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6.3 Die Exponentialfunktion

Wir werden jetzt Grenzwerte von Folgen und insbesondere Satz 6.5 anwenden, um die Exponentialfunktion zu definieren und einige ihrer Eigenschaften zu beweisen† An dieser Stelle wollen wir bemerken, dass die hier verwendete mathematische Exposition nicht unbedingt die effizienteste ist. In der Tat könnte man die Exponentialfunktion etwas formaler direkt mit Potenzreihen einführen – siehe Abschnitt 7.5.. Die Exponentialfunktion exp : >0 ist definiert durch

exp (x) = lim n (1 + x n )n > 0 (6.3)

für alle x . Des Weiteren ist die Eulersche Zahl definiert als

e = exp (1) = lim n (1 + 1 n )n [2,3].

Wir wollen zeigen, dass (6.3) Sinn ergibt (also der Grenzwert tatsächlich existiert) und dass dadurch die Abbildung exp : >0 definiert wird. Dies führt uns dann auch zum natürlichen Logarithmus und zu allgemeinen Potenzfunktionen.

Proposition 6.29 (Reelle Exponentialfunktion).

Für alle x existiert der Grenzwert in (6.3) und dies definiert die streng monotone, bijektive, stetige Abbildung exp : >0, die die Additionsformel

exp (x + y) = exp (x)exp (y) (6.4)

für alle x, y erfüllt.

Der Beweis der Proposition erfolgt in den Unterabschnitten 6.3.26.3.7.

6.3.1 Eine Interpretation

Die Definition (6.3) hat für x (0,1) folgende ökonomische Interpretation. Angenommen x steht für den jährlichen Zinssatz in der Bank 1. Bank 2 verrechnet die Zinsen halbjährlich und gibt x 2 Zinsen in einem halben Jahr, …, die Bank n verrechnet die Zinsen n-mal im Jahr und gibt in einem n-tel Jahr genau x n Zinsen. Bei welcher Bank sollte man sein Geld deponieren? Auf Grund des Zinseszinses sollte man wahrscheinlich Kunde der Bank mit dem grössten n werden. Also drängt sich die Vermutung auf, dass an = (1 + x n)n eine monoton wachsende Folge ist. Aber kann man seinen jährlichen Gewinn grenzenlos steigern, in dem man immer weiter sucht und bei einer Bank mit noch grösserem n um ein Konto anfragt? Dies klingt vielleicht ein bisschen zu optimistisch. Es drängt sich also die Vermutung auf, dass (an)n eine beschränkte monoton wachsende Folge ist.

6.3.2 Konvergenz der Folge

Sei x fest gewählt. Falls x 0 ist, dann ist

x (n + 1)(n + x) x + n (n + 1)(n + x) 1

und damit

an,x = x (n + 1)(n + x) 1

für alle n . Ansonsten ist x < 0 und es gelten obige Ungleichungen zumindest für alle n mit n > x. Für diese n können wir die Bernoulli-Ungleichung in Lemma 3.5 verwenden und erhalten

(1 + x n+1 )n+1 (1 + x n )n = (1 + x n ) (1 + x n+1 1 + x n ) n+1 = n + x n ( (n + 1 + x)n (n + 1)(n + x) )n+1 = n + x n ( n2 + nx + n (n + 1)(n + x) )n+1 = n + x n ((n + 1)(n + x) x (n + 1)(n + x) )n+1 = n + x n (1 x (n + 1)(n + x) )n+1 = n + x n (1 + an,x)n+1 n + x n (1 + (n + 1)an,x) = n + x n (1 x n + x ) = 1.

Für x 0 beweist dies die Monotonie der Folge (1 + x n )n. Für x < 0 beweist dies die „schlussendliche“ Monotonie. Genauer formuliert existiert ein Nx so dass für alle n Nx sowohl 1 + x n > 0 also auch (1 + x n+1 )n+1 (1 + x n )n gilt. Da monoton wachsende, beschränkte Folgen konvergieren (Satz 6.5) und da die ersten paar Glieder der Folge nicht über Konvergenz entscheiden (Lemma 5.25) reicht es für die Konvergenz somit, Beschränktheit zu zeigen.

Für x 0 gilt (1 + x n ) n 1. Daher gilt

lim n (1 + x n )n = sup { (1 + x n ) nn N x} (0,1],

wobei Nx wie oben gewählt wurde.

Für x 0 verwenden wir

(1 + x n )n (1 x n )n = (1 x2 n2 ) n 1,

woraus für alle n Nx die Abschätzung

(1 + x n )n (1 x n )n = a n

folgt. Da aber die Folge an auf Grund von obigem und Proposition 5.30(iii) konvergent und damit beschränkt ist, folgt nun die Beschränktheit der Folge ( (1 + x n ) n) n.

Wir wollen ein zweites Argument für die Beschränktheit der Folge für ein x 0 skizzieren. Hierfür betrachten wir für ein n die Umformung

(1 + x n )n = k=0nn k (x n )k = k=0n 1 k! ( j=nk+1nj ) 1 nkxk = k=0n 1 k!xk 1 nk =0k1(n ) = k=0n 1 k!xk =0k1n n = k=0n 1 k!xk =0k1 (1 n ).

unter Verwendung des Binomialsatz (Satz 3.28). Damit erhalten wir für x (0, 1], dass

(1 + x n )n = k=0n 1 k! ( =0k1 (1 n ) )xk k=0nxk k! 1 + k=1n 1 2k1 = 1 + 1 1 2n 1 1 2 3,

wobei wir k! 2k1 für k und die geometrische Summenformel (Proposition 3.8) verwendet haben.

Übung 6.30 (Alternative obere Schranke).

Verallgemeinern Sie obige Abschätzung für beliebige x 0.

Hinweis: Für x [0,1] und , n können Sie die Abschätzung

(1 + x n )n (1 + x n )n 3

beweisen und verwenden.

Auf Grund von Satz 6.5 ergibt sich daher, dass

exp (x) = lim n (1 + x n )n >0

für alle x existiert. Insbesondere für x = 1 erhalten wir  e = exp (1) [2,3] auf Grund obiger Abschätzungen.

Für ein beliebiges x ist x n 1 für alle hinreichend grossen n und damit 1 + x = 1 + nx n (1 + x n)n nach der Bernoulli-Ungleichung (Lemma 3.5). Daraus folgt

1 + x exp (x) (6.5)

für alle x .

Übung 6.31 (Rosinen im Brot).

Angenommen wir schneiden ein Brot, das n = 10 Rosinen enthält, in n Stücke. Wir nehmen nun ein Stück. Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses keine Rosine enthält? Wie verhält sich diese Wahrscheinlichkeit für n .

Übung 6.32 (Quadratisches Wachstum).

Zeigen Sie, dass für x 0 gilt 1 + x + x2 2 exp (x).

Hinweis.

Sei für n die Zahl an der Koeffizient von x2 im Polynom (1 + x n)n. Berechnen Sie an und zeigen Sie, dass lim nan = 1 2.

6.3.3 Inversionsformel

Wir behaupten nun, dass

exp (x) = exp (x)1 (6.6)

für alle x . Es gilt

exp (x)exp (x) = lim n (1 + x n )n lim n (1 x n )n = lim n (1 x2 n2 )n

Wir betrachten also die Folge (bn)n definiert durch bn = (1 x2 n2 )n. Nach der Bernoulli-Ungleichung gilt für n mit n |x| (und damit  x2 n2 1)

1 x2 n = 1 + n (x2 n2 ) (1 x2 n2 ) n = b n 1,

was gemeinsam mit dem Sandwich-Lemma (Lemma 6.2) lim n (1 x2 n2 )n = 1 zur Folge hat und Gleichung (6.6) zeigt.

6.3.4 Additionsformel

Seien x, y . Für x = 0 oder y = 0 ist die Additionsformel (6.4) gültig (wieso?). Wir wollen den verbleibenden Fall (x 0 und y 0) durch ein ähnliches Argument wie oben beweisen. Deswegen berechnen wir zuerst für n das Produkt

(1 x n ) (1 y n ) (1 + x + y n ) = (1 x + y n + xy n2 ) (1 + x + y n ) = 1 (x + y)2 n2 + xy n2 (1 + x + y n ) = 1 + cn n2,

wobei die konvergente reelle Folge (cn)n durch

cn = (x + y)2 + xy (1 + x + y n ) = (x2 + y2) 2xy + xy + xyx + y n = (x2 + y2) xy + xyx + y n

gegeben ist. Damit erhalten wir

exp (x + y) = lim n (1 + x + y n )n = lim n (1 + cn n2 ) n (1 x n ) n (1 y n ) n = exp (x)exp (y)lim n (1 + cn n2 ) n

wegen (6.6) . Wir zeigen nun, dass lim n (1 + cn n2 ) n gleich 1 ist. Da xy x+y n 0 für n , erhalten wir cn (x2 + y2) xy für n . Weiters ist (x2 + y2) xy < 0 (unter Verwendung von max {|x|,|y|} < x2 + y2 wegen x 0 und y 0), womit wir cn < 0 und cn n2 1 für hinreichend grosse n erhalten. Aus der Bernoulli-Ungleichung folgt nun

1 + cn n = 1 + ncn n2 (1 + cn n2 ) n 1

und daher gilt lim n (1 + cn n2 ) n = 1. Dies beweist die Additionsformel (6.4).

6.3.5 Stetigkeit

Wir zeigen zuerst die Stetigkeit von exp : >0 bei 0 . Sei also 𝜀 > 0 und wähle δ = min {𝜀,1 1 1+𝜀 } (womit δ < 1 und auch 1 1δ 1 + 𝜀 nach einer kurzen Rechnung). Für x (δ,0] wenden wir (6.5) an und erhalten

1 𝜀 1 δ < 1 + x exp (x) 1

(also insbesondere |exp (x) exp (0)| < 𝜀). Für x [0,δ) wenden wir obiges Argument für x an und erhalten 1 δ exp (x) 1 oder äquivalenterweise 1 exp (x) 1 1δ < 1 + 𝜀 nach Wahl von δ (und dadurch wiederum |exp (x) exp (0)| < 𝜀).

Um Stetigkeit bei jedem x0 zu zeigen, verwenden wir die Additionseigenschaft. Denn es gilt für alle x

exp (x) = exp (x x0 + x0) = exp (x x0)exp (x0),

wodurch wir exp (x) als Verknüpfung der Abbildungen

h : x x x0 g : y exp (y) f : a aexp (x0)

schreiben können, wobei h bei x0 , g bei 0 = h(x0 ), beziehungsweise f bei 1 = g(0) stetig sind. Es folgt die Stetigkeit von exp bei x0 aus Proposition 3.52.

6.3.6 Strenge Monotonie

Für x > 0 gilt exp (0) = 1 < 1 + x exp (x) wegen (6.5). Falls x < y, dann folgt aus exp (x) > 0 und exp (y x) > 1 mit der Additionsformel (6.4), dass

exp (y) = exp (x)exp (y x) > exp (x).

Daher ist exp : >0 streng monoton wachsend und insbesondere injektiv.

6.3.7 Surjektivität

Wir verwenden (6.5) und den Zwischenwertsatz (Satz 3.58) um exp () = >0 zu zeigen. Sei also y > 0. Dann gilt y < exp (y) nach (6.5). Weiters ist 1 y < exp (1 y ) auf Grund desselben Arguments und damit exp (1 y ) < y < exp (y). Da exp auf ganz stetig ist, ergibt sich aus dem Zwischenwertsatz (Satz 3.58), dass es ein x (zwischen den Punkten 1 y und y) mit exp (x) = y gibt. Dies beendet den Beweis von Proposition 6.29.

6.3.8 Der Logarithmus und Potenzen

Zusammenfassend haben wir also gezeigt, dass exp : >0 eine bijektive, streng monoton wachsende stetige Funktion darstellt, so dass die Additionsformel exp (x + y) = exp (x)exp (y) für alle x, y gilt.

Die Umkehrfunktion der bijektiven Abbildung exp : >0 nennen wir den (natürlichen) Logarithmus log : >0 . Aus dem Umkehrsatz (Satz 3.64) folgt nun folgendes Korollar.

Korollar 6.33 (Natürlicher Logarithmus).

Der natürliche Logarithmus log : >0 ist eine streng monoton wachsende, stetige und bijektive Funktion. Des Weiteren gilt

log (ab) = log a + log b

für alle a, b >0.

Wir bemerken, dass die letzte Aussage in obigem Korollar aus der Additionsformel der Exponentialabbildung folgt wenn wir x = log a und y = log b setzen.

PIC

     Figur 6.3: Die Graphen der Exponentialfunktion und des Logarithmus log .     

Der Logarithmus und die Exponentialabbildung können wir verwenden, um allgemeinere Potenzen zu definieren. Für eine positive Basis x > 0 und beliebige Exponenten a setzen wir

xa := exp (alog (x)).

Insbesondere gilt e x = exp (xlog (e )) = exp (x) für alle x .

Übung 6.34 (Rechenregel für Potenzen).

Zeigen Sie, dass für a diese Definition mit der Definition von rationalen Potenzen aus Beispiel 3.65 übereinstimmt. Verifizieren Sie des Weiteren die Rechenregeln

log (xa) = alog (x),xaxb = xa+b,(xa)b = xab

für x, y > 0 und a, b .

Übung 6.35 (Obere Schranke für den Logarithmus).

Sei α > 0 eine positive Zahl. Zeigen Sie, dass eine Konstante Cα > 0 existiert mit log (x) Cαxα für alle x > 0.

Hinweis.

Schreiben Sie x = exp (t) für t und unterscheiden Sie die Fälle t < 0 und t 0. Verwenden Sie des Weiteren die Ungleichung 6.5.

Übung 6.36 (Eine kontinuierliche Bernoulli-Ungleichung).

Zeigen Sie, dass für alle x 1 und p 1 gilt

(1 + x)p 1 + px.

Hinweis: Analysieren Sie das Argument für die Monotonie aus Abschnitt 6.3.2 genauer, um zu zeigen, dass für alle m n und t > m

(1 + t n )n (1 + t m )m

gilt. Betrachten Sie nun x = t n, um die gewünschte Ungleichung für rationale p zu zeigen. Verwenden Sie dann Stetigkeit und Dichtheit von in .

PIC

     Figur 6.4: Die Graphen von x >0xa >0 für verschiedene (hier irrationale) a .     

Bemerkung.

Sie dürfen nun auch den Logarithmus log a : >0 zu einer Basis a > 1 definieren. In der Tat können Sie log a (x) = log x log a für alle x >0 setzen und nun überprüfen, dass alog ax = x für alle x >0 gilt. Wir werden diese Definition aber nicht benötigen, auch nicht für a = 10, und log (x) = ln (x) wird immer den natürlichen Logarithmus von x >0 zur Basis a = e bezeichnen.

Applet 6.37 (Rechenschieber).

Falls Sie dies noch nicht gesehen haben, empfehlen wir Ihnen mit dem Rechenschieber einige Produkte und Quotienten zu berechnen. Erinnern Sie sich an die Eigenschaften des Logarithmus um zu erkennen, wie man diese Berechnungen durchführt. Vor der Einführung von elektronischen Taschenrechnern waren diese mechanischen Hilfsmittel sehr verbreitet.

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