9.3 Das uneigentliche Integral
Wir wollen nun den Begriff des Riemann-Integrals auf mehrere Arten erweitern.
9.3.1 Uneigentliche Integrationsgrenzen
Für und eine komplexwertige Funktion mit für alle definieren wir das uneigentliche Integral
falls der Grenzwert existiert. Weiter sagen wir, dass das uneigentliche Integral konvergiert, falls der obige Grenzwert in existiert. Ansonsten nennen wir das uneigentliche Integral divergent.
Beispiel 9.30.
Es gilt für
Insbesondere ist das obige uneigentliche Integral genau dann konvergent, wenn .
In der Tat ist
und
Uneigentliche Integrale der Form sind ähnlich definiert. Ebenso definieren wir für eine komplexwertige Funktion mit für alle das uneigentliche Integral
falls beide Grenzwerte existieren. Wir möchten dazu anmerken, dass man sich bewusst dazu entscheidet, die Bewegungen gegen respektive komplett getrennt zu behandeln. Alles andere würde zu komischen Phänomenen führen, wie folgendes Beispiel zeigt.
Beispiel 9.32.
Das uneigentliche Integral existiert nicht, da sowie nicht existieren. Wir bemerken aber, dass der Grenzwert existieren würde aber wäre.
Wie wir nun besprechen wollen, haben uneigentlichen Integrale oft sehr enge Beziehungen zu Reihen. Genau wie bei Folgen und Reihen (siehe Satz 6.5 und Proposition 7.11) ist es bei uneigentlichen Integralen nicht-negativer Funktionen einfacher über Konvergenz zu entscheiden.
Lemma 9.33.
Sei und eine nicht-negative Funktion mit für alle . Entweder konvergiert das uneigentliche Integral über oder es divergiert gegen Unendlich. In beiden Fällen gilt
Beweis.
Die Funktion ist monoton wachsend. Wenn das Supremum Unendlich ist, dann divergiert das uneigentliche Integral auf Grund der Monotonie gegen Unendlich. Wenn ist, dann gibt es zu ein mit
Insbesondere gilt für auf Grund der Monotonie und der Definition von dieselbe Ungleichung auch für . Dies beweist die Konvergenz des uneigentlichen Integrals.
Beispiel 9.34 (Gaussche Glockenkurve).
Wir wollen das uneigentliche Integral
besprechen, wobei die Funktion die Gaussche Glockenkurve genannt wird. Auf Grund von Lemma 9.33 reicht es aus eine „Majorantenfunktion“ zu finden, die ein konvergentes uneigentliches Integral definiert. Für gilt zum Beispiel und daher , woraus
folgt. Dies zeigt die Konvergenz des zweiten uneigentlichen Integrals, auf Grund der Symmetrie der Funktion ist daher auch konvergent. Wir werden den Wert dieses Integral erst im zweiten Semester berechnen können. Doch wollen wir noch erwähnen, dass die streng monoton wachsende Funktion
die Verteilungsfunktion der Normalverteilung mit Erwartungswert und Standardabweichung genannt wird. Diese Funktion lässt sich ebenso wie die Funktionen aus Abschnitt 9.2.8 nicht durch die sonst üblichen Funktionen ausdrücken und ist in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Statstik und in vielen Anwendungen von fundamentaler Bedeutung.
Der folgende Satz charakterisiert nun Konvergenz uneigentlicher Integrale wie in obigem Lemma durch Konvergenz von Reihen (auf hinreichende und notwendige Weise).
Satz 9.35 (Integraltest für Reihen).
Sei eine monoton fallende Funktion. Dann gilt
Insbesondere konvergiert die Reihe genau dann, wenn das uneigentliche Integral konvergiert. Dies gilt analog für Integrale der Form für .
Wir bemerken, dass auf Grund der Monotonieannahme an in obigem Satz die Eigenschaft für alle erfüllt ist nach Satz 4.31.
Beweis.
Für und einen beliebigen Zwischenpunkt gilt nach Monotonie von die Ungleichung und somit
was auch in folgendem Bild ersichtlich ist.
Nach Summation von bis erhält man mit Intervalladditivität des Riemann-Integrals
Falls das uneigentliche Integral existiert, dann folgt
Daher ist die monoton wachsende Folge nach oben beschränkt und konvergiert somit nach Satz 6.5. Insbesondere gilt auch .
Falls konvergiert, dann ist für und
Nach Lemma 9.33 ist somit das uneigentliche Integral konvergent und durch die Zahl beschränkt.
Übung 9.36 (Divergenzrate der harmonischen Reihe).
Verwenden Sie obigen Satz, um den -Test in Beispiel 7.17 zu erhalten. Imitieren Sie des Weiteren die Methodik im obigen Beweis von Satz 9.35, um die Divergenzrate
für für die harmonische Reihe zu beweisen.
Übung 9.37 (Ein oszillierendes Integral).
Entscheiden Sie für welche das uneigentliche Integral konvergiert.
Hinweis.
Für verwenden Sie am besten die Substitution für das Integral und und ziehen je nach Fall auf geeignete Weise das Leibniz-Kriterium hinzu.
9.3.2 Das Integral über unbeschränkte Funktionen
Für in und eine Funktion mit für alle definieren wir das uneigentliche Integral
falls der Grenzwert existiert.
Wie folgende Übung zeigt, steht diese Notation nicht im Widerspruch zum Riemann-Integral.
Übung 9.38 (Kompatibilität).
Sei wie oben. Angenommen ist beschränkt. Zeigen Sie, dass das uneigentliche Integral existiert und gleich dem Riemann-Integral ist, wobei man auf beliebige Weise auf den Punkt erweitert.
Für in und eine Funktion mit für alle definieren wir analog das uneigentliche Integral
Weitere uneigentliche Integrale führen wir mittels Intervalladditivität auf obige uneigentliche Integrale zurück. Wir überlassen es Interessierten, sich hier einige Möglichkeiten auszudenken, und führen stattdessen ein Beispiel vor.
Beispiel 9.40.
Wir betrachten das Integral . Dieses ist uneigentlich, da auf jeder Umgebung von unbeschränkt ist. Es gilt daher auf Grund der Definition in diesem Fall, dass
wobei beide Integrale rechts uneigentlich sind und das uneigentliche Integral per Definition genau dann existiert, wenn die beiden Integrale rechts existieren. Des Weiteren gilt
wodurch nicht existiert (und wir diesem auch nicht das Symbol oder zuweisen).
Beispiel 9.41 (Bogenlänge des Kreises).
Wir wollen nochmals die Bogenlänge des Kreises berechnen. Doch verwenden wir diesmal die Gleichung als Definition des oberen Halbkreises. Die Bogenlänge des Kreises ist demnach gegeben durch das Integral
Übung 9.43 (Absolute Konvergenz).
Sei und eine komplexwertige Funktion mit für alle . Wir nennen das uneigentliche Integral absolut konvergent, falls konvergent ist. Zeigen Sie, dass absolute Konvergenz des uneigentlichen Integrals auch die Konvergenz dieses Integrals impliziert.
Bemerkung.
Zusammenfassend haben wir bei den Definitionen in diesem Abschnitt bei jedem Problempunkt eines möglichen Riemann-Integrals einen Grenzwert verwendet, um den Integralbegriff zu erweiteren. Dies wirft nochmals die Frage auf, ob es nicht vielleicht einen Integralbegriff gibt, der diese und auch andere bereits erwähnte Probleme des Riemann-Integrals auf natürliche Art und Weise löst. Diese Frage wird im zweiten Studienjahr des Mathematikstudiums mit der Theorie des Lebesgue-Integrals in der Vorlesung „Mass und Integral“ positiv beantwortet.
9.3.3 Die Gamma-Funktion
Die Gamma-Funktion ist bei durch das konvergente uneigentliche Integral
definiert. Für ist dies aus zwei Gründen ein uneigentliches Integral und wir müssen die Integrationsgrenzen und getrennt untersuchen. Für und gilt jedoch
Wir setzen und erhalten
wobei das Integral rechts (für alle ) ein eigentliches Riemann-Integral darstellt. Für erhalten wir
Um die Konvergenz von zu zeigen, wollen wir den Integraltest für Reihen in Satz 9.35 verwenden. Die erste Vorraussetzung des Integraltests ist erfüllt, da die Funktion nicht-negativ ist. Die zweite Vorraussetzung ist, dass monoton abnehmend sein soll. Wir berechnen daher die Ableitung und sehen, dass
Da für alle , sehen wir, dass diese Vorraussetzung zumindest für erfüllt ist. Es folgt daher, dass das Integral genau dann konvergiert wenn
konvergiert, was aber nach dem Quotientenkriterium in Korollar 7.32 (oder dem Wurzelkriterium in Korollar 7.30) für Reihen in der Tat zutrifft.
Addieren wir die beiden Integrale wieder und verwenden wir die Definition in (9.6) so erhalten wir, dass für alle wohldefiniert ist und
erfüllt.
Oft wird die Gamma-Funktion als eine Erweiterung der Fakultätsfunktion auf bezeichnet. In der Tat gilt für alle
was wir hier noch beweisen möchten. Für gilt
und somit folgt nach (9.7) und Induktion
Wir werden in der Fortsetzung dieser Vorlesung weitere Eigenschaften der Gamma-Funktion nachweisen können. Beispielsweise stellt sich heraus, dass die Gamma-Funktion glatt ist. Wir können dies hier aber nicht zeigen, da in (9.6) durch ein sogenanntes Parameterintegral definiert ist. Auch können wir den Wert
mit den uns bis jetzt bekannten Integrationsmethoden nicht berechnen, werden jedoch später mittels einem zweidimensionalen Integral sehen, dass dieser ist.
Die Gamma-Funktion enthüllt ihre wahre Schönheit erst wenn man komplexe Parameter erlaubt. Wir laden Interessierte ein, diese Funktion in folgender Übung zu konstruieren.
Übung 9.44 (Challenge).
Für mit definiert man
(a) Zeigen Sie, dass für alle mit konvergiert.
(b) Zeigen Sie, dass für alle mit konvergiert.
(c) Zeigen Sie (9.7) für alle mit .
(d) Verwenden Sie (9.7) um rekursiv für mit , oder , …, zu definieren, so dass anschliessend für alle definiert ist und (9.7) auf dem ganzen Definitionsbereich erfüllt.
Hinweis: Sie können in (a) und (b) Übung 9.43 verwenden.
Hilbert (1862–1943) verwendete in seinem Artikel [Hil93] von 1893 uneigentliche Integrale im Stile der Gamma-Funktion, um zu beweisen, dass (wie erstmals von Hermite in 1873 bewiesen) und (wie erstmals von Lindemann 1882 bewiesen) transzendent sind. Wir bemerken dabei, dass sich die blosse Irrationalität dieser Zahlen deutlich einfacher beweisen lässt – für gibt es hierzu eine Übung in Abschnitt 7.9.2 und für eine Übung in Abschnitt 9.8.2. Transzendenzbeweise sind jedoch im Allgemeinen deutlich schwieriger. Wie schwierige derartige Aussagen tatsächlich sind, illustriert vielleicht die Tatsache, dass immer noch nicht bekannt ist, ob eine transzendente Zahl ist oder nicht. Hilbert’s Beweis der Transzendenz von und ist mit den uns bisher bekannten Hilfsmitteln allerdings gut lesbar, weswegen wir Ihnen einen Blick auf diese Lektüre und die damit verbundene Zeitreise empfehlen möchten.