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8.2 Zentrale Sätze der Differentialrechnung

8.2.1 Der Mittelwertsatz

Wir wenden uns nun allgemeinen Sätzen der Differentialrechnung und deren Konsequenzen zu. Unsere erste Frage wird sein, ob die Ableitung einer differenzierbaren Funktion die Steigung gewisser Sekanten annimmt, wobei folgender Satz unser Ausgangspunkt sein wird.

Satz 8.28 (Rolle).

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall mit a < b und f : [a, b] eine stetige Funktion, die auf dem offenen Intervall (a,b) differenzierbar ist. Falls f(a) = f(b) gilt, so existiert ein ξ (a,b) mit f (ξ) = 0.

In Worten besagt der Satz von Rolle also, dass wenn eine „schöne“ Funktion auf einem Intervall an den Endpunkten den selben Wert annimmt, die Steigung irgendwo (strikt) zwischen den Endpunkten Null sein muss. Wir veranschaulichen dies in folgendem Bild, das bereits einen Hinweis enthält, wie wir im Beweis vorgehen wollen.

PIC

Beweis.

Nach dem Extremwertsatz (Korollar 3.71) werden Minimum und Maximum von f auf [a, b] angenommen. Das heisst, es existieren xmin ,xmax [a,b] mit

f(xmin ) = min f([a,b]),f(xmax ) = max f([a,b]).

Nach Proposition 8.17 muss die Ableitung von f bei allen Punkten in (a,b), wo ein Extremum angenommen wird, Null sein. Falls also xmin (a, b) oder xmax (a, b) gilt, dann haben wir bereits ein ξ (a,b) gefunden mit f(ξ) = 0 (wobei ξ = xmin oder ξ = xmax ist). Falls aber xmin und xmax Endpunkte des Intervalles sind, dann muss wegen f(a) = f(b) auch f(xmin ) = f(xmax ) gelten, womit die Funktion f konstant und f(x) = 0 für alle x (a,b) ist.   

Der Satz von Rolle führt unmittelbar zu folgendem fundamentalen Satz.

Theorem 8.29 (Mittelwertsatz).

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall mit a < b und f : [a, b] eine stetige Funktion, die auf dem offenen Intervall (a,b) differenzierbar ist. Dann gibt es ein ξ (a,b) mit

f (ξ) = f(b) f(a) b a .

Somit gibt es also mindestens einen Punkt ξ, an dem die Steigung f (ξ) der durchschnittlichen Steigung f(b)f(a) ba , also der Steigung der Sekante durch (a,f(a)) und (b, f(b)) entspricht. Wir stellen dies in einem Bild dar.

PIC

Der Beweis des Mittelwertsatzes adaptiert die Werte von f auf eine (affin) lineare Weise, um danach den Satz von Rolle (Satz 8.28) anwenden zu können. In der Tat behandelt der Satz von Rolle genau den Spezialfall f(a) = f(b). Wenn wir in obigem Bild die Funktion rechts „nach unten ziehen“, können wir genau diesen Spezialfall verwenden.

Beweis.

Wir definieren eine Funktion F : [a,b] durch

F (x) = f (x) f(b) f(a) b a (x a)

für alle x [a,b]. Dann gilt F(a) = f(a) und F(b) = f(b) (f(b) f(a)) = f(a). Des Weiteren ist F stetig an den Endpunkten und differenzierbar auf (a,b) nach Proposition 8.5. Nach dem Satz von Rolle (Satz 8.28) existiert also ein ξ (a, b) mit

0 = F (ξ) = f (ξ) f(b) f(a) b a

wie gewünscht.   

Übung 8.30 (Intervall als Voraussetzung).

Zeigen Sie anhand eines Beispiels die Notwendigkeit der Voraussetzung im Mittelwertsatz (Theorem 8.29), dass der Definitionsbereich D der Funktion f : D ein Intervall ist.

Übung 8.31 (Lipschitz-Stetigkeit differenzierbarer Funktionen).

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten a < b und sei f : [a, b] stetig differenzierbar. Zeigen Sie, dass f Lipschitz-stetig ist. Was geschieht, wenn man Kompaktheit fallen lässt, das heisst, wenn man a = oder b = zulässt?

Der Mittelwertsatz (Theorem 8.29) wird zu einem zentralen Tool für die folgenden Diskussionen werden. Da wir die Ableitung auch für komplexwertige Funktionen definiert haben und in Beispiel 8.3(iii) auch schon für eine spezielle Funktion berechnet haben, wollen wir in folgendem Beispiel zeigen, dass der Mittelwertsatz nur für reellwertige Funktionen und nicht für komplexwertige Funktionen zutrifft.

Beispiel 8.32 (Kreisparametrisierung).

Sei γ : [0,2π] die Abbildung (besser: die Kurve) gegeben durch

γ : t [0,2π]et i = cos (t) + i sin (t)

Nach Beispiel 8.3(iii) ist die Ableitung gegeben durch γ (t) = i eti . An den Endpunkten des Intervalles [0,2π] gilt γ(0) = γ(2π) = 1. Die Ableitung von γ nimmt jedoch nie den Wert Null an, denn es gilt |γ(ξ)| = 1 für alle ξ [0,2π]. Somit können die Aussagen des Satzes von Rolle (Satz 8.28) und des Mittelwertsatzes (Theorem 8.29) für komplexwertige Funktionen in dieser Allgemeinheit nicht zutreffen.

8.2.2 Korollare des Mittelwertsatzes und Kurvendiskussion

Der Mittelwertsatzes erlaubt es uns nun, uns bekannte Eigenschaften von Funktionen mittels der Ableitung zu charakterisieren.

Korollar 8.33 (Kriterium für Konstanz).

Sei I ein Intervall mit Endpunkten a < b und f : I eine Funktion. Dann ist f genau dann konstant, wenn f differenzierbar ist und f (x) = 0 für alle x I gilt.

Beweis.

Wir wissen bereits, dass die Ableitung einer konstanten Funktion die Nullfunktion ist. Also angenommen es gilt f(x) = 0 für alle x I. Seien x1 < x2 in I. Dann folgt aus dem Mittelwertsatz (Theorem 8.29) angewendet auf f|[x1 ,x2 ] : [x1,x2] , dass es ein ξ (x1,x2) I gibt mit f(x2 ) f(x1) = f(ξ)(x2 x1). Es gilt aber f (ξ) = 0 und damit f(x1 ) = f(x2). Die Punkte x1 , x2 I waren jedoch beliebig, also folgt die Aussage.   

Übung 8.34 (Charakterisierung von Polynomen).

Sei I ein Intervall mit Endpunkten a < b und f : I eine Funktion. Zeigen Sie, dass f genau dann ein Polynom ist, wenn f glatt ist und es ein n gibt mit f(n) = 0.

Hinweis.

Verwenden Sie Korollar 8.33 und eine geeignete Induktion für die Rückrichtung.

Im Folgenden werden wir den Mittelwertsatz, wie schon im obigen Beweis von Korollar 8.33, oft auf zwei verschiedene Punkte x1,x2 in einem Intervall anwenden, was jeweils zu einem neuen Punkt ξ strikt zwischen x1 und x2 mit f (ξ ) = f(x2)f(x1) x2x1 = f(x1)f(x2) x1x2 führt.

Korollar 8.35 (Kriterium für Monotonie).

Sei I ein nicht-leeres Intervall und f : I eine differenzierbare Funktion. Dann gilt

( x I : f(x) 0 ) f ist monoton wachsend ( x I : f(x) > 0 ) f ist streng monoton wachsend ( x I : f(x) 0 ) f ist monoton fallend ( x I : f(x) < 0 ) f ist streng monoton fallend.

Beweis.

Dies folgt unmittelbar aus dem Mittelwertsatz (Theorem 8.29), da für zwei Punkte x1 < x2 in I gilt f(x2 ) f(x1) = f(ξ)(x2 x1) für ein ξ I.   

Zwei (aber nur zwei) dieser Implikationen sind sogar Äquivalenzen, wie folgende Übung zeigt.

Wichtige Übung 8.36 (Exakte Charakterisierung von Monotonie).

Sei I ein nicht-leeres Intervall und f : I eine differenzierbare Funktion. Zeigen Sie, dass

( x I : f(x) 0 ) f ist monoton wachsend ( x I : f(x) 0 ) f ist monoton fallend

Untersuchen Sie weiter das Beispiel f : x x3 .

Hinweis.

Wir haben die nötige Argumentation für die Umkehrung bereits in Proposition 8.17 verwendet.

Korollar 8.37 (Hinreichende Kriterien für lokale Extrema).

Sei I ein Intervall mit Endpunkten a < b und x0 I kein Endpunkt von I. Sei f : I stetig und zumindest auf I {x0} stetig differenzierbar.

Angenommen der linke Endpunkt a liegt in I.
Falls f(a) > 0 erfüllt ist, dann nimmt f in a ein isoliertes lokales Minimum an.
Falls f(a) < 0 erfüllt ist, dann nimmt f in a ein isoliertes lokales Maximum an.
Beim Punkt x0 gelten folgende Kriterien.
Falls ein δ > 0 existiert, so dass f(x) > 0 für alle x (x0 δ,x0 + δ) {x0} (oder f(x) < 0 für alle x (x0 δ,x0 + δ) {x0}), dann nimmt f in x0 kein lokales Extremum an.
Falls ein δ > 0 existiert, so dass f(x) > 0 für alle x (x0 δ,x0) und f(x) < 0 für alle x (x0,x0 + δ), dann nimmt f in x0 ein isoliertes lokales Maximum an.
Falls ein δ > 0 existiert, so dass f(x) < 0 für alle x (x0 δ,x0) und f(x) > 0 für alle x (x0,x0 + δ), dann nimmt f in x0 ein isoliertes lokales Minimum an.
Falls f auf ganz I zweimal stetig differenzierbar ist und f(x0) = 0 sowie f(x0) < 0 gilt, dann nimmt f in x0 ein isoliertes lokales Maximum an.
Falls f auf ganz I zweimal stetig differenzierbar ist und f(x0) = 0 sowie f(x0) > 0 gilt, dann nimmt f in x0 ein isoliertes lokales Minimum an.
Angenommen der rechte Endpunkt b liegt in I.
Falls f(b) > 0 erfüllt ist, dann nimmt f in b ein isoliertes lokales Maximum an.
Falls f(b) < 0 erfüllt ist, dann nimmt f in b ein isoliertes lokales Minimum an.

Auf Grund der Vielzahl obiger Kriterien möchten wir hier erwähnen, dass man sich dieses Korollar viel eher merken kann, wenn man es (anhand eines Bildes und des Beweises) verstanden hat, als wenn man es auswendig lernen möchte.

Beweis.

Die Beweise dieser Aussagen sind alle sehr ähnlich und beruhen in sämtlichen Fällen auf dem Mittelwertsatz. Sei a I der linke Endpunkt und angenommen f(a) > 0. Dann existiert wegen der Stetigkeit von f ein δ > 0, so dass für alle x [a,a + δ) ebenso f (x) > 0 gilt. Für jedes x [a,a + δ) existiert nun nach dem Mittelwertsatz (Theorem 8.29) ein ξ (a, x) mit

f(x) f(a) = f(ξ)(x a) > 0.

Dies zeigt, dass f in a ein lokales Minimum annimmt. Der Fall f(a) < 0 ergibt sich analog. Ebenfalls analog ist das Argument für die Aussagen beim rechten Endpunkt.

Für x0 gilt auf Grund des gleichen Arguments für jedes δ > 0

x (x0 δ,x0) : f(x) > 0 x (x 0 δ,x0) : f(x) < f(x0) x (x0,x0 + δ) : f(x) > 0 x (x 0,x0 + δ) : f(x) > f(x0) x (x0 δ,x0) : f(x) < 0 x (x 0 δ,x0) : f(x) > f(x0) x (x0,x0 + δ) : f(x) < 0 x (x 0,x0 + δ) : f(x) < f(x0)

Durch Kombination dieser Aussagen ergeben sich das erste, zweite und dritte Kriterium für x0 .

Angenommen f ist auf ganz I zweimal stetig differenzierbar und f(x0) = 0 sowie f (x0 ) < 0 sind erfüllt. Dann existiert ein δ > 0 so dass f (x) < 0 für alle x (x0 δ,x0 + δ). Nach Korollar 8.35 ist f |(x0 δ,x0+δ) streng monoton fallend und somit nimmt f nach dem zweiten Kriterium für x0 in x0 ein isoliertes lokales Maximum an. Das fünfte Kriterium für x0 folgt wiederum analog.   

8.2.3 Konvexität

Definition 8.38 (Konvexität und Konkavität).

Sei I ein Intervall und f : I eine Funktion. Dann heisst f konvex, falls

f ((1 t)x0 + tx1 ) (1 t)f(x0) + tf(x1) (8.6)

für alle x0 ,x1 I und für alle t [0,1]. Wir sagen, dass f streng konvex ist, falls in (8.6) eine strikte Ungleichung gilt, wenn immer x0 x1 und t (0, 1) (in diesem Falls ist (1 t)x0 + tx1 echt zwischen x0 und x1 ). Eine Funktion g : I heisst (streng) konkav, wenn f = g (streng) konvex ist.

PIC

     Figur 8.3: Anschaulich formuliert ist eine Funktion konvex x0 , wenn ihr Graph jeweils unterhalb der Strecke zwischen zwei Punkten auf dem Graphen bleibt. Wie wir in Kürze sehen werden, kann man die konvexen Funktionen als solche sehen, deren Graphen aufwärts gekrümmt sind, wie ebenfalls in diesem Bild ersichtlich ist.     

Konvexe Funktionen sind unter anderem nützlich, weil sie bei verschiedenen Ungleichungen zum Vorschein treten. Wir bemerken, dass auf Grund der Definition von Konkavität die Resultate dieses Unterabschnitts für konvexe Funktionen auf ähnlichen Weise auf konkave Funktionen zutreffen. Nun beginnen wir damit Konvexität auf eine andere Art zu charakterisieren.

Lemma 8.39 (Konvexität via Steigung von Sekanten).

Sei I ein Intervall und f : I eine Funktion. Die Funktion f ist genau dann konvex, wenn für alle x,x0,x1 I gilt

x0 < x < x1f(x) f(x0) x x0 f(x1) f(x) x1 x .

Des Weiteren ist f genau dann streng konvex, wenn

x0 < x < x1f(x) f(x0) x x0 < f(x1) f(x) x1 x .

gilt.

In Worten ausgedrückt besagt das Lemma insbesondere, dass für eine konvexe Funktion die Steigung der Sekanten zwischen Punkten x0 < x kleiner (gleich) ist als die Steigung der Sekanten zwischen x < x1 . Veranschaulichen Sie sich dies an Figur 8.3.

Beweis.

Für Punkte x0 < x1 in I hat t (0, 1) xt = (1 t)x0 + tx1 (x0,x1) die Umkehrabbildung x (x0 , x1 ) tx = xx0 x1x0 (0,1). Mit dieser Notation gilt (8.6) für alle t (0,1) genau dann, wenn

f (x) x1 x x1 x0f (x0) + x x0 x1 x0f (x1) .

für alle x (x0,x1) gilt. Letzteres ist wiederum äquivalent zu

(x1 x0)f(x) (x1 x)f(x0) + (x x0)f(x1)

für alle x (x0,x1), was genau dann gilt, wenn

(x1 x)(f(x) f(x0)) (x x0)(f(x1) f(x)).

für alle x (x0,x1). Dies ist aber zu f(x)f(x0) xx0 f(x1)f(x) x1x äquivalent, wie gewünscht.

Im Falle der strengen Konvexität können wir alle „ in obigem Beweis durch „ < ersetzen.   

Für differenzierbare Funktion existiert folgende, sehr direkte Charakterisierung der Konvexität, welche erklärt, warum (differenzierbare) konvexe Funktionen aufwärts gekrümmte Graphen besitzen.

Proposition 8.40 (Kriterium für Konvexität).

Sei I ein Intervall mit Endpunkten a < b und f : I eine differenzierbare Funktion. Dann ist f genau dann (streng) konvex, wenn f (streng) monoton wachsend ist.

Beweis.

Der Beweis beruht auf dem Mittelwertsatz (Theorem 8.29) und der Charakterisierung von konvexen Funktionen in Lemma 8.39. Denn für drei Punkte x0 < x < x1 in I existieren ξ1 (x0 , x) und ξ2 (x, x1 ) mit

f (ξ 1) = f(x) f(x0) x x0 ,f (ξ 2) = f(x1) f(x) x1 x

Falls nun f (streng) monoton wachsend ist, dann ist f(ξ1) f(ξ2) (respektive f(ξ1) < f(ξ2)) und wir erhalten die (strenge) Konvexität von f aus Lemma 8.39.

Angenommen f ist konvex und x0 < x1 sind zwei Punkte in I. Dann folgt aus Lemma 8.39, dass für alle h (0, 1 2 (x1 x0)) gilt

f(x0 + h) f(x0) h f(x1 h) f(x0 + h) (x1 h) (x0 + h) f(x1) f(x1 h) h ,

woraus mit h 0

f (x 0) f(x1) f(x0) x1 x0 f (x 1)

folgt. Wir verweisen auf Übung 8.41 für den letzten Beweisschritt (der weniger häufig für Anwendungen von Bedeutung ist).   

Übung 8.41 (Strenge Konvexität).

Seien f, I wie in Proposition 8.40. Angenommen f ist streng konvex. Zeigen Sie, dass f streng monoton wachsend ist.

Hinweis.

Betrachten Sie zusätzlich zu x1 < x1 + h < x2 h < x2 für h (0, 1 4(x2 x1)) noch drei Punkte nämlich x1 + 1 4(x2 x1) < 1 2(x1 + x2) < x2 1 4(x2 x1) und die entsprechende echte Ungleichung der Differenzenquotienten in Lemma 8.39.

Aus Proposition 8.40 und Korollar 8.35 ergibt sich folgendes Korollar.

Korollar 8.42 (Konvexität und die zweite Ableitung).

Sei I ein Intervall mit Endpunkten a < b und f : I eine zweimal differenzierbare Funktion. Falls f(x) 0 für alle x I, dann ist f konvex. Falls f(x) > 0 für alle x I, dann ist f streng konvex.

Beispiel 8.43.

Die Funktion f : x (0,)xlog (x) ist streng konvex. Dies ergibt sich aus Korollar 8.42, da f glatt ist und

f (x) = log (x) + x1 x = log (x) + 1,f (x) = 1 x > 0.

für alle x > 0. Des Weiteren wissen wir bereits aus Beispiel 6.44, dass lim x0x log (x) = 0. Zuletzt bemerken wir, dass lim x0f (x) = , was alles im Graphen von f ersichtlich ist.

PIC

Lemma 8.44 (Jensensche Ungleichung).

Sei I ein Intervall und f : I eine konvexe Funktion. Seien n , x1 , x2 , , xn I und t1 , t2 , , tn [0,1] mit k=1ntk = 1. Dann gilt

f ( k=1nt kxk ) k=1nt kf(xk). (8.7)

Beweis.

Wir verwenden Induktion über n 2. Für n = 1 haben wir k=11tkxk = x1, k=11tkf(xk) = f(x1) und (8.7) ist trivialerweise erfüllt. Für n = 2 ist (8.7) gerade (8.6) (mit t1 = 1 t und t2 = t [0,1]). Angenommen die Aussage ist für n 2 erfüllt. Seien x1, ,xn+1 I und t1 , , tn+1 [0,1]. Falls tn+1 = 0 folgt (8.7) direkt aus der Annahme für n. Also angenommen tn+1 > 0. Dann gilt

f ( k=1n+1t kxk ) = f ( k=1n1t kxk + (tn + tn+1) ( tn tn + tn+1xn + tn+1 tn + tn+1xn+1) ) k=1n1t kf (xk) + (tn + tn+1) f ( tn tn + tn+1xn + tn+1 tn + tn+1xn+1) k=1n1t kf (xk) + (tn + tn+1) ( tn tn + tn+1f(xn) + tn+1 tn + tn+1f(xn+1)) = k=1n+1t kf (xk)

per Induktionsannahme angewendet auf x1, ,xn1, tn tn+tn+1xn + tn+1 tn+tn+1xn+1 und Konvexität von f.   

Die Jensenschen Ungleichung hat zahlreiche Anwendungen und kann abhängig von der konvexen Funktion f verschiedene Formen annehmen. Ein Beispiel dafür ist in der nächsten Übung enthalten.

Übung 8.45 (Harmonisches, geometrisches und arithmetisches Mittel).

Zeigen Sie die Ungleichung

n 1 x1 + + 1 xn x1xnn x1 + + xn n

für das harmonische, das arithmetische und das geometrische Mittel von x1 , , xn >0.

Hinweis.

Verifizieren Sie zuerst, dass x >0 log (x) konvex ist.

Auch für das Riemann-Integral gilt eine Version der Jensenschen Ungleichung.

Übung 8.46 (Integralform der Jensenschen Ungleichung).

Sei φ : [0,1] I stetig und sei f : I eine stetige, konvexe Funktion. Dann gilt

f (01φ (t)d t) 01f (φ (t))d t.
Hinweis.

Verwenden Sie Riemann-Summen.

Wir schliessen die Diskussion von Konvexität mit folgender Übung.

Übung 8.47 (Minima von konvexen Funktionen).

Sei I ein Intervall und f : I eine konvexe Funktion. Zeigen Sie, dass jedes lokale Minimum von f ein (globales) Minimum ist.

8.2.4 Mittelwertsatz nach Cauchy

Wir möchten nun den Mittelwertsatz etwas verallgemeinern.

Satz 8.48 (Erweiterter Mittelwertsatz).

Seien f und g stetige Funktionen auf einem Intervall [a,b] mit a < b, so dass f und g auf (a, b) differenzierbar sind. Dann existiert ein ξ (a,b) mit

g(ξ)(f(b) f(a)) = f(ξ)(g(b) g(a)). (8.8)

Falls zusätzlich g(x)0 für alle x (a,b) gilt, dann gilt g(a)g(b) und

f(ξ) g(ξ) = f(b) f(a) g(b) g(a) .

Man beachte, dass der Mittelwertsatz (Theorem 8.29) gerade der Spezialfall g : x [a, b]x des obigen Satzes ist und man somit in der Tat von einem erweiteren Mittelwertsatz sprechen darf.

Bemerkung.

Genau wie der Mittelwertsatz hat der Mittelwertsatz von Cauchy eine geometrische Interpretation, nur muss man dieses Mal in der zweidimensionalen Ebene suchen. Dort besagt der Mittelwertsatz von Cauchy unter den getroffenen Annahmen, dass die Kurve t(f(t),g(t)) eine Tangente besitzt, die parallel zur Gerade durch die Punkte (f(a),g(a)), (f(b), g(b)) ist.

Beweis von Satz 8.48.

Wir definieren eine Funktion F : [a, b] durch

F(x) = g(x) (f(b) f(a) ) f(x) (g(b) g(a) )

für alle x . Dann gilt

F(a) = g(a) (f(b) f(a) ) f(a) (g(b) g(a) ) = g(a)f(b) f(a)g(b) F(b) = g(b) (f(b) f(a) ) f(b) (g(b) g(a) ) = F(a).

Nach dem Satz von Rolle (Satz 8.28) existiert somit ein ξ (a, b) mit

F(ξ) = g(ξ)(f(b) f(a)) f(ξ)(g(b) g(a)) = 0.

Dies beweist die erste Behauptung (8.8) des Satzes.

Falls zusätzlich g(x)0 für alle x (a, b), dann folgt aus dem Satz von Rolle (Satz 8.28), dass g(b)g(a) (wieso?). Nach Division von (8.8) mit g(ξ)(g(b) g(a)) ergibt sich die zweite Behauptung des Satzes.   

8.2.5 Regel von de l’Hôpital

Die folgende Regel stellt eine einfache Anwendung des obigen erweiterten Mittelwertsatzes dar und macht die Berechnung von vielen konkreten Grenzwerten deutlich einfacher.

Satz 8.49 (Regel von de l’Hôpital).

Seien a < b in ¯ und seien f, g : (a, b) zwei differenzierbare Funktionen mit g(x)0 und g (x) 0 für alle x (a, b). Angenommen der Grenzwert lim xaf(x) g(x) existiert in ¯ und eine der beiden folgenden Bedingungen ist erfüllt:

( 0 0) lim xaf (x) = lim xag (x) = 0
( ) lim xag (x) = + (oder lim xag (x) = ).

Dann existiert auch der Grenzwert lim xaf(x) g(x) und es gilt

lim xaf(x) g(x) = lim xaf(x) g(x).

Analoge Aussagen gelten für die Bewegungen x b oder x x0 (a,b). Im letzten Fall erlauben wir g(x0) = 0 oder auch g(x0) = 0, solange g(x)0 und g (x) 0 für alle x (a, b) {x0}.

Wir nennen „0 0 und „ unbestimmte Formen, da wir bisher keine allgemeinen Werkzeuge hatten, um den Grenzwert von f(x) g(x) zu berechnen für den Fall, dass sowohl f(x) als auch g(x) beide gegen 0 oder beide gegen streben. Obige Regel ist in diesen Fällen sehr oft nützlich und viel einfacher anwendbar als unsere bisherigen Berechnungen (siehe unter anderem Beispiel 6.44). Wie bereits erwähnt ist die Regel ein Korollar des erweiterten Mittelwertsatzes.

Beweis.

Wir betrachten zuerst die Bewegung x a für ein a und setzen

L = lim xaf(x) g(x) ¯.

Die unbestimmte Form 0 0: Angenommen es gilt lim xaf (x) = lim xag (x) = 0. In diesem Fall können wir also f und g stetig auf [a, b) fortsetzen, in dem wir f(a) = g(a) = 0 setzen. Da L = lim xa f(x) g(x) ist, können wir für eine beliebige Umgebung U von L ein y (a, b) wählen mit f (ξ) g(ξ) U für alle ξ (a, y). Für ein beliebiges x (a,y) wenden wir nun den erweiterten Mittelwertsatz (Satz 8.48) auf [a, x] an und erhalten

f(x) g(x) = f(x) f(a) g(x) g(a) = f(ξx) g(ξx) U

für ein ξx (a,x) (a,y). Da die Umgebung U von L beliebig war, existiert der Grenzwert lim xaf(x) g(x) und ist gleich L. Dies beweist den ersten Fall.

Die unbestimmte Form mit reellem Grenzwert: Wir nehmen an, dass der Nenner die Aussage lim xag (x ) = + (oder lim xag (x ) = ) erfüllt sowie der Grenzwert L reell ist.† Man beachte, dass diese Annahme auch gemeinsam mit L = lim xa f(x) g(x) keinerlei Information über das asymptotische Verhalten von f für x a enthält.

Sei nun 𝜀 > 0. Nach Definition von L und der Annahme dieses Falles gibt es ein y𝜀 (a,b) mit |f (ξ) g(ξ) L | < 𝜀 für alle ξ (a, y𝜀 ). Für ein beliebiges x (a,y𝜀) gibt es nach dem erweiterten Mittelwertsatz (Satz 8.48) jeweils ein ξx (x, y𝜀 ) (a,y𝜀) mit

f(x) f(y𝜀) g(x) g(y𝜀) = f(ξx) g(ξx) (L 𝜀,L + 𝜀), (8.9)

wobei g(x)g(y𝜀) auf Grund der zweiten Aussage in Satz 8.48 und unserer Annahmen an g. Anders ausgedrückt erhalten wir also

f(x) g(x) g(y𝜀) = f(ξx) g(ξx) + f(y𝜀) g(x) g(y𝜀). (8.10)

Intuitiv ausgedrückt ist hier die linke Seite etwa f(x) g(x) für x sehr nahe an a, denn g(y𝜀 ) ist fest gewählt während |g(x)| beliebig gross wird. Des Weiteren ist die rechte Seite nahe an L, da f(y𝜀 ) g(x)g(y𝜀) gegen Null geht für x a.

Formaler geht man wie folgt vor. Wir bemerken zuerst, dass (8.10) zu

f(x) g(x) = f(ξx) g(ξx) g(x) g(y𝜀) g(x) + f(y𝜀) g(x) = f(ξx) g(ξx) f(ξx) g(ξx) g(y𝜀) g(x) + f(y𝜀) g(x) (8.11)

für alle x (a,y𝜀) umgeformt werden kann. Da lim xa |g (x)| = gilt, existiert weiter ein 𝜀 (a,y𝜀), so dass

( |L| + 𝜀 )|g(y𝜀)| |g(x)| < 𝜀 und  |f(y𝜀) g(x) | < 𝜀

für alle x (a,𝜀). Zusammenfassend gilt für ein x (a,𝜀) und eine Wahl ξx (a,y𝜀) wie in (8.9) die Abschätzung

|f(ξx) g(ξx) | |f(ξx) g(ξx) L| + |L| |L| + 𝜀

und damit die Ungleichung

|f(x) g(x) L| |f(ξx) g(ξx) L| + |f(ξx) g(ξx) g(y𝜀) g(x) | + |f(y𝜀) g(x) | < 𝜀 + (|L| + 𝜀) |g(y𝜀)| |g(x)| + 𝜀 < 3𝜀,

was zu beweisen war.

Die unbestimmte Form mit uneigentlichem Grenzwert: Wir nehmen nun an, dass L = . Dann lässt sich die Aussage nach kleinen Anpassungen analog wie oben beweisen. In der Tat existiert nach Annahme zu jedem 𝜀 > 0 ein y𝜀 (a, b), so dass f (ξ) g(ξ) > 1 𝜀 für alle ξ (a, y𝜀 ). Für dieses fest gewählte y𝜀 wählen wir nun ein 𝜀 (a,y𝜀) mit | f(y𝜀 )) g(x)g(y𝜀) | < 1 und g(x)g(y𝜀 ) g(x) > 1 2 für alle x (a, 𝜀). Dann ist nach (8.10)

f(x) g(x) = g(x) g(y𝜀) g(x) f(x) g(x) g(y𝜀) 1 2 f(x) g(x) g(y𝜀) > 1 2 (1 + 1 𝜀 ) = 1 2 + 1 2𝜀.

Daraus folgt die Aussage, da 𝜀 > 0 beliebig war. Der Fall L = lässt sich analog beweisen oder durch Vorzeichenwechsel von f auf obigen Fall zurückführen.

Restliche Fälle: Wir beschäftigen uns nun mit den übrig bleibenden Fällen im Satz, die wir jeweils auf einen der obigen Fälle reduzieren können, in dem wir die unabhängige Variable x im Definitionsbereich geeignet ersetzen.

Betrachtet man die Bewegung x b für b = , so lässt sich dieser Fall auf die vorherigen Fälle zurückführen. In der Tat können wir durch Einschränkung der Funktionen ohne Beschränkung der Allgemeinheit a > 0 annehmen und die Funktionen

F : x (0, 1 a)f( 1 x),G : x (0, 1 a)g( 1 x)

definieren und nun stattdessen den Grenzwert lim x0F(x) G(x) betrachten. Die weiteren Schritte überlassen wir hierbei den Leserinnen und Lesern – siehe Übung 8.50. Die Bewegungen x b, x x0 und x lassen sich ebenso auf die bereits betrachteten Fälle zurückführen.   

Wichtige Übung 8.50.

Vervollständigen Sie den obigen Beweis, indem Sie die Reduktionen in allen verbleibenden Fällen komplett ausführen.

Übung 8.51 (Rechnen mit der Regel von de l’Hôpital).

Berechnen Sie die Grenzwerte

lim x02sin (x) sin (2x) x sin (x) ,lim xx1 x ,lim x0 sin (x2) xtan (x).

Übung 8.52.

Sei [a, b] ein abgeschlossenes Intervall mit a < b und sei f : [a,b] stetig. Angenommen x0 [a,b] ist ein Punkt, so dass f auf [a, b] {x0} differenzierbar ist und angenommen der Grenzwert lim xx0f (x) existiert. Zeigen Sie, dass f bei x0 differenzierbar ist und dass f bei x0 stetig ist.

Hinweis.

Sie können entweder den Mittelwertsatz oder die Regel von de l’Hôpital verwenden.

Wir möchten kurz anmerken, dass sich höhere Ableitungen mitunter zwar als einen direkten Grenzwert ausdrücken lassen, doch die Existenz dieses Grenzwertes nicht zur mehrmaligen Differenzierbarkeit äquivalent sein muss.

Übung 8.53 (Zweite Ableitung als Grenzwert).

Sei I = (a,b) ein Intervall mit a < b und sei f : I zweimal differenzierbar. Zeigen Sie die Formel

f (x) = lim h0f(x + h) 2f(x) + f(x h) h2

für alle x I. Verifizieren Sie anhand der Vorzeichenfunktion x sgn (x), dass die Existenz des obigen Grenzwerts nicht zweimalige Differenzierbarkeit impliziert.

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Analysis I (Kap. 1-9) Copyright © by Manfred Einsiedler. All Rights Reserved.

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