3.5 Stetigkeit
Sei eine nicht-leere Teilmenge.
Definition 3.45 (Stetigkeit).
Sei eine Funktion. Wir sagen, dass stetig bei einem Punkt ist, falls es für alle ein gibt, so dass für alle die Implikation
gilt. Die Funktion ist stetig, falls sie bei jedem Punkt in stetig ist. Formal ist Stetigkeit von also durch
definiert.
Diese Definition ist vielleicht auf den ersten Blick überraschend, wird für uns aber sehr fundamental sein.† Das Wort „stetig“ und daraus abgeleitete Wörter kommen in der vollständigen Version von diesem Skript über 850 mal vor, was die Wichtigkeit des Begriffs gewissermassen quantifiziert. Wir wollen im Folgenden wieder einige Funktionen und deren Graphen untersuchen, damit wir ein Gespür für die Definition der Stetigkeit erhalten können.
Applet 3.46 (Stetigkeit).
Wir betrachten eine Funktion, die an den meisten (aber nicht allen) Punkten des Definitionsbereichs stetig ist.
In den meisten Situationen wird für uns ein Intervall sein. Wir untersuchen nun ein paar konkrete Beispiele.
Beispiel 3.47.
Ist und beliebig, so gilt wegen der umgekehrten Dreiecksungleichung für alle . Damit kann man mit der Wahl erreichen, dass wenn auch für alle gilt, was die Stetigkeit zeigt.
Ist , dann gilt für jedes , dass und
Damit ist die Stetigkeitsbedingung bei für nicht erfüllt.
Wir möchten an dieser Stelle kurz anmerken, dass es im Beweis der Stetigkeit einer Funktion reicht, „klein genug“ zu betrachten. Genauer können wir annehmen, dass für ein . Denn falls ist, so kann man ein zu finden, was auch für die gewünschte Aussage erfüllt.
Man könnte an dieser Stelle natürlich auch die Stetigkeit weiterer Funktionen beweisen, wie man in folgender Übung verifizieren kann.
Da wir jedoch nicht jedes Mal „von Hand“ überprüfen möchten, ob eine Funktion stetig ist, wenden wir uns nun allgemeineren Aussagen zu. Eine erste solche wollen wir Ihnen als Übung überlassen.
Wichtige Übung 3.49 (Einschränkung von stetigen Funktionen).
Sei ein Teilmenge und stetig. Sei ein Teilmenge von . Zeigen Sie die Stetigkeit von .
Hinweis.
Verwenden Sie die Definition von Stetigkeit.
Proposition 3.50 (Stetigkeit unter Addition und Multiplikation von Funktionen).
Sei . Falls Funktionen sind, die bei einem Punkt stetig sind, dann sind auch und für stetig bei . Insbesondere bildet die Menge der stetigen Funktionen
Beweis.
Angenommen sind bei stetig und sei . Dann existieren , so dass für alle gilt
Wir setzen und erhalten
Da beliebig war, erhalten wir, dass bei stetig ist.
Das Argument für ist ähnlich, aber etwas komplizierter. Wir beginnen mit der Abschätzung
für unter Verwendung der Dreiecksungleichung. Sei und wähle und , so dass für
erfüllt sind. Dann gilt für ein mit , dass
und damit
Für das zweite Argument gilt ebenso
Gemeinsam erhalten wir wie gewünscht. Die Aussage über für folgt mit Obigem und der Tatsache, dass die konstante Funktion stetig ist. Insbesondere ist auch nicht leer, da die konstante Nullfunktion in liegt, und somit ist ein Unterraum von .
Wir präsentieren eine direkte Anwendung dieser Proposition.
Eine weitere Art und Weise, wie man zeigen kann, dass eine Funktion stetig ist, ist, dass man sie als Verknüpfung von stetigen Funktionen darstellt.
Proposition 3.52 (Stetigkeit unter Verknüpfung).
Seien zwei Teilmengen und sei . Angenommen ist eine bei stetige Funktion und ist eine bei stetige Funktion. Dann ist bei stetig. Insbesondere ist die Verknüpfung von stetigen Funktionen wieder stetig.
Es folgt damit, dass zum Beispiel die Abbildung für eine beliebige stetige Funktion stetig ist (nach Beispiel 3.47).
🪆Dies ist ein Matrjoschka-Beweis; verwenden Sie Definition 3.45 für und in der richtigen Reihenfolge.
Beweis.
Sei . Dann existiert wegen der Stetigkeit von bei ein , so dass für alle
Da ist und bei stetig ist, gibt es aber auch ein , so dass für alle
Zusammen ergibt sich unter Verwendung von , dass für alle
gilt. Dies beweist auch die letzte Aussage, da ein beliebiger Punkt in war.
Wichtige Übung 3.53 (Stetigkeit von Quotienten).
Zeigen Sie, dass die Funktion stetig ist. Schliessen Sie, dass Funktionen der Art stetig sind, wenn eine Teilmenge und stetige Funktionen sind. (Beachte, dass auf keine Nullstelle haben darf.)
Hinweis.
Der zweite Teil folgt aus dem ersten und den Propositionen 3.50 und 3.52. Für den ersten Teil versuchen sie zuerst umzuformen und abzuschätzen bevor Sie versuchen, das geeignete zu finden. Durch die geeignete Wahl von kann man auch verhindern, dass zu nahe an die gerät, was für die Abschätzung von Nachteil wäre.
Eine andere Art und Weise, wie man stetige Funktionen konstruieren kann, ist durch „Zusammenkleben“, wie wir in folgender Übung diskutieren wollen.
Wichtige Übung 3.54 (Stetige Funktionen durch Fallunterscheidung).
Seien zwei Intervalle durch gegeben mit und seien und stetige Funktionen. Zeigen Sie, dass die Funktion
genau dann stetig ist, wenn gilt.
Übung 3.55 (Dirichlet-Funktion).
Zeigen Sie, dass die charakteristische Funktion
an keinem Punkt in stetig ist.
Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch folgende Charakterisierung von Stetigkeit, auf die wir später wieder zu sprechen kommen werden und die beispielsweise eine grundlegende Definition der Topologie-Vorlesung im vierten Semester des Mathematikstudums darstellt.
Übung 3.56 (Stetigkeit über offene Mengen).
Sei ein offenes Intervall und eine Funktion. Zeigen Sie, dass genau dann stetig ist, wenn für jede offene Menge auch offen ist.
Ist eine Funktion stetig, so ist das Verhalten von in kleinen Umgebungen eines Punktes oft vorhersehbar.
Übung 3.57 (Lokale Eigenschaften von stetigen Funktionen).
Sei eine Teilmenge und eine Funktion. Zeigen Sie die folgenden Aussagen.
- a)
- (Lokal beschränkt) Wenn bei stetig ist, dann gibt es eine -Umgebung von und ein , so dass für alle .
- b)
- (Lokal das gleiche Vorzeichen) Wenn bei stetig ist und ist, dann gibt es eine -Umgebung von , so dass für alle (das heisst, und haben dasselbe Vorzeichen).
3.5.1 Komplex-wertige Funktionen
Für eine Menge können wir in Analogie zum reellen Vektorraum auch den komplexen Vektorraum
der -wertigen Funktionen oder komplex-wertigen Funktionen Funktionen auf definieren. Weiter sagen wir, dass eine Funktion beschränkt ist, falls die reellwertige Funktion beschränkt ist. Ein Punkt ist eine Nullstelle einer Funktion , falls gilt.
Dieser Abschnitt lässt sich ohne grosse Änderung auf -wertige Funktionen auf einer Teilmenge übertragen. Wir empfehlen Ihnen diesen Abschnitt nochmals zu lesen, aber diesmal komplex-wertige Funktionen auf Teilmengen zu erlauben, wobei und weiterhin reelle Zahlen darstellen. Wir werden später nochmals in grösserer Allgemeinheit auf den Begriff der Stetigkeit zu sprechen kommen. Wir bemerken noch, dass die Monotonieeigenschaften in Abschnitt 3.4.2 hingegen kein Analogon für komplex-wertige Funktionen besitzen (da auf keine natürliche Ordnung gegeben ist).