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1.1 Quadratur der Parabel

Als Beispiel, wie wir hier denken und vorgehen wollen, aber auch als Einleitung in die Integralrechnung, werden wir uns in diesem Abschnitt mit dem Bereich

P = {(x,y) 20 x 1,0 y x2} (1.1)

unter der Parabel zwischen 0 und 1 beschäftigen und dessen Flächeninhalt berechnen. Dieser Flächeninhalt wurde als erster krummlinig begrenzter Bereich schon von Archimedes (ca. 287–ca. 212 v.Chr.) im 3. Jahrhundert v.Chr. bestimmt. (Historisch Interessierten empfehlen wir auch den Podcast der BBC über Archimedes, wobei man bei der zwanzigsten Minute einsteigen kann, wenn man wenig Zeit hat.) Wir wollen für die Flächenberechnung davon ausgehen, dass wir wissen, was die Symbole in der Definition in Gleichung (1.1) bedeuten und dass P gerade den Bereich in folgendem Bild (Figur 1.1) beschreibt.† Insbesondere nehmen wir vorläufig an, dass wir die Menge der reellen Zahlen bereits kennen.

PIC

     Figur 1.1: Der Bereich P.     

Natürlich ist die Berechnung des Flächeninhalts von P keine Herausforderung und innerhalb von Sekunden möglich, wenn wir das bestimmte (Riemann-) Integral und die dazugehörigen Rechenregeln verwenden. Wir wollen dies jedoch nicht als bekannt voraussetzen, da wir das Integral erst in etwa einem Monat einführen und verstehen werden.

Genau genommen müssen wir uns vor der Berechnung folgende fundamentale Frage stellen:

Was ist eigentlich ein Flächeninhalt?

Wenn wir diese Frage nicht genau beantworten können, dann können wir eigentlich nicht wissen, was es bedeutet, den Flächeninhalt von P zu berechnen. Deswegen relativieren wir unser Ziel in folgender Weise – eine Proposition ist ein mathematischer Satz, also eine mathematische Aussage, mittlerer Bedeutung:

Proposition 1.1 (Flächeninhalt unter der Parabel).

Angenommen es gibt einen Begriff eines Flächeninhalts für Bereiche in 2 , der folgende Eigenschaften erfüllt:

Der Flächeninhalt des sogenannten abgeschlossenen Rechtecks [a,b] × [c,d] = {(x,y) 2a x b,c y d}

und des sogenannten offenen Rechtecks

(a,b) × (c,d) = {(x,y) 2a < x < b,c < y < d}

ist gleich (b a)(d c), wobei a, b, c, d reelle Zahlen sind mit a b,c d.

Falls G ein Bereich in 2 ist und F ein in G enthaltener Bereich ist, dann ist der Flächeninhalt von F kleiner oder gleich dem Flächeninhalt von G.
Für Bereiche F,G in 2 ohne gemeinsame Punkte ist der Flächeninhalt des vereinigten Bereiches F G die Summe der Flächeninhalte von F und G.

Dann ist der Flächeninhalt von P wie in Gleichung (1.1) (falls überhaupt definiert) gleich 1 3.

In anderen Worten: wir haben die Frage, ob es einen Begriff des Flächeninhalts gibt und für welche Bereiche dieser definiert ist, offengelassen, wollen aber zeigen, dass 1 3 der einzige “vernünftige” Wert für den Flächeninhalt von P darstellt. Die Idee unseres Beweises wird auch im folgenden Applet dargestellt.

Applet 1.2 (Abschätzung eines Flächeninhaltes).

Wir verwenden jeweils bis zu 1000 Rechtecke um den Flächeninhalt von unten und von oben abzuschätzen. Im Beweis unten werden wir aber unbegrenzt viele Rechtecke verwenden und können damit den Flächeninhalt ohne jegliche Unschärfe genau bestimmen.

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Wir verwenden die Farbe Orange im eSkript und den Applets für all jene Objekte, die Sie anklicken, bewegen oder einstellen können. In den meisten unserer Apps erhalten Sie Erklärungen zu Objekten, wenn Sie auf diese klicken beziehungsweise tippen.

Für den Beweis von Proposition 1.1 benötigen wir ein Lemma (auch Hilfssatz genannt):

Lemma 1.3 (Summenformel mittels Induktion).

Sei n 1 eine natürliche Zahl. Dann gilt

12 + 22 + + (n 1)2 + n2 = n3 3 + n2 2 + n 6. (1.2)

Beweis (mittels vollständiger Induktion).

Für n = 1 ist die linke Seite von Gleichung (1.2) gleich 1 und die rechte Seite gleich 1 3 + 1 2 + 1 6 = 1. Also stimmt Gleichung (1.2) für n = 1. Dieser Beweisschritt wird Induktionsanfang genannt.

Angenommen wir wissen bereits, dass Gleichung (1.2) für die natürliche Zahl n gilt. Wir wollen nun zeigen, dass daraus folgt, dass Gleichung (1.2) auch für n + 1 gilt. Hierzu beginnen wir mit der rechten Seite von Gleichung (1.2) für n + 1 und erhalten

(n + 1)3 3 + (n + 1)2 2 + n + 1 6 = n3 + 3n2 + 3n + 1 3 + n2 + 2n + 1 2 + n + 1 6 = n3 3 + n2 + n + 1 3 + n2 2 + n + 1 2 + n 6 + 1 6 = (n3 3 + n2 2 + n 6 ) + (n2 + 2n + 1)

durch geschicktes Umformen, Umordnen und Zusammenfassen gewisser Terme. Der erste Klammerausdruck in der letzten Zeile ist nun genau die rechte Seite der Gleichung (1.2) (die wir für n als bekannt angenommen haben). Der zweite Klammerausdruck ist genau (n + 1)2 , weswegen wir

(n + 1)3 3 + (n + 1)2 2 + n + 1 6 = 12 + 22 + + n2 + (n + 1)2

gezeigt haben. Dieser Beweisschritt wird Induktionsschritt genannt.

Es folgt, dass Gleichung (1.2) wegen dem Induktionsanfang für n = 1 stimmt und daher auch für n = 2 wegen dem Induktionsschritt und weiter für n = 3 wieder wegen dem Induktionsschritt. Fährt man so weiter, erhält man (1.2) für jede natürliche Zahl. Wir sagen, dass Gleichung (1.2) mittels vollständiger Induktion für alle natürlichen Zahlen n 1 folgt. Des Weiteren deuten wir das Ende des Beweises mit einem kleinen Quadrat an.   

Beweis von Proposition 1.1.

Wir nehmen an, dass es einen Begriff des Flächeninhalts mit den Eigenschaften in der Proposition gibt und dieser für P definiert ist. Angenommen I ist der Flächeninhalt von P. Wir überdecken P für eine gegebene natürliche Zahl n 1 mit Rechtecken wie in Figur 1.2.

PIC

     Figur 1.2: Die Überdeckung von P mit Rechtecken für n = 10.     

Wir erhalten aus den angenommenen Eigenschaften des Flächeninhalts und Lemma 1.3, dass

I 1 n 1 n2 + 1 n 22 n2 + + 1 n n2 n2 = 1 n3(12 + 22 + + n2) = 1 n3 (n3 3 + n2 2 + n 6 ) = 1 3 + 1 2n + 1 6n2 1 3 + 1 n

Wir bemerken, dass die Geradenstücke, bei denen sich die Rechtecke berühren, Flächeninhalt 0 haben und wir sie also einfach ignorieren dürfen. Betrachten Sie die offenen Rechtecke, interpretieren Sie die Seiten der Rechtecke als abgeschlossene Rechtecke mit Flächeninhalt Null, und verwenden Sie nun die angenommene Additionseigenschaft für Mengen ohne gemeinsame Punkte. Verwenden wir hingegen Rechtecke wie in Figur 1.3 erhalten wir ebenso

PIC

     Figur 1.3: Von P überdeckte Kollektion von Rechtecken für n = 10.     
I 1 n 0 n2 + 1 n 12 n2 + + 1 n (n 1)2 n2 = 1 n3(12 + + (n 1)2) = 1 n3(12 + + (n 1)2 + n2 n2) = 1 n3 (n3 3 + n2 2 + n 6 n2) 1 n3 (n3 3 n2) = 1 3 1 n Zusammenfassend gilt also 1 n I 1 3 1 n

für alle natürlichen Zahlen n 1. Die einzige Zahl, die kleiner als 1 n und grösser als 1 n ist für alle natürlichen Zahlen n 1, ist die 0. Dies ist anschaulich relativ klar (siehe unten) und wird später aus dem Archimedischen Prinzip folgen, welches wir in drei Wochen ausführlich besprechen werden. Daher gilt I = 1 3 und die Proposition folgt.   

Wir haben in obigem Beweis folgenden Satz benötigt:

Satz (Eine Version des Archimedischen Prinzips).

Wenn x die Ungleichung 1 n x 1 n für alle natürlichen Zahlen n erfüllt, dann ist x = 0.

Warum ist dies „anschaulich klar“? Stellen Sie sich x 0 in der Dezimaldarstellung vor. Verwenden wir die Annahme für n = 11, so sehen wir, dass x von der Form x = 0.0a2 a3 sein muss für vorerst unbekannte Ziffern a2,a3,a4, . Verwenden wir nun n = 102 + 1, dann sehen wir, dass x nach dem Komma mindestens 2 Nullen haben muss (das heisst, a2 = 0). Da aber die Annahme ebenso für n = 10k + 1 für eine beliebige natürliche Zahl k gilt, sehen wir, dass x unendlich viele Nullen nach dem Komma haben muss. Also ist x Null. Falls x 0, so erfüllt x die Ungleichung 0 x 1 n und insbesondere ist x und damit x gleich Null nach vorherigem Argument. Dies ist kein Beweis (ausser man hat vorher die reellen Zahlen als Dezimalbrüche eingeführt und alle übliche Eigenschaften bewiesen) – wir werden später unter Verwendung klar formulierter Axiome einen vollständigen Beweis des Archimedischen Prinzips erbringen.

Bemerkung.

Wie schon erwähnt, haben wir die Frage, ob es einen Flächeninhalt für Bereiche im 2 gibt, nicht beantwortet. Wir haben auch nicht genau beschrieben, was denn eigentlich Bereiche im 2 sind; wir sind aber implizit davon ausgegangen, dass Bereiche jene Teilmengen des 2 sind, denen wir einen Flächeninhalt zuordnen können. Diese grundlegenden Fragen werden zum Teil in Analysis I und II mit den Begriffen des Riemann-Integrals und der Jordan-messbaren Mengen beantwortet. Des Weiteren werden diese Fragen in grösserer Allgemeinheit in der Vorlesung Analysis III über Mass- und Integrationstheorie im dritten Semester und anderen weiterführenden Vorlesungen im dritten oder vierten Jahr des Mathematikstudiums besprochen.

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