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3.5 Stetigkeit

Sei D eine nicht-leere Teilmenge.

Definition 3.45 (Stetigkeit).

Sei f : D eine Funktion. Wir sagen, dass f stetig bei einem Punkt x0 D ist, falls es für alle 𝜀 > 0 ein δ > 0 gibt, so dass für alle x D die Implikation

|x x0| < δ|f(x) f(x0)| < 𝜀

gilt. Die Funktion f ist stetig, falls sie bei jedem Punkt in D stetig ist. Formal ist Stetigkeit von f also durch

x0 D : 𝜀 > 0 δ > 0 x D : |x x0| < δ|f(x) f(x0)| < 𝜀

definiert.

Diese Definition ist vielleicht auf den ersten Blick überraschend, wird für uns aber sehr fundamental sein.† Das Wort „stetig“ und daraus abgeleitete Wörter kommen in der vollständigen Version von diesem Skript über 850 mal vor, was die Wichtigkeit des Begriffs gewissermassen quantifiziert. Wir wollen im Folgenden wieder einige Funktionen und deren Graphen untersuchen, damit wir ein Gespür für die Definition der Stetigkeit erhalten können.

PIC

     Figur 3.5: Bei dieser Funktion f mit einem „kontinuierlichen“ Graphen sehen wir, dass f bei x0 stetig ist. Egal wie klein man 𝜀 > 0 wählt, kann man sich gut vorstellen, dass für ein geeignetes δ > 0 für alle x, die δ-nahe bei x0 liegen, auch f(x) 𝜀-nahe an f(x0) ist. Die Funktion ist sogar auf dem ganzen Definitionsbereich [a,b] [c,d] {e} stetig.     

Applet 3.46 (Stetigkeit).

Wir betrachten eine Funktion, die an den meisten (aber nicht allen) Punkten des Definitionsbereichs stetig ist.

In den meisten Situationen wird D für uns ein Intervall I sein. Wir untersuchen nun ein paar konkrete Beispiele.

Beispiel 3.47.

Die konstante Funktion x c für ein c ist stetig. Man kann für jedes x0 und 𝜀 > 0 denselben Wert δ = 1 verwenden.
Die lineare Funktion x ax für ein a ist stetig. Ist a = 0, so ist die Funktion konstant und somit stetig. Sei also a ×. Ist x0 und 𝜀 > 0, dann gilt |ax ax0| = |a||x x0| für alle x . Betrachtet man also die Wahl δ = 𝜀 |a| und ein x mit |x x0| < δ, so ist |ax ax0| = |a||x x0| < |a|δ = 𝜀.
Die Funktion x |x| ist stetig.
PIC

Ist x0 und 𝜀 > 0 beliebig, so gilt wegen der umgekehrten Dreiecksungleichung ||x| |x0|| |x x0| für alle x . Damit kann man mit der Wahl δ = 𝜀 erreichen, dass wenn |x x0| < δ auch | |x||x0|| |x x0| < δ = 𝜀 für alle x gilt, was die Stetigkeit zeigt.

Die Funktion x x ist bei Punkten in nicht stetig.
PIC

Ist n , dann gilt für jedes δ > 0, dass |(n 1 2δ) n| < δ und

|n 1 2δn | = nn 1 2δ n (n 1) = 1.

Damit ist die Stetigkeitsbedingung bei n für 𝜀 < 1 nicht erfüllt.

Wir möchten an dieser Stelle kurz anmerken, dass es im Beweis der Stetigkeit einer Funktion reicht, 𝜀 > 0 „klein genug“ zu betrachten. Genauer können wir annehmen, dass 𝜀 𝜀0 für ein 𝜀0 > 0. Denn falls 𝜀 > 𝜀0 ist, so kann man ein δ > 0 zu 𝜀0 finden, was auch für 𝜀 die gewünschte Aussage erfüllt.

Man könnte an dieser Stelle natürlich auch die Stetigkeit weiterer Funktionen beweisen, wie man in folgender Übung verifizieren kann.

Übung 3.48 (Quadrat und Quadratwurzel).

Zeigen Sie, dass die Funktionen x x2 und x >0 x >0 stetig sind.

Da wir jedoch nicht jedes Mal „von Hand“ überprüfen möchten, ob eine Funktion stetig ist, wenden wir uns nun allgemeineren Aussagen zu. Eine erste solche wollen wir Ihnen als Übung überlassen.

Wichtige Übung 3.49 (Einschränkung von stetigen Funktionen).

Sei D ein Teilmenge und f : D stetig. Sei D ein Teilmenge von D. Zeigen Sie die Stetigkeit von f|D.

Hinweis.

Verwenden Sie die Definition von Stetigkeit.

Proposition 3.50 (Stetigkeit unter Addition und Multiplikation von Funktionen).

Sei D . Falls f1 , f2 : D Funktionen sind, die bei einem Punkt x0 D stetig sind, dann sind auch f1 + f2,f1 f2 und af1 für a stetig bei x0 . Insbesondere bildet die Menge der stetigen Funktionen

C(D) = {f (D)f ist stetig}

einen Unterraum des Vektorraums (D).

Beweis.

Angenommen f1,f2 (D) sind bei x0 D stetig und sei 𝜀 > 0. Dann existieren δ1,δ2 > 0, so dass für alle x D gilt

|x x0| < δ1|f1(x) f1(x0)| < 𝜀 2 |x x0| < δ2|f2(x) f2(x0)| < 𝜀 2.

Wir setzen δ = min {δ1,δ2} > 0 und erhalten

|x x0| < δ|(f1 + f2)(x) (f1 + f2)(x0)| |f1(x) f1(x0)| + |f2(x) f2(x0)| < 𝜀 2 + 𝜀 2 = 𝜀

Da 𝜀 > 0 beliebig war, erhalten wir, dass f1 + f2 bei x0 D stetig ist.

Das Argument für f1f2 ist ähnlich, aber etwas komplizierter. Wir beginnen mit der Abschätzung

|f1(x)f2(x) f1(x0)f2(x0)| = |f1(x)f2(x) f1(x0)f2(x) + f1(x0)f2(x) f1(x0)f2(x0)| |f1(x)f2(x) f1(x0)f2(x)| + |f1(x0)f2(x) f1(x0)f2(x0)| = |f1(x) f1(x0)||f2(x)| + |f1(x0)||f2(x) f2(x0)|

für x D unter Verwendung der Dreiecksungleichung. Sei 𝜀 > 0 und wähle δ1 > 0 und δ2 > 0, so dass für x D

|x x0| < δ1 |f1 (x) f1 (x0)| < 𝜀 2(|f2(x0)| + 1) |x x0| < δ2 |f2 (x) f2 (x0)| < min {1, 𝜀 2(|f1(x0)| + 1) }

erfüllt sind. Dann gilt für ein x D mit |x x0 | < δ = min {δ1,δ2}, dass

|f2(x)| = |f2(x) f2(x0) + f2(x0)||f2(x) f2(x0)| + |f2(x0)| < 1 + |f2(x0)|

und damit

|f1 (x) f1 (x0)| |f2 (x)| < 𝜀 2(|f2(x0)| + 1) (1 + |f2 (x0)|) = 𝜀 2.

Für das zweite Argument gilt ebenso

|f1 (x0)| |f2 (x) f2 (x0)| |f1 (x0)| 𝜀 2(|f1(x0)| + 1) < 𝜀 2.

Gemeinsam erhalten wir |f1(x)f2(x) f1(x0)f2(x0)| < 𝜀 wie gewünscht. Die Aussage über af1 für a folgt mit Obigem und der Tatsache, dass die konstante Funktion x a stetig ist. Insbesondere ist C(D) auch nicht leer, da die konstante Nullfunktion in C(D) liegt, und somit ist C(D) ein Unterraum von (D).   

Wir präsentieren eine direkte Anwendung dieser Proposition.

Korollar 3.51.

Polynome sind stetig, das heisst, [x] C().

Beweis.

Wie wir in Beispiel 3.47 gesehen haben, ist die Funktion p(x) = x stetig und konstante Funktionen sind stetig. Vollständige Induktion und Proposition 3.50 zeigen, dass jedes Polynom k=0nakxk [x] stetig ist.   

Eine weitere Art und Weise, wie man zeigen kann, dass eine Funktion stetig ist, ist, dass man sie als Verknüpfung von stetigen Funktionen darstellt.

Proposition 3.52 (Stetigkeit unter Verknüpfung).

Seien D1 ,D2 zwei Teilmengen und sei x0 D1. Angenommen f : D1 D2 ist eine bei x0 stetige Funktion und g : D2 ist eine bei f(x0) stetige Funktion. Dann ist g f : D1 bei x0 stetig. Insbesondere ist die Verknüpfung von stetigen Funktionen wieder stetig.

Es folgt damit, dass zum Beispiel die Abbildung x D |f(x)| für eine beliebige stetige Funktion f : D stetig ist (nach Beispiel 3.47).

🪆Dies ist ein Matrjoschka-Beweis; verwenden Sie Definition 3.45 für f und g in der richtigen Reihenfolge.

Beweis.

Sei 𝜀 > 0. Dann existiert wegen der Stetigkeit von g bei f(x0 ) ein η > 0, so dass für alle y D2

|y f(x0)| < η|g(y) g(f(x0))| < 𝜀.

Da η > 0 ist und f bei x0 stetig ist, gibt es aber auch ein δ > 0, so dass für alle x D1

|x x0| < δ|f(x) f(x0)| < η.

Zusammen ergibt sich unter Verwendung von y = f(x) f(D1) D2, dass für alle x D1

|x x0| < δ|f(x) f(x0)| < η|g(f(x)) g(f(x0))| < 𝜀.

gilt. Dies beweist auch die letzte Aussage, da x0 ein beliebiger Punkt in D1 war.   

Wichtige Übung 3.53 (Stetigkeit von Quotienten).

Zeigen Sie, dass die Funktion x × 1 x × stetig ist. Schliessen Sie, dass Funktionen der Art x D f(x) g(x) stetig sind, wenn D eine Teilmenge und f : D , g : D × stetige Funktionen sind. (Beachte, dass g auf D keine Nullstelle haben darf.)

Hinweis.

Der zweite Teil folgt aus dem ersten und den Propositionen 3.50 und 3.52. Für den ersten Teil versuchen sie zuerst |1 x 1 x0| umzuformen und abzuschätzen bevor Sie versuchen, das geeignete δ > 0 zu finden. Durch die geeignete Wahl von δ kann man auch verhindern, dass x zu nahe an die 0 gerät, was für die Abschätzung von Nachteil wäre.

Eine andere Art und Weise, wie man stetige Funktionen konstruieren kann, ist durch „Zusammenkleben“, wie wir in folgender Übung diskutieren wollen.

Wichtige Übung 3.54 (Stetige Funktionen durch Fallunterscheidung).

Seien zwei Intervalle durch I1 = [a,b],I2 = [b,c] gegeben mit a < b < c und seien f1 : I1 und f2 : I2 stetige Funktionen. Zeigen Sie, dass die Funktion

f : [a,c] ,x { f1(x)falls x [a,b) f2(x)falls x [b,c]

genau dann stetig ist, wenn f1(b) = f2(b) gilt.

Übung 3.55 (Dirichlet-Funktion).

Zeigen Sie, dass die charakteristische Funktion

𝟙 [0,1] : [0,1] {0,1},x { 1falls x 0 falls  x

an keinem Punkt in [0,1] stetig ist.

Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch folgende Charakterisierung von Stetigkeit, auf die wir später wieder zu sprechen kommen werden und die beispielsweise eine grundlegende Definition der Topologie-Vorlesung im vierten Semester des Mathematikstudums darstellt.

Übung 3.56 (Stetigkeit über offene Mengen).

Sei I ein offenes Intervall und f : I eine Funktion. Zeigen Sie, dass f genau dann stetig ist, wenn für jede offene Menge U auch f1 (U) offen ist.

Ist eine Funktion f stetig, so ist das Verhalten von f in kleinen Umgebungen eines Punktes oft vorhersehbar.

Übung 3.57 (Lokale Eigenschaften von stetigen Funktionen).

Sei D eine Teilmenge und f : D eine Funktion. Zeigen Sie die folgenden Aussagen.

a)
(Lokal beschränkt) Wenn f bei x0 D stetig ist, dann gibt es eine δ-Umgebung U von x0 und ein M > 0, so dass |f(x)| M für alle x D U.
b)
(Lokal das gleiche Vorzeichen) Wenn f bei x0 D stetig ist und f(x0)0 ist, dann gibt es eine 𝜀-Umgebung U von x0 , so dass f(x)f(x0) > 0 für alle x D U (das heisst, f(x) und f(x0 ) haben dasselbe Vorzeichen).

3.5.1 Komplex-wertige Funktionen

Für eine Menge D können wir in Analogie zum reellen Vektorraum (D) auch den komplexen Vektorraum

(D) = {ff : D }

der -wertigen Funktionen oder komplex-wertigen Funktionen Funktionen auf D definieren. Weiter sagen wir, dass eine Funktion f : D beschränkt ist, falls die reellwertige Funktion x D|f(x)| beschränkt ist. Ein Punkt x D ist eine Nullstelle einer Funktion f : D , falls f(x) = 0 gilt.

Dieser Abschnitt lässt sich ohne grosse Änderung auf -wertige Funktionen auf einer Teilmenge D übertragen. Wir empfehlen Ihnen diesen Abschnitt nochmals zu lesen, aber diesmal komplex-wertige Funktionen auf Teilmengen D zu erlauben, wobei 𝜀 > 0 und δ > 0 weiterhin reelle Zahlen darstellen. Wir werden später nochmals in grösserer Allgemeinheit auf den Begriff der Stetigkeit zu sprechen kommen. Wir bemerken noch, dass die Monotonieeigenschaften in Abschnitt 3.4.2 hingegen kein Analogon für komplex-wertige Funktionen besitzen (da auf keine natürliche Ordnung gegeben ist).

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Analysis I (Kap. 1-9) Copyright © by Manfred Einsiedler. All Rights Reserved.

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