="http://www.w3.org/2000/svg" viewBox="0 0 512 512">

9.3 Das uneigentliche Integral

Wir wollen nun den Begriff des Riemann-Integrals auf mehrere Arten erweitern.

9.3.1 Uneigentliche Integrationsgrenzen

Für a und eine komplexwertige Funktion f : [a,) mit f|[a,b] R([a,b]) für alle b > a definieren wir das uneigentliche Integral

af (x)d x = lim babf (x)d x,

falls der Grenzwert existiert. Weiter sagen wir, dass das uneigentliche Integral konvergiert, falls der obige Grenzwert in existiert. Ansonsten nennen wir das uneigentliche Integral af(x)d x divergent.

Beispiel 9.29.

Es gilt

0 1 1 + x2 d x = lim b0b 1 1 + x2 d x = lim barctan (b) = π 2.

Beispiel 9.30.

Es gilt für α

1xα d x = { 1 α1 falls α > 1 + falls α 1.

Insbesondere ist das obige uneigentliche Integral genau dann konvergent, wenn α > 1.

In der Tat ist

1bxα d x = { [ 1 α+1xα+1] 1b = 1 α+1bα+1 1 α+1falls α1 [log (x)]1b = log (b) falls α = 1

und

lim b 1 α + 1bα+1 = { + falls α < 1 0 falls α > 1 lim blog (b) = +.

Übung 9.31.

Berechnen Sie 1xα d x auch für α .

Uneigentliche Integrale der Form bf (x)d x sind ähnlich definiert. Ebenso definieren wir für eine komplexwertige Funktion f : mit f|[a,b] R([a,b]) für alle a < b das uneigentliche Integral

f (x)d x =0f (x)d x +0f (x)d x = lim aa0f (x)d x + lim b0bf (x)d x,

falls beide Grenzwerte existieren. Wir möchten dazu anmerken, dass man sich bewusst dazu entscheidet, die Bewegungen gegen respektive + komplett getrennt zu behandeln. Alles andere würde zu komischen Phänomenen führen, wie folgendes Beispiel zeigt.

Beispiel 9.32.

Das uneigentliche Integral xd x existiert nicht, da 0xd x sowie 0xd x nicht existieren. Wir bemerken aber, dass der Grenzwert lim c ccxd x = lim c0 = 0 existieren würde aber lim c cc+1xd x = lim c1 2((c + 1)2 c2) = wäre.

Wie wir nun besprechen wollen, haben uneigentlichen Integrale oft sehr enge Beziehungen zu Reihen. Genau wie bei Folgen und Reihen (siehe Satz 6.5 und Proposition 7.11) ist es bei uneigentlichen Integralen nicht-negativer Funktionen einfacher über Konvergenz zu entscheiden.

Lemma 9.33.

Sei a und f : [a, ) 0 eine nicht-negative Funktion mit f R([a,b]) für alle b > a. Entweder konvergiert das uneigentliche Integral über f oder es divergiert gegen Unendlich. In beiden Fällen gilt

af (x)d x = sup {abf (x)d xb > a}.

Beweis.

Die Funktion b [a,) abf (x)d x ist monoton wachsend. Wenn das Supremum S = sup { abf (x)d xb > a} Unendlich ist, dann divergiert das uneigentliche Integral auf Grund der Monotonie gegen Unendlich. Wenn S < ist, dann gibt es zu 𝜀 > 0 ein B > a mit

S 𝜀 aBf (x)d x S.

Insbesondere gilt für b > B auf Grund der Monotonie und der Definition von S dieselbe Ungleichung auch für abf (x)d x. Dies beweist die Konvergenz des uneigentlichen Integrals.   

Beispiel 9.34 (Gaussche Glockenkurve).

Wir wollen das uneigentliche Integral

e x2 d x =1 e x2 d x +11 e x2 d x +1e x2 d x

besprechen, wobei die Funktion x e x2 die Gaussche Glockenkurve genannt wird. Auf Grund von Lemma 9.33 reicht es aus eine Majorantenfunktion zu finden, die ein konvergentes uneigentliches Integral definiert. Für x [1, ) gilt zum Beispiel x2 x und daher e x2 e x, woraus

1e x2 d x 1e x d x <

folgt. Dies zeigt die Konvergenz des zweiten uneigentlichen Integrals, auf Grund der Symmetrie der Funktion ist daher auch e x2 d x konvergent. Wir werden den Wert I dieses Integral erst im zweiten Semester berechnen können. Doch wollen wir noch erwähnen, dass die streng monoton wachsende Funktion

Φ : x I1x e t2 d t

die Verteilungsfunktion der Normalverteilung mit Erwartungswert 0 und Standardabweichung 1 2 genannt wird. Diese Funktion lässt sich ebenso wie die Funktionen aus Abschnitt 9.2.8 nicht durch die sonst üblichen Funktionen ausdrücken und ist in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Statstik und in vielen Anwendungen von fundamentaler Bedeutung.

Der folgende Satz charakterisiert nun Konvergenz uneigentlicher Integrale wie in obigem Lemma durch Konvergenz von Reihen (auf hinreichende und notwendige Weise).

Satz 9.35 (Integraltest für Reihen).

Sei f : [1,) 0 eine monoton fallende Funktion. Dann gilt

n=2f(n) 1f(x)d x n=1f(n).

Insbesondere konvergiert die Reihe n=1f(n) genau dann, wenn das uneigentliche Integral 1f(x)d x konvergiert. Dies gilt analog für Integrale der Form  Nf(x)d x für N .

Wir bemerken, dass auf Grund der Monotonieannahme an f in obigem Satz die Eigenschaft f|[1,b] R([1,b]) für alle b > 1 erfüllt ist nach Satz 4.31.

Beweis.

Für n und einen beliebigen Zwischenpunkt x [n,n + 1] gilt nach Monotonie von f die Ungleichung f(n + 1) f(x) f(n) und somit

f (n + 1) nn+1f (x)d x f (n),

was auch in folgendem Bild ersichtlich ist.

PIC

Nach Summation von 1 bis n erhält man mit Intervalladditivität des Riemann-Integrals

=2n+1f () = k=1nf (k + 1) 1n+1f (x)d x k=1nf (k).

Falls das uneigentliche Integral 1f(x)d x existiert, dann folgt

=2n+1f () 1n+1f (x)d x 1f (x)d x.

Daher ist die monoton wachsende Folge ( =2n+1f ())n nach oben beschränkt und konvergiert somit nach Satz 6.5. Insbesondere gilt auch =2f() 1f(x)d x.

Falls k=1f(k) konvergiert, dann ist für b > 1 und n = b

1bf (x)d x 1n+1f (x)d x k=1f (k).

Nach Lemma 9.33 ist somit das uneigentliche Integral 1f(x)d x konvergent und durch die Zahl k=1f(k) beschränkt.   

Übung 9.36 (Divergenzrate der harmonischen Reihe).

Verwenden Sie obigen Satz, um den p-Test in Beispiel 7.17 zu erhalten. Imitieren Sie des Weiteren die Methodik im obigen Beweis von Satz 9.35, um die Divergenzrate

n=1N 1 n = log (N ) + O (1)

für N für die harmonische Reihe zu beweisen.

Übung 9.37 (Ein oszillierendes Integral).

Entscheiden Sie für welche p 0 das uneigentliche Integral 0xsin (xp)d x konvergiert.

Hinweis.

Für p > 0 verwenden Sie am besten die Substitution u = xp für das Integral  1bxsin (xp)d x und b > 1 und ziehen je nach Fall auf geeignete Weise das Leibniz-Kriterium hinzu.

9.3.2 Das Integral über unbeschränkte Funktionen

Für a < B in und eine Funktion f : [a,B) mit f|[a,b] R([a,b]) für alle b (a, B) definieren wir das uneigentliche Integral

aBf (x)d x = lim bBabf (x)d x,

falls der Grenzwert existiert.

Wie folgende Übung zeigt, steht diese Notation nicht im Widerspruch zum Riemann-Integral.

Übung 9.38 (Kompatibilität).

Sei f : [a, B) wie oben. Angenommen f ist beschränkt. Zeigen Sie, dass das uneigentliche Integral aBf (x)d x existiert und gleich dem Riemann-Integral aBf (x)d x ist, wobei man f auf beliebige Weise auf den Punkt B erweitert.

Für A < b in und f : (A, b] eine Funktion mit f|[a,b] R([a,b]) für alle a (A, b] definieren wir analog das uneigentliche Integral

Abf (x)d x = lim aAabf (x)d x.

Beispiel 9.39.

Wir berechnen 01 log (x)d x mittels

01 log (x)d x = lim a0a1 log (x)d x = lim a0 [xlog (x) x]a1 = lim a0 (log (1) 1 alog (a) + a) = 1

nach Beispiel 9.15 und Beispiel 6.44.

Weitere uneigentliche Integrale führen wir mittels Intervalladditivität auf obige uneigentliche Integrale zurück. Wir überlassen es Interessierten, sich hier einige Möglichkeiten auszudenken, und führen stattdessen ein Beispiel vor.

Beispiel 9.40.

Wir betrachten das Integral 11 1 x d x. Dieses ist uneigentlich, da x1 x auf jeder Umgebung von 0 unbeschränkt ist. Es gilt daher auf Grund der Definition in diesem Fall, dass

11 1 xd x =10 1 xd x +01 1 xd x,

wobei beide Integrale rechts uneigentlich sind und das uneigentliche Integral 11 1 xd x per Definition genau dann existiert, wenn die beiden Integrale rechts existieren. Des Weiteren gilt

10 1 xd x = lim b01b1 xd x = lim b0 log |b| log |1| = lim b0 log |b| = 01 1 xd x = lim a0a1 1 xd x = lim a0 log (1) log (a) = +,

wodurch 11 1 x d x nicht existiert (und wir diesem auch nicht das Symbol oder zuweisen).

Beispiel 9.41 (Bogenlänge des Kreises).

Wir wollen nochmals die Bogenlänge des Kreises berechnen. Doch verwenden wir diesmal die Gleichung y = f (x) = 1 x2 als Definition des oberen Halbkreises. Die Bogenlänge des Kreises ist demnach gegeben durch das Integral

2111 + f (x)2 d x = 4011 + x2 1 x2 d x = 4lim b10b 1 1 x2 d x = 4lim b1 arcsin (b) 0 = 4π 2 = 2π.

Übung 9.42.

Berechnen Sie 01 1 x d x und 0π 2 tan (x)d x.

Übung 9.43 (Absolute Konvergenz).

Sei a und f : [a, ) eine komplexwertige Funktion mit f R([a,b]) für alle b > a. Wir nennen das uneigentliche Integral af(x)d x absolut konvergent, falls a|f(x)|d x konvergent ist. Zeigen Sie, dass absolute Konvergenz des uneigentlichen Integrals af(x)d x auch die Konvergenz dieses Integrals impliziert.

Bemerkung.

Zusammenfassend haben wir bei den Definitionen in diesem Abschnitt bei jedem Problempunkt eines möglichen Riemann-Integrals einen Grenzwert verwendet, um den Integralbegriff zu erweiteren. Dies wirft nochmals die Frage auf, ob es nicht vielleicht einen Integralbegriff gibt, der diese und auch andere bereits erwähnte Probleme des Riemann-Integrals auf natürliche Art und Weise löst. Diese Frage wird im zweiten Studienjahr des Mathematikstudiums mit der Theorie des Lebesgue-Integrals in der Vorlesung „Mass und Integral“ positiv beantwortet.

9.3.3 Die Gamma-Funktion

Die Gamma-Funktion Γ ist bei s (0,) durch das konvergente uneigentliche Integral

Γ(s) =0xs1 e x d x (9.6)

definiert. Für s (0,1) ist dies aus zwei Gründen ein uneigentliches Integral und wir müssen die Integrationsgrenzen A = 0 und B = getrennt untersuchen. Für a > 0 und b > a gilt jedoch

abxs1 e x d x = 1 s [xs e x] ab + 1 sabxs e x d x.

Wir setzen b = 1 und erhalten

01xs1 e x d x = lim a0 (1 s [xs e x] a1 + 1 sa1xs e x d x) = 1 s e + 1 s01xs e x d x,

wobei das Integral rechts (für alle s (0,)) ein eigentliches Riemann-Integral darstellt. Für a = 1 erhalten wir

1xs1 e x d x = lim b (1 s [xs e x] 1b + 1 s1bxs e x d x) = 1 s e + 1 s1xs e x d x.

Um die Konvergenz von  1xs e x d x zu zeigen, wollen wir den Integraltest für Reihen in Satz 9.35 verwenden. Die erste Vorraussetzung des Integraltests ist erfüllt, da die Funktion f(x) = xs e x nicht-negativ ist. Die zweite Vorraussetzung ist, dass f(x) monoton abnehmend sein soll. Wir berechnen daher die Ableitung und sehen, dass

f(x) = sxs1 e x xs e x.

Da f (x) < 0 für alle x > s, sehen wir, dass diese Vorraussetzung zumindest für x N = s + 1 erfüllt ist. Es folgt daher, dass das Integral  Nxs e x d x genau dann konvergiert wenn

n=Nns e n <

konvergiert, was aber nach dem Quotientenkriterium in Korollar 7.32 (oder dem Wurzelkriterium in Korollar 7.30) für Reihen in der Tat zutrifft.

Addieren wir die beiden Integrale wieder und verwenden wir die Definition in (9.6) so erhalten wir, dass Γ(s) für alle s (0, ) wohldefiniert ist und

Γ(s + 1) = sΓ(s) (9.7)

erfüllt.

Oft wird die Gamma-Funktion als eine Erweiterung der Fakultätsfunktion auf bezeichnet. In der Tat gilt für alle n

Γ(n + 1) = n!,

was wir hier noch beweisen möchten. Für n = 0 gilt

Γ (1) =0e x d x = lim b [e x] 0b = 1

und somit folgt nach (9.7) und Induktion

Γ(n + 1) = nΓ(n) = n(n 1)Γ(n 1) = = n!Γ(1) = n!.

Wir werden in der Fortsetzung dieser Vorlesung weitere Eigenschaften der Gamma-Funktion nachweisen können. Beispielsweise stellt sich heraus, dass die Gamma-Funktion glatt ist. Wir können dies hier aber nicht zeigen, da Γ in (9.6) durch ein sogenanntes Parameterintegral definiert ist. Auch können wir den Wert

Γ(1 2) =0 1 xe x d x = lim 𝜀0 lim b𝜀b 1 xe x d x = lim 𝜀0 lim b2𝜀b e u2 d u = 20e u2 d u =e u2 d u

mit den uns bis jetzt bekannten Integrationsmethoden nicht berechnen, werden jedoch später mittels einem zweidimensionalen Integral sehen, dass dieser π ist.

Die Gamma-Funktion enthüllt ihre wahre Schönheit erst wenn man komplexe Parameter z {0,1,2, } erlaubt. Wir laden Interessierte ein, diese Funktion in folgender Übung zu konstruieren.

Übung 9.44 (Challenge).

Für z mit (z) > 0 definiert man

Γ(z) =0xz1 e x d x. (9.8)

(a) Zeigen Sie, dass  01xz1 e x d x für alle z mit (z) > 0 konvergiert.

(b) Zeigen Sie, dass  1xz1 e x d x für alle z mit (z) > 0 konvergiert.

(c) Zeigen Sie (9.7) für alle z mit (z) > 0.

(d) Verwenden Sie (9.7) um rekursiv Γ(z) für z {0,1,2, } mit (z) > 1, oder (z) > 2, …, zu definieren, so dass anschliessend Γ(z) für alle z {0,1,2, } definiert ist und (9.7) auf dem ganzen Definitionsbereich erfüllt.

Hinweis: Sie können in (a) und (b) Übung 9.43 verwenden.

Hilbert (1862–1943) verwendete in seinem Artikel [Hil93] von 1893 uneigentliche Integrale im Stile der Gamma-Funktion, um zu beweisen, dass e (wie erstmals von Hermite in 1873 bewiesen) und π (wie erstmals von Lindemann 1882 bewiesen) transzendent sind. Wir bemerken dabei, dass sich die blosse Irrationalität dieser Zahlen deutlich einfacher beweisen lässt – für e gibt es hierzu eine Übung in Abschnitt 7.9.2 und für π eine Übung in Abschnitt 9.8.2. Transzendenzbeweise sind jedoch im Allgemeinen deutlich schwieriger. Wie schwierige derartige Aussagen tatsächlich sind, illustriert vielleicht die Tatsache, dass immer noch nicht bekannt ist, ob e +π eine transzendente Zahl ist oder nicht. Hilbert’s Beweis der Transzendenz von e und π ist mit den uns bisher bekannten Hilfsmitteln allerdings gut lesbar, weswegen wir Ihnen einen Blick auf diese Lektüre und die damit verbundene Zeitreise empfehlen möchten.

License

Analysis I (Kap. 1-9) Copyright © by Manfred Einsiedler. All Rights Reserved.

}