wir an, dass A = lim xx0f (x) nicht erfüllt ist (also entweder der Grenzwert nicht existiert oder nicht gleich A ist). Dann existiert ein 𝜀 > 0, so dass für alle δ > 0 ein x D existiert mit

0 < |x x0| < δ |f(x) A| 𝜀

Wir verwenden dies für n und δ = 1 n > 0 und finden also ein an D mit

0 < |an x0| < 1 n (6.8)

und

|f(an) A| 𝜀. (6.9)

Aus Ungleichung (6.8) schliessen wir, dass die Folge (an )n Werte in D {x0 } annimmt und gegen x0 konvergiert. Aus Ungleichung (6.9) folgt, dass (f(an))n nicht gegen A konvergiert.   

Proposition 6.41 (Grenzwerte und Verknüpfung mit stetigen Funktionen).

Seien D,E , x0 ein Häufungspunkt von D, f : D E eine Funktion, y0 = lim xx0f (x) E, und g : E eine bei y0 stetige Funktion. Dann gilt lim xx0g (f (x)) = g (y0).

🪆Dies ist ein Matrjoschka-Beweis.

Beweis.

Sei (an)n eine Folge in D {x0} mit  lim nan = x0. Nach Lemma 6.40 gilt dann lim nf (an) = lim xx0f (x) = y0. Die Stetigkeit von g bei y0 impliziert nun gemeinsam mit Proposition 5.50, dass  lim ng (f (an)) = g (y0). Da (an )n eine beliebige Folge in D {x0} mit  lim nan = x0 war, folgt wiederum aus Lemma 6.40, dass  lim xx0g (f (x)) = g (y0).   

Diese Eigenschaften von Grenzwerten können bereits für die Berechnung von vielen Grenzwerten verwendet werden.

Weiters können wir uneigentliche Grenzwerte definieren. Wir sagen zum Beispiel, dass f(x) gegen  + für x x0 divergiert und schreiben  lim xx0f (x) = +, falls

𝜀 > 0 δ > 0 x D (x0 δ,x0 + δ) {x0} : f(x) > 𝜀1.

Wir nennen die Menge U˙δ (x0) = (x0 δ,x0 + δ) {x0} die punktierte δ-Umgebung um x0 , und bemerken, dass diese Mengen implizit in der Definition des Grenzwerts aufgetreten sind.

6.4.2 Links- und rechtsseitige Grenzwerte

Angenommen D ist eine Teilmenge und x0 hat die Eigenschaft D (x0,x0 + δ) für alle δ > 0. Intuitiv hat der Punkt x0 also die Eigenschaft, dass ihm D von rechts beliebig nahe kommt, was also eine stärkere Forderung ist als (6.7). Einen solchen Punkt x0 wollen wir einen rechtsseitigen Häufungspunkt von D nennen. Für eine Funktion f : D ist A = lim xx0f (x) (alternativ lim xx0 + f (x) oder auch lim xx0 ,x>x0f (x)) der rechtsseitige Grenzwert von f(x) bei x0 , falls

𝜀 > 0 δ > 0 x D (x0,x0 + δ) : |f(x) A| < 𝜀.

Wir schreiben lim xx0f (x) = +, falls

𝜀 > 0 δ > 0 x D (x0,x0 + δ) : f (x) > 1 𝜀

und lim xx0f (x) = , falls

𝜀 > 0 δ > 0 x D (x0,x0 + δ) : f (x) < 1 𝜀.

Falls x0 die Eigenschaft D (x0 δ,x0) für alle δ > 0 hat (x0 ist ein linksseitiger Häufungspunkt), können wir ebenso den linksseitigen Grenzwert lim xx0 f (x) (alternativ lim xx0 f (x) oder auch lim xx0,x<x0f (x)) definieren.

Falls x0 ein links- und rechtsseitiger Häufungspunkt ist, dann existiert der Grenzwert lim xx0 f (x) genau dann, wenn die links- und rechtseitigen Grenzwerte von f(x) bei x0 existiert und lim xx0f (x) = lim xx0f (x) erfüllt ist.

Beispiele von links- und rechtsseitigen Grenzwerten sind

lim x0 1 x = +,lim x0 1 x = ,lim x0 log (x) = ,lim x0x = lim x0x = 0.

6.4.3 Einseitige Stetigkeit und Sprungstellen

Sei D eine Teilmenge, x0 D ein rechtseitiger Häufungspunkt von D und f : D eine Funktion. Falls lim xx0f (x) existiert und gleich f(x0 ) ist, dann sagen wir, dass f rechtsseitig stetig bei x0 ist. Ist x0 D ein linksseitiger Häufungspunkt von D, dann sagen wir analog, dass f linksseitig stetig bei x0 ist, falls lim xx0f (x) existiert und gleich f(x0) ist.

PIC

     Figur 6.5: Der Graph einer Funktion, die eine hebbare Unstetigkeitsstelle bei x1 hat, bei x2 linksseitig stetig (aber nicht rechtseitig stetig) ist und bei x3 rechtsseitig stetig ist.     

Sei nun D und x0 D ein links- und rechtsseitiger Häufungspunkt von D (insbesondere ein Häufungspunkt von D). Für eine Funktion f : D heisst x0 eine Sprungstelle, falls die einseitigen Grenzwerte  lim xx0f (x) und lim xx0f (x) existieren, aber verschieden sind.

Applet 6.42 (Grenzwerte einer Funktion).

Wir sehen eine Funktion mit Definitionsbereich D = {0} (1 2,2) (2,5) (5,8) (8,11], und betrachten verschiedene Bewegungen im Definitionsbereich und Grenzwerte für diese Funktion.

6.4.4 Die Bewegung nach Unendlich

Angenommen D ist eine nicht von oben beschränkte Teilmenge (das heisst, für alle δ > 0 gilt (1 δ,) D) und f : D ist eine Funktion. Wir sagen, dass f gegen A strebt für x , und schreiben lim xf (x) = A, falls

𝜀 > 0 δ > 0 x (1 δ,) D : |f (x) A| < 𝜀.

Übung 6.43 (Beispiele für uneigentliche Grenzwerte).

Definieren Sie für D wie oben und eine Funktion f : D die uneigentlichen Grenzwerte lim xf (x) = , lim xf (x ) = und finden Sie je eine Funktion f auf (0, ) mit lim xf (x) = 1, lim xf (x ) = + und lim xf (x) = .

6.4.5 Einige Rechenbeispiele

Wir werden bei Rechnungen wie den folgenden oft davon ausgehen, dass ein Formelausdruck eine Funktion mit dem maximalen für den Formelausdruck sinnvollen Definitionsbereich definiert.

Beispiel 6.44.

Wir wollen hier lim x0xx = lim x0xx berechnen, und müssen für dies zwei weitere Grenzwerte berechnen.

Wir behaupten zuerst lim yyexp (y) = 0. (6.10)

In der Tat gilt exp (y) (1 + y 2)2 für y 0 auf Grund der Monotonie der Folge (1 + y n)n, die in Abschnitt 6.3 für die Definition der Exponentialabbildung verwendet wurde. Daraus ergibt sich 0 yexp (y) y (1+y 2 )2 4 y, was wegen dem Sandwich-Lemma (Lemma B.6) eben (6.10) impliziert.

Als nächstes wollen wir lim x0xlog x = 0 (6.11)

zeigen. Sei also 𝜀 > 0. Dann gibt es wegen (6.10) ein δ > 0 so dass |yexp (y)| < 𝜀 für alle y > 1 δ. Sei nun x (0,exp (1 δ)) und y = log x, dann ist y > 1 δ auf Grund der strengen Monotonie der Logarithmus-Abbildung und damit |x log x| = |exp (y)y| < 𝜀, was zu zeigen war.

Auf Grund von Proposition 6.41 und da die Exponentialabbildung stetig ist, ergibt sich aus (6.11)nun lim x0xx = lim x0 exp (xlog x) = exp (0) = 1.

Hieraus ergibt sich auch ein weiterer Beweis für Beispiel 6.4 (iii). (Wieso?Nach Lemma 6.40 folgt aus obigem lim n(1 n)1 n = 1. Nimmt man nun den Kehrwert so erhalten wir mit Proposition 5.30 (iii) den Grenzwert lim nn1 n = 1.)

Übung 6.45.

Berechnen Sie die folgenden Grenzwerte (falls sie existieren)

lim x2x3 x2 x 2 x 2 ,lim x3e2x + ex + 1 2e2x 1 ,lim xex xa,lim xlog (x) xa

für ein a . Beschreiben Sie weiters, wie man die Grenzwerte

lim xp (x),lim xp(x) q(x)

für zwei Polynome p,q [x] mit q 0 berechnet.

License

Analysis I (Kap. 1-9) Copyright © by Manfred Einsiedler. All Rights Reserved.

}