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4.4 Anwendungen

4.4.1 Intervallfunktionen

Wir möchten nun spezielle Abbildungen auf der Menge der Teilintervalle eines Intervalles betrachten, wobei wir Ordnungsvertauschungen im Stile von (4.9) zulassen wollen. Genauer untersuchen wir folgenden Begriff.

Definition 4.29.

Seien a b in und sei : (α, β ) [a,b]2 (α,β) eine Funktion. Wir nennen eine additive Intervallfunktion auf [a,b], falls

(i)
Für alle α [a,b] gilt (α, α) = 0.
(ii)
Für alle α,β [a,b] gilt (α, β) = (β,α).
(iii)
Für alle α,β,γ [a,b] mit (α, β) + (β,γ) = (α,γ).

Wir wollen hier kurz erklären, woher die Bezeichnung „additive Intervallfunktion“ stammt. Ist eine additive Intervallfunktion auf einem kompakten Intervall [a, b], so kann man eine reellwertige Funktion 𝒥 auf der Menge der nicht-leeren Teilintervalle von [a,b] durch 𝒥 ([α,β]) = (α,β) für [α, β] [a,b] definieren. Diese hat die Eigenschaften

𝒥 ([α,α]) = 0,𝒥 ([α,β] [β,γ]) = 𝒥 ([α,β]) + 𝒥 ([β,γ]) (4.11)

für alle α β γ in [a, b] (wieso?). Vor allem letztere Eigenschaft begründet die Bezeichnung „additive Intervallfunktion“.

Hat man umgekehrt eine reellwertige Funktion 𝒥 auf der Menge der nicht-leeren Teilintervalle von [a,b] gegeben, die (4.11)genügt, so definiert (α,β) = 𝒥 ([α,β]) für α β und (α, β) = 𝒥 ([β,α]) für α > β eine additive Intervallfunktion auf [a, b] (wieso?).

Somit haben wir also zwei Arten, wie wir uns additive Intervallfunktionen vorstellen können. Eine grosse Kollektion von Beispielen erhält man mit Satz 4.26 und Übung 4.27, nach welchen die Abbildung

: (α,β) [a,b]2αβf (x)d x (4.12)

für jede Riemann-integrierbare Funktion f : [a,b] eine additive Intervallfunktion ist. Die folgende Proposition charakterisiert derartige additive Intervallfunktionen.

Proposition 4.30.

Seien a < b in , f : [a, b] eine Riemann-integrierbare Funktion und eine additive Intervallfunktion auf [a,b]. Angenommen es gilt

(β α)inf x(α,β)f (x) (α,β) (β α)sup x(α,β)f (x) (4.13)

für alle α < β in [a, b]. Dann ist

(α,β) =αβf (x)d x

für alle α, β [a,b].

Wir möchten anmerken, dass jedoch nicht alle additiven Intervallfunktionen von der Form in (4.12)sein müssen.

Beweis.

Sei u f eine Treppenfunktion auf [a,b] mit Zerlegung = {a = x0 < < xn = β} in Konstanzintervalle von u. Seien c1 , , cn die Konstanzwerte von u bezüglich . Auf Grund der Annahme u f folgt ck inf x(xk1,xk)f(x) für alle k {1, , n }. Unter Verwendung der Additivität von erhält man damit für die Untersumme

αβu (x)d x = k=1nc k (xk xk1) k=1n (x k xk1) inf x(xk1,xk)f (x) k=1n(x k1,xk) = (α,β)

Ebenso ergibt sich (α,β) αβo (x)d x für jede Treppenfunktion o mit f o. Daher gelten für das untere Integral I̲ und das obere Integral I¯ von f über [α, β] die Ungleichungen

I̲ (α,β) I¯.

Da f aber Riemann-integrierbar ist, gilt I̲ = I¯ und somit (α,β) = αβf (x)d x.   

Man kann Proposition 4.30 als Wegweiser verwenden, um verschiedene Interpretationen des Riemann-Integrals zu finden. Formal gesehen sind diese Anwendungen jeweils Definitionen.

4.4.2 Flächeninhalt

Die einfachste Anwendung von Proposition 4.30 ist die Interpretation von abf (x)d x als Flächeninhalt des Gebietes

{(x,y) 2a x b,0 y f(x)}

unter dem Graphen einer Riemann-integrierbaren Funktion f : [a, b] 0. Die Argumentation, die zu dieser Definition führt, haben wir bereits in Abschnitt 1.1 besprochen. Formal gesehen erachten wir abf (x)d x als Definition des Flächeninhalts des obigen Gebietes.

4.4.3 Masse, Momente und Schwerpunkt

Es gibt natürlich auch viele physikalische Beispiele für die Bedeutung des Riemann-Integrals. Sei zum Beispiel a < b und sei ρ(x) die Dichte eines Stabes (in Kilogramm pro Meter, kg m ) bei der Koordinate x [a,b]. Dann ergibt sich aus Proposition 4.30, dass wir m = abρ (x)d x als das Gesamtmasse (in kg) interpretieren sollten. (Wieso?)

Wir erinnern daran, dass bei einem Hebel das Moment (in Nm) einer Krafteinwirkung durch das Produkt der Krafteinwirkung (in Newton N) und des Weges (in m) definiert ist. Wir stellen uns vor, dass a = 0 < b, der obige Stab mit Dichtefunktion ρ im Ursprung fixiert ist, und die Schwerkraft (mit Gravitationskonstante g in Nkg) auf den Stab einwirkt. In diesem Fall ergibt sich für α < β in [a, b], dass die dem Teilintervall [α,β] entsprechende Masse m(α,β) die Ungleichung

inf {ρ(x)x [α,β]}(β α) m(α,β) sup {ρ(x)x [α,β]}(β α)

erfüllt, woraus sich für das entsprechende Moment M(α, β) die Ungleichung

gαinf {ρ(x)x [α,β]}(β α) M(α,β) gβsup {ρ(x)x [α,β]}(β α)

ergibt. Diese Eigenschaft von M unterscheidet sich zwar formal von (4.13) doch lässt sich mit Hilfe der Stetigkeit von x [a, b] x der Beweis von Proposition 4.30 anpassen. Ebenso ist es physikalisch sinnvoll die Additivität dieser Momentfunktion anzunehmen, dadurch erhalten wir die Definition

M (a,b) =abρ (x)gxd x

für das Gesamtmoment des Stabes.

Der Schwerpunkt des Stabes ist definiert als die x-Koordinate x0 , so dass eine Punktmasse bei x0 mit derselben Masse wie der Stab auch dasselbe Moment besitzt. Also ist

x0 = M(a,b) mg = 1 mabρ (x)xd x.

der Schwerpunkt des Stabes.

Die Annahme a = 0 ist für diese Diskussion (abgesehen von der Vorstellung dass der Stab am Ursprung gehalten wird) nicht notwendig, falls a < 0 < b erhalten wir physikalisch sinnvolle Integrale von Funktionen, die sowohl positive als auch negative Werte annehmen können.

4.4.4 Geleistete Arbeit

Wenn a < b ist und f : [a,b] eine Riemann-integrierbare Funktion ist, die zu einem Zeitpunkt t den Energieverbrauch f(t) (in Watt W) zum Beispiel in Form elektrischer Energie eines Hauses angibt, so beschreibt abf (t)d t die verbrauchte Energie oder vom Stromnetz eingespeiste Arbeit (in Joule J = Ws) zwischen den Zeitpunkten t = a und t = b (in Sekunden s). Diese Interpretation ergibt sich wiederum aus Proposition 4.30 und der Definition, dass Arbeit gleich Leistung mal Zeitdauer ist. Hier ist es ebenso physikalisch sinnvoll, Funktionen mit positiven und negativen Werten zuzulassen, wenn zum Beispiel das Hausdach mit einer Solaranlage ausgestattet ist, die bei Schönwetter etwaige Energieüberschüsse des Hauses ins Stromnetz zurückspeist. Das Vorzeichen des Integrals entscheidet in diesem Fall, ob insgesamt innerhalb der Zeitspanne [a, b] das Haus ein Energieverbraucher oder Energielieferant war.

4.4.5 Vorteil des Integralbegriffs

Wir haben das Integral abstrakt mittels der Definition 4.6 des Integrals einer Treppenfunktion und der Definition 4.11 des Integrals einer Riemann-integrierbaren Funktion eingeführt. Bei Besprechung dieser Definitionen haben wir uns zwar von einer geometrischen Interpretation des Integrals als (vorzeichenbehafteter) Flächeninhalt leiten lassen, doch war diese Vorstellung formal nicht notwendig für unsere Diskussionen. Wir hoffen, dass der Vorteil dieses abstrakten Zugangs nun ersichtlich ist: Das Integral hat je nach Zusammenhang verschiedene (zum Beispiel physikalische) Bedeutungen. Wenn unsere Definition des Integrals „der Flächeninhalt unter der Kurve“ gewesen wäre, dann wäre es nicht klar, was genau der Zusammenhang zwischen einem Flächeninhalt und einer Momentberechnung sein sollte.† Des Weiteren wäre diese Definition zirkulär gewesen, da wir ohne Definition des Integrals keine Definition des Flächeninhalts unter der Kurve haben. In diesem Sinne ist unser abstrakter Zugang nicht Selbstzweck, sondern geradezu notwendig auf Grund der vielfältigen Anwendungen des Integralbegriffs.

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