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9.2 Integrationsmethoden

Wir erinnern daran, dass das unbestimmte Integral einer Funktion f in der Variablen x der Ausdruck

f(x)d x = F(x) + C

ist, wobei F eine Stammfunktion von f ist. In den Abschnitten 8.5.2 und 8.4 haben wir bereits einige Regeln zur Berechnung konkreter unbestimmter Integrale kennengelernt: Für s (oder sogar s ) ist

xs d x = { 1 s+1xs+1 + Cfalls s1 log |x| + C falls s = 1

und

exp (x)d x = exp (x) + C cos (x)d x = sin (x) + C sin (x)d x = cos (x) + C sinh (x)d x = cosh (x) + C cosh (x)d x = sinh (x) + C 1 1 x2 d x = arcsin (x) + C 1 1 + x2 d x = arctan (x) + C 1 1 + x2 d x = arsinh (x) + C 1 x2 1d x = arcosh (x) + C.

Des Weiteren gilt für Funktionen f1,f2 in der Variable x und Zahlen α1,α2

α1f1(x) + α2f2(x)d x = α1f1(x)d x + α2f2(x)d x.

Denn falls F1 eine Stammfunktion von f1 ist und F2 eine Stammfunktion von f2 ist, so muss die Funktion α1F1 + α2F2 auf Grund der Linearität der Ableitung (Proposition 8.5) eine Stammfunktion von α1 f1 + α2 f2 sein.

Auf ähnliche Weise lassen sich die anderen Regeln der Differentiation als Identitäten für unbestimmte Integrale auffassen, wie wir nun ausführen wollen.

9.2.1 Partielle Integration

Die Produktregel in Proposition 8.5

(uv) = uv + uv

für zwei differenzierbare Funktionen u,v führt ebenso zu einer Integrationsregel, nämlich der partiellen Integration

uv + C =(uv + uv)d x uvd x = uv uvd x + C. (9.3)

In der Leibniz-Notation ist v = d v d x und u = d u d x. Deswegen schreibt man die partielle Integration oft auch als

ud v = uv vd u + C,

was formal bloss als Kurzform der Formel in (9.3) verstanden werden sollte. Die Regel der partiellen Integration ist bereits ein Beispiel, wo eine einfache Regel des Differenzierens eine komplexere Regel des Integrierens als Entsprechung hat. Die Produktregel erlaubt uns, die Ableitung jedes Produkts mittels der Ableitung dessen Faktoren auszudrücken. Die partielle Integration hingegen erlaubt uns, das unbestimmte Integral eines Produkts mittels dem Integral eines Faktors und eines weiteren Integrals auszudrücken. Mit etwas Glück (und Geschick) ist das zweite Integral einfacher und kann anschliessend berechnet werden. Wir demonstrieren dies anhand zweier Beispiele.

Beispiel 9.15 (Beispiele partieller Integration).

(i)
Wir berechnen das unbestimmte Integral xexp (x)d x. Dafür setzen wir u(x) = x und v (x) = exp (x). Eine Stammfunktion von v ist v(x) = exp (x). Damit erhalten wir xexp (x)d x = xexp (x) 1 exp (x)d x + C = xexp (x) exp (x) + C.

Wir bemerken, dass es genügt, in solchen Berechnungen immer bloss eine unbekannte Integrationskonstante C zu verwenden, da mehrere solche einfach zusammengefasst werden können. (Kontrollieren Sie diese Rechnung durch Ableiten.) Dieselbe Berechnungsmethode führt auch für unbestimmte Integrale der Form xn exp (x)d x, xn sin (x)d x und xn cos (x)d x für n zum Erfolg.

(ii)
Wir wollen das unbestimmte Integral log (x)d x berechnen. Es mag zuerst etwas überraschend sein, dass wir dazu partielle Integration verwenden wollen. Sei u(x) = log (x) und v = 1. Dann ist v(x) = x eine Stammfunktion von v, womit log (x)d x =log (x) 1d x = log (x) x 1 xxd x + C = xlog (x) 1d x + C = xlog (x) x + C.

Dies kann man wiederum durch Ableiten verifizieren (was nicht notwendig ist, aber einen sehr einfachen Test darstellt).

Übung 9.16.

(i)
Berechnen Sie x2 sin (x)d x.
(ii)
Geben Sie eine rekursive Formel zur Berechnung von xn exp (x)d x, xn sin (x)d x und xn cos (x)d x für n an.
(iii)
Berechnen Sie  xs log (x)d x für jedes s . Beachten Sie hierbei, dass der Fall s = 1 getrennt zu behandeln ist.
(iv)
Berechnen Sie das unbestimmte Integral eax sin (bx)d x für a, b {0}.
Hinweis.

Bei (iv) ergibt sich nach zweifacher partieller Integration ein Gleichungssystem.

9.2.2 Substitution

Falls eine Funktion g auf einem Intervall Iu das unbestimmte Integral g(u)d u = G(u) + C besitzt und f : Ix Iu eine stetig differenzierbare Abbildung auf dem Intervall Ix ist, dann gilt

(g f)(x)f(x)d x = (G f)(x) + C

auf Ix . Dies folgt unmittelbar aus der Kettenregel in Satz 8.8 und wird oft auch geschrieben als

(g f)(x)f(x)d x =g(u)d u (9.4)

für die „ neue Variable“ u = f(x). Alternativ werden wir die obige Substitutionsregel gemeinsam mit der Leibniz-Notation auch in folgender informellen Schreibweise

(g f ) (x)f (x)d x = (g f ) (x) d u d xd x =g (u)d u = G (u) + C = G (f (x)) + C,

verwenden, wobei u = f(x) und d u = f(x)d x.

Beispiel 9.17.

(i)
Es gilt x 1 + x2 d x = 1 1 + x2 = 1 u xd x=1 2 d u = 1 21 ud u = 1 2log |u| = 1 2log (1 + x2) + C,

wobei u = 1 + x2 gesetzt wurde, womit d u = 2xd x.

(ii)
Es gilt 1 sin (x)d x = 1 2sin (x 2 ) cos (x 2 ) d x = 1 tan (u)cos 2(u)d u =1 vd v = log |v| + C = log |tan (x 2 )| + C,

wobei u = x 2 , d u = 1 2 d x, und v = tan (u), d v = 1 cos 2(u) d u.

Wie bereits erwähnt, benötigt die Integration mehr Übung und Vorraussicht als die Differentiation. Obige Substitutionen benötigen zum Beispiel den Blick ob gewisse Faktoren vielleicht die gewünschte Ableitung f einer inneren Funktionen f darstellen könnte. Manchmal ist dies naheliegend wie in Beispiel 9.17(i), doch manchmal erfordert dies Erfahrung und eine längere Suche wie in Beispiel 9.17(ii).

9.2.3 Integration rationaler Funktionen

Wir erinnern daran, dass eine rationale Funktion eine Funktion der Form x p(x) q(x) für Polynome p(t), q(t) [t] und q(t) 0 ist, wobei der Definitionsbereich ohne die Nullstellen von q(t) ist. Wir wollen hier ein Verfahren zur Berechnung des unbestimmten Integrals einer rationalen Funktion besprechen. Nach Division mit Rest für Polynome (siehe Übung 3.17) können wir als erstes ein Polynom abspalten, so dass die verbleibende rationale Funktion von der Form p1 (x) q(x) für deg (p1 ) < deg (q) ist.

Da Polynome mittels der Formel xn d x = 1 n+1xn+1 + C integriert werden können, nehmen wir nun an, dass der Grad von p kleiner als der Grad von q ist. Wir betrachten zuerst einige Spezialfälle.

Beispiel 9.18 (Integration von elementaren rationalen Funktionen).

Sei a beliebig und n 2 eine natürliche Zahl.

(i)
Es gilt 1 x ad x =1 ud u = log |u| + C = log |x a| + C,

wobei u = x a gesetzt wurde und d u = d x ist.

(ii)
Für n 2 gilt 1 (x a)n d x =un d u = 1 n + 1un+1 + C = 1 n + 1(x a)n+1 + C,

wobei wieder u = x a gesetzt wurde und d u = d x ist.

(iii)
Falls a 0 ist, so gilt 1 a2 + x2 d x = 1 a2 1 1 + (x a ) 2 d x = 1 a 1 1 + u2 d u = 1 aarctan (u) + C = 1 aarctan (x a ) + C,

wobei u = x a gesetzt wurde und d u = 1 a d x ist.

(iv)
Es gilt x a2 + x2 d x = 1 21 ud u = 1 2log |u| + C = 1 2log (a2 + x2) + C,

wobei u = a2 + x2 und d u = 2xd x.

(v)
Für n 2 gilt x (a2 + x2)n d x = 1 2 1 un d u = 1 2(1 n)u1n + C = 1 2(1 n)(a2 + x2)1n + C,

wobei u = a2 + x2 und d u = 2xd x.

Im Allgemeinen verwenden wir die sogenannte Partialbruchzerlegung für die rationale Funktion p(x) q(x) (nach Division mit Rest so dass deg (p) < deg (q)), um die Integration auf obige Beispiele zurückzuführen. In der Tat lässt sich p(x) q(x) als Linearkombination von einfacheren rationalen Funktionen darstellen. Diese sind von der Form

1 (x a), 1 (x a)2, , 1 (x a)k,

oder von der Form

A1x + B1 (x λ)(x λ¯), , Ax + B ((x λ)(x λ¯) ),

wobei a eine Nullstelle von q mit Vielfachheit k und λ eine Nullstelle von q mit Vielfachheit ist und A1 , B1, ,A,B .

Beispiel 9.19 (Integration rationaler Funktionen und die Partialbruchzerlegung).

(i)
Wir wollen das unbestimmte Integral x4+1 x2(x+1) d x bestimmen. Als erstes führen wir Division mit Rest ( x4 + 1) : (x3 + x2) = x 1 x4 x3̲ x3 + 1 x3 + x2̲ x2 + 1Rest

durch, womit

x4 + 1 x2(x + 1)d x = (x 1 + x2 + 1 x2(x + 1) )d x = x2 2 x + x2 + 1 x2(x + 1)d x.

Um die Partialbruchzerlegung von x2+1 x2(x+1) zu erhalten, setzen wir

x2 + 1 x2(x + 1) = A x2 + B x + C x + 1

für noch unbekannte Zahlen A,B,C , multiplizieren mit x2(x + 1) und erhalten

x2 + 1 = A(x + 1) + Bx(x + 1) + Cx2.

Nun setzen wir in diesem x = 0 um A = 1 zu erhalten und x = 1, um C = 2 zu erhalten. Für x = 1 ergibt sich nun 2 = 1 2 + B 2 + 2 1 und somit B = 1. (Alternativ kann man auch beide Seiten ausmultiplizieren, die Koeffizienten links und rechts vergleichen, und auf diese Weise drei Gleichungen in den unbekannten Variablen A,B,C erhalten.) Daher ist

x2 + 1 x2(x + 1)d x = 1 x2 d x 1 xd x + 2 1 x + 1d x = 1 x log |x| + 2log |x + 1| + D
(ii)
Wir berechnen das unbestimmte Integral 1 x(x2+2x+2) d x. Man beachte dabei, dass das Polynom x2 + 2x + 2 keine reellen Nullstellen hat. Für die Partialbruchzerlegung machen wir den Ansatz 1 x(x2 + 2x + 2) = A x + Bx + C x2 + 2x + 2.

Nun multiplizieren wir mit x(x2 + 2x + 2) und erhalten

1 = A(x2 + 2x + 2) + (Bx + C)x.

Für x = 0 ergibt sich A = 1 2. Daher ist

1 = (1 2 + B)x2 + (1 + C)x + 1

und B = 1 2 und C = 1. Es folgt

1 x(x2 + 2x + 2)d x = 1 21 xd x 1 2 x + 2 x2 + 2x + 2d x = 1 2 log |x| 1 2 x + 2 (x + 1)2 + 1d x = 1 2 log |x| 1 2 u + 1 u2 + 1d x = 1 2 log |x| 1 4 log |u2 + 1| 1 2 arctan (u) + D = 1 2 log |x| 1 4 log ( (x + 1)2 + 1) 1 2 arctan (x + 1) + D,

wobei wir u = x + 1 gesetzt haben und Beispiele 9.18 (c) und (d) verwendet haben.

In manchen Fällen kann obiges Verfahren auch auf das Integral 1 (a2+x2)n d x für ein a und n 2 führen, was wir mit der trigonometrischen Substitution tan (u) = x a (siehe unten) behandeln können. Eine andere, allgemeinere Herangehensweise möchten wir in folgender Bemerkung für Interessierte behandeln.

Bemerkung (Integration rationaler Funktionen mit mehrfachen komplexen Nullstellen).

Wie oben schon bemerkt, kann man nach der Partialbruchzerlegung ein Integral einer rationalen Funktion auf die Integration von Ausdrücken der Form 1 (xa)k oder von Ax+B (x2+bx+c)k für k und für Konstanten a,A,B,b,c zurückführen, wobei die Polynome der Form x2 + bx + c keine rellen Nullstellen haben. Für die Berechnung eines Integrals des zweiten Typs mit k > 1 möchten wir hier einen Algorithmus erläutern, wobei wir uns auf den Fall x2 + bx + c = x2 + 1 beschränken (auf welchen man den allgemeinen Fall mit quadratischem Ergänzen zurückführen kann).

Seien also k > 1 und ein Polynom q von Grad kleiner als 2k gegeben. Dann ist das unbestimmte Integral q(x) (x2+1)k d x immer von der Form

p(x) (x2 + 1)k1 + αarctan (x) + βlog (x2 + 1) + C. (9.5)

für ein Polynom p von Grad kleiner 2k 2 und Konstanten α,β. Durch Ableiten, auf den gemeinsamen Nenner bringen und Vergleich der Koeffizienten lässt sich somit die Stammfunktion ermitteln.

Übung 9.20.

Wir möchten in dieser Übung den oben erklärten Algorithmus genauer erklären und beginnen mit einem konkreten Beispiel.

(i)
Berechnen Sie das Integral 1 (x2+1)2 d x.

Sei nun k > 1 und q ein Polynom von Grad kleiner als 2k.

(ii)
Zeigen Sie, dass die Ableitung von p(x) (x2+1)k1 für ein beliebiges Polynom p von Grad kleiner als 2k 2 durch (x2 + 1)p(x) 2(k 1)xp(x) (x2 + 1)k

gegeben ist.

(iii)
Berechnen Sie die Matrixdarstellung M der Abbildung ϕ : p(x)(x2 + 1)p(x) 2(k 1)xp(x)

bezüglich der Basis der Monome.

(iv)
Schliessen Sie auf die Darstellung in (9.5), indem Sie zeigen, dass das Bild von ϕ zusammen mit (x2 + 1)k1 und 2x(x2 + 1)k1 den Vektorraum der Polynome von Grad kleiner gleich 2k 1 aufspannt.

9.2.4 Trigonometrische Substitution

In allen bisherigen Beispielen der Substitutionsregel in Abschnitt 9.2.2 hatten wir das Glück, dass das vorhandene Integral (vielleicht nach etwas Arbeit) bereits die richtige Struktur besass. Man verwendet die Substitutionsregel aber oft auch bevor man weiss welches Integral sich eigentlich nach der Substitution ergibt, wobei es gewisse Funktionentypen gibt bei denen eine gewisse Substitution erfahrungsgemäss erfolgreich sein könnte. Wir wenden uns nun einem konkreten Beispiel dessen zu.

Beispiel 9.21 (Kreisfläche).

Wir möchten für r > 0 das unbestimmte Integral r2 x2 d x berechnen. Auf Grund der trigonometrischen Identitäten r2 r2 sin 2(𝜃) = rcos (𝜃) bietet es sich nun an, die Funktion

f : I𝜃 = (π 2 , π 2 ) Ix = (r,r),𝜃x = rsin (𝜃)

für die Substitution zu verwenden. Denn mit dieser Substitution haben wir die Hoffnung, die Wurzel in einen anderen Ausdruck zu verwandeln.

Allerdings ist dies umgekehrt zu der Substitution in Abschnitt 9.2.2, da wir hier die neue Variable  𝜃 verwenden um die alte Variable x = rsin (𝜃) auszudrücken. (Anstatt wie in Abschnitt 9.2.2 wo wir die neue Variable u = f(x) als Funktion der alten Variable x gesehen haben). Da f bijektiv ist, ist dies kein Problem: denn x = rsin (𝜃) (r,r) ist zu 𝜃 = arcsin (x r) (π 2 , π 2 ) äquivalent. Weiters ist die Ableitung von f = d x d 𝜃 gleich r cos 𝜃 und damit auf ganz (π 2 , π 2 ) ungleich 0. Gemeinsam mit dem Satz über die Ableitung der inversen Funktion (Satz 8.14) erhalten wir daher

r2 x2 d x =rcos (𝜃) (d x d 𝜃 ) (d 𝜃 d x ) d x =r2 cos 2(𝜃)d 𝜃 = r21 + cos (2𝜃) 2 d 𝜃 = r2 2 (𝜃 + 1 2 sin (2𝜃)) + C = r2 2 arcsin (x r ) + 1 2xr2 x2 + C,

wobei wir eben x = rsin (𝜃), r2 x2 = rcos (𝜃), d x = r cos (𝜃)d 𝜃 und die trigonometrischen Identitäten

cos (2𝜃) = cos 2(𝜃) sin 2(𝜃) = 2cos 2(𝜃) 1 cos 2(𝜃) = cos (2𝜃) + 1 2 sin (2𝜃) = 2sin (𝜃)cos (𝜃)

für 𝜃 (π 2 , π 2 ) verwendet haben.

Veranschaulichen Sie sich die Substitution und die wichtigsten der obigen Identitäten in einem rechtwinkeligen Dreieck. Geben Sie weiters eine geometrische Interpretation der beiden Terme des unbestimmten Integrals bei der Berechnung des bestimmten Integrals  0br2 x2 d x für 0 < b r an.

Dies zeigt, dass

G0 : x (r,r)1 2r2 arcsin (x r ) + 1 2xr2 x2

eine Stammfunktion von g0 : x (r,r)r2 x2 ist (was wie immer viel einfacher zu überprüfen ist). Da aber sogar die Funktion g : x [r, r]r2 x2 stetig ist, besitzt g nach Korollar 9.3 auch auf ganz [r,r] eine Stammfunktion G1, welche auf (r,r) mit G0 + C übereinstimmt. Da aber

G : x [r,r]1 2r2 arcsin (x r ) + 1 2xr2 x2

auch eine auf ganz [r,r] stetige Funktion definiert, folgt aus Stetigkeit von G und G1 , dass G1 = G + C und damit ist G auf ganz [r, r] eine Stammfunktion von g. Wir bemerken allerdings, dass arcsin (x r ) keine Ableitung in den Punkten  r und r besitzt. (Wieso ist dies kein Widerspruch zu obiger Diskussion?)

Substitutionen wie obige nennen sich vielfach trigonometrische Substitutionen. Wir werden bei diesen Berechnungen nicht immer so sorgfältig argumentieren und vielmehr der Leibniz Notation vertrauen, doch muss immer Invertierbarkeit der Funktion gegeben sein wenn wir die alte Variable durch die neue Variable ausdrücken. Für die folgende Auflistung der trigonometrischen Substitutionen sei n .

In Ausdrücken der Form (a2 x2)n 2 für a > 0 führt wie bereits im obigen Beispiel oft die Substitution x = asin (𝜃) mit 𝜃 (π 2 , π 2 ) zum Ziel, wobei sich damit d x = acos (𝜃)d 𝜃 und (a2 x2)1 2 = acos (𝜃) ergibt.
In Ausdrücken der Form (a2 + x2)n 2 für a > 0 führt oft die Substitution x = atan (𝜃) mit 𝜃 (π 2 , π 2 ) zum Ziel, wobei sich damit d x = a cos 2(𝜃) d 𝜃 und (a2 + x2)1 2 = a cos (𝜃) ergibt.
Obwohl dies keine trigonometrische Substitution darstellt, bemerken wir noch Folgendes. Falls ein „einzelnes“ x vor dem Ausdruck (a2 x2)n 2 oder dem Ausdruck (a2 + x2)n 2 steht, ist die Substitution u = a2 x2 respektive u = a2 + x2 teilweise viel einfacher.

Als Merkhilfe kann es helfen für die beiden trigonometrischen Substitution ein rechtwinkeliges Dreieck zu skizzieren und abhängig von der Substitution die Seiten mit Hilfe von Pythagoras entsprechend zu beschriften.

Beispiel 9.22 (Trigonometrische Substitution).

(i)
Es gilt für a > 0 1 (a2 + x2)3 2 d x =cos 3(𝜃) a3 a 1 cos 2(𝜃)d 𝜃 = 1 a2cos (𝜃)d𝜃 = 1 a2 sin (𝜃) + C = x a2a2 + x2 + C,

wobei wir x = atan (𝜃), a2 + x2 = a 1 cos (𝜃), d x = a 1 cos 2(𝜃) d 𝜃 verwendet haben. (Veranschaulichen Sie sich die Substitution und obige Identitäten in einem Bild.)

(ii)
Es ist x1 x2 d x = 1 2u1 2 d u = 12 2 3u3 2 + C = 13(1 x2)3 2 + C,

wobei u = 1 x2, d u = 2xd x.

9.2.5 Weitere Integrationsmethoden

Es gibt viele weitere Methoden zur Integration; viele davon beruhen auf spezielle Substitutionen.

Beispielsweise lassen sich gewisse unbestimmte Integrale mit hyperbolischen Substitutionen berechnen. Sei n 1. In Ausdrücken der Form (x2 a2)n 2 für a führt oft die Substitution x = acosh (u) zum Ziel, wobei sich damit d x = asinh (u)d u und (x2 a2)1 2 = asinh (u) ergibt.

Beispiel 9.23.

Wir berechnen

x2 1d x =sinh 2(u)d u = cosh (u)sinh (u) cosh 2(u)d u = cosh (u)sinh (u) sinh 2(u) + 1d u + C = cosh (u)sinh (u) u sinh 2(u)d u + C,

wobei x = cosh (u) und d x = sinh (u)d u. Nach Auflösen ergibt sich somit

x2 1d x =sinh 2 (u)d u = cosh (u)sinh (u) u 2 + C = xx2 1 arcosh (x) 2 + C.

Eine andere Methode, die wir hier kurz erwähnen möchten, ist die sogenannte Halbwinkelmethode (oder auch Weierstrass-Substitution). Diese ist dann nützlich, wenn man das Integral einer rationalen Funktion in cos (x) und sin (x) wie zum Beispiel cos 2(x) sin (x)+2017 in die Integration einer rationalen Funktion in u = tan (x 2 ) umwandeln möchte (siehe auch Beispiel 9.17 (b)).

Übung 9.24 (Halbwinkelmethode).

Wir möchten das unbestimmte Integral cos (x) 2+sin (x) d x mit der Substitution u = tan (x 2 ) berechnen. Zeigen Sie dafür zuerst die Identitäten

sin (x) = 2u 1 + u2,cos (x) = 1 u2 1 + u2.

Zeigen Sie anschliessend, dass das obige Integral nach Substitution zu einem Integral einer rationalen Funktion in u wird und berechnen Sie es.

Manchmal führt man auch die eine oder die andere Substitution durch, weil in der zu integrierenden Funktion eine verschachtelte Funktion vorliegt und man einfach keine andere Methode zur Verfügung hat. Zum Beispiel bei dem Integral  sin (x)d x steht keine der erwähnten Methoden zur Verfügung, doch ist man versucht u = x zu setzen um zu sehen was sich daraus ergibt. Dies führt in der Tat zum Erfolg (wieso?). Ebenso in dem Integral der Form  1 1+exp (x) d x führt der Ansatz u = exp (x) zu einem unbestimmten Integral einer rationalen Funktion (wieso?).

9.2.6 Das bestimmte Integral

Alle obigen Regeln zur Berechnung des unbestimmten Integrals lassen sich nach dem Fundamentalsatz der Integral- und Differentialrechnung eins zu eins auch für das Riemann-Integral, welches im Gegensatz zum unbestimmten Integral auch das bestimmte Integral genannt wird, anwenden. Dabei haben wir zwei Möglichkeiten.

Eine erste Möglichkeit ist mit obigen Methoden zuerst das unbestimmte Integral zu berechnen und dann Korollar 9.4 zur Berechnung des Riemann-Integrals zu verwenden.
Falls wir aber nur an einem einzigen Riemann-Integral interessiert sind, ist es oft einfacher, die Ausdrücke ausserhalb des Integrals so früh wie möglich zu berechnen. Wir erklären dies im Folgenden für die partielle Integration und die Substitution.

Sind u, v zwei stetig differenzierbare Funktionen auf einem kompakten Intervall [a, b] mit Endpunkten a < b. Dann gilt

abuvd x = [uv] ab abuvd x.

Denn falls F eine Stammfunktion von uv und G eine Stammfunktion von uv ist, dann gilt für alle x [a,b]

F(x) + C1 =uvd x = u(x)v(x) uvd x + C 2 = u(x)v(x) G(x) + C3

für gewisse Integrationskonstanten C1,C2,C3. Somit ist nach Korollar 9.4

abuvd x = [F(x)] ab = F(b) F(a) = u(b)v(b) G(b) (u(a)v(a) G(a)) = [u(x)v(x)]ab [G(x)] ab = [u(x)v(x)] ab abuvd x.

Ebenso können wir bei einer Substitution in Abschnitt 9.2.2 die Grenzen für ein Riemann-Integral enstsprechend der Substitution neu berechnen. Sei Ix ein Intervall mit Endpunkten ax < bx, sei Iu ein weiteres Intervall, sei g : Iu stetig und f : Ix Iu stetig differenzierbar. Für ein kompaktes Intervall [a,b] mit Endpunkten a < b in Ix gilt dann

abg f (x)f (x)d x =f(a)f(b)g (u)d u.

In der Tat, wenn G eine Stammfunktion von g auf Iu ist, dann ist nach der Kettenregel G f eine Stammfunktion von x Ixg f(x)f(x). Nach Korollar 9.4 gilt also

abg f (x)f (x)d x = [G f ] ab = G (f (b)) G (f (a)) = [G] f(a)f(b) =f(a)f(b)g (u)d u.

Die Annahme der Stetigkeit an g kann abgeschwächt werden – siehe die entsprechende Übung im Abschnitt 9.8.2.

Wir bemerken an dieser Stelle, dass die in den obigen Abschnitten behandelten Themen oft alles sind, was man für Anwendungen (wie zum Beispiel für die Flächenberechnung unter Graphen) braucht. Nichtsdestotrotz werden wir erst gegen Ende des Kapitels in Abschnitt 9.7 darauf eingehen. Gewisse Anwendungen wurden schon in Abschnitt 4.4 diskutiert.

9.2.7 Leibniz-Notation

Wir werden die Leibniz-Notation in der Berechnung von unbestimmten und bestimmten Integralen wie bereits oben im Folgenden immer wieder verwenden. Diese Notation verpackt in einem natürlichen Formalismus die partielle Integration

ud v = uv vd u + C

und die Substitutionsregeln

g (u (x)) d u d xd x =g(u)d u g(u(x))d x =g (u) d x d u (u)d u,

wobei wir in der zweiten Formulierung der Substitution vorraussetzen, dass u : Ix Iu bijektiv mit nicht verschwindender Ableitung ist und dadurch im linken Integral mit 1 = d x d u d u d x multiplizieren konnten und die erste Formulierung der Substitutionsregel anwenden konnten. Wie wir gesehen haben, sind diese Regeln Umformulierungen der Produktregel für die Ableitung und der Kettenregel für die Ableitung (gemeinsam mit der Ableitungsregel für die inverse Abbildung).

Bei konkreten Integralberechnungen verwenden wir mitunter auch Gleichungen, die d x und d u miteinander verbinden. Zum Beispiel bei der trigonometrischen Substitution x = asin 𝜃 (für x (a,a) und 𝜃 (π 2 , π 2 )) verwenden wir auch die Formel  d x = acos 𝜃d 𝜃, die formal gesehen keine Bedeutung hat (und deswegen auf keinen Fall in dieser Form in Beweisen auftreten sollte), doch eben im Zuge der Substitution in der Formulierung der Leibniz-Notation einen bequemen Zwischenschritt darstellt.

Informell taucht in Anwendungen das Symbol d x auch oft in Diskussionen auf, die zu einem Riemann-Integral führen, wobei d x dann für ein (sehr) kleines Δx stehen sollte. In Anwendungen werden häufig die Begriffe der Riemann-Summe oder der additiven Intervallfunktion vermieden, wobei es genau diese Begriffe sind, die diese Verwendung von d x genau und formal korrekt machen würden (siehe Abschnitte 4.4 und 6.5). Auf jeden Fall hat in diesem Zusammenhang eine Formel der Gestalt  d x = acos 𝜃d 𝜃 auch eine Interpretation: Da Δx die Länge eines kleinen Teilintervalls von (a,a) angibt und Δ𝜃 die Länge des entsprechenden Teilintervalls in (π 2 , π 2 ) so gibt die Ableitung acos 𝜃 (bis auf einen kleinen und wie sich herausstellt vernachlässigbaren Fehler) den Grössenunterschied Δx Δ𝜃 an, der bei Betrachtung von etwaigen Riemann-Summen in der Variable x und der Variable 𝜃 als zusätzlicher Faktor auftreten würde. Wir müssen dies nicht genauer ausführen oder die Substitution auf diese Art und Weise beweisen, da wir ja mittels der Kettenregel und dem Fundamentalsatz der Integral- und Differentialrechnung bereits die Substitutionsregel für Riemann-Integrale bewiesen haben und obiger Formalismus diese nur auf eine andere Art präsentiert. Dieser Beweis über den Fundamentalsatz verwendet allerdings etwas stärkere Annahmen als notwendig (siehe folgende Übung für den direkten Beweis mit schwächeren Annahmen).

Übung 9.25 (Substitution für Riemann-integrierbare Funktionen).

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall in  mit Endpunkten a < b und f : [a, b] [c,d] eine stetig differenzierbare Funktion mit f(t)0 für alle t [a, b]. Dann ist für jede Riemann-integrierbare Funktion g : [c,d] auch t [a, b]g f(t)f(t) Riemann-integrierbar und

abg f (t)f (t)d t =f(a)f(b)g (x)d x.

9.2.8 Neue Funktionen

Manchmal führen obige Methoden zur Bestimmung eines unbestimmten Integrals einer Funktion zu keinem Ergebnis. Dies kann daran liegen, dass die gesuchte Stammfunktion sich nicht mit den bisher bekannten Funktionen ausdrücken lässt.

Beispiel 9.26 (Integralsinus).

Der Integralsinus ist die Stammfunktion Si : der stetigen Funktion

x { sin (x) x falls x0 1 falls  x = 0

mit der Normalisierung Si (0) = 0. Er lässt sich als Potenzreihe schreiben, denn nach Satz 7.85 gilt

Si (x) =0x sin (t) t d t =0x n=0 (1)n (2n + 1)!t2n d t = n=0 (1)n (2n + 1)!(2n + 1)x2n+1

für alle x .

Beispiel 9.27 (Integralkosinus).

Der Integralkosinus Ci : (0,) ist definiert als die Stammfunktion von x (0,) cos (x) x mit der Normalisierung lim xCi (x) = 0.

Dabei möchten wir auf folgende Übung verweisen, die zeigt, dass der Integralkosinus so wohldefiniert ist.

Übung 9.28.

Sei F eine Stammfunktion von x (0,) cos (x) x . Zeigen Sie, dass der Grenzwert lim xF (x) existiert. Drücken Sie Ci als Summe einer Konstanten (der sogenannten Euler-Mascheroni Konstanten), der Logarithmusfunktion und einer Potenzreihe aus.

Unter Verwendung uneigentlicher Integrale werden wir später weitere wichtige Funktionen kennenlernen, die sich nicht in Termen bekannter Funktionen ausdrücken lassen – siehe zum Beispiel 9.34.

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