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4.3 Erste Integrationsgesetze

Wie schon zuvor betrachten wir hier Funktionen und den Begriff des Riemann-Integrals auf einem kompakten Intervall [a, b] für a < b. Wir möchten nun Eigenschaften des Riemann-Integrals nachweisen, die zu den Eigenschaften des Integrals von Treppenfunktionen (genauer Lemma 4.7 und Lemma 4.8) analog sind.

4.3.1 Linearität

Satz 4.19 (Linearität des Riemann-Integrals).

Die Menge

([a,b]) = {f ([a,b])f ist Riemann-integrierbar}

der Riemann-integrierbaren Funktionen auf [a,b] bildet einen Unterraum von ([a,b]) und das Integral ist eine lineare Funktion auf ([a,b]). Das heisst, für f1,f2,f ([a,b]) und s ist f1 + f2 , sf ([a,b]) und

ab (f 1 + f2) (x)d x =abf 1 (x)d x +abf 2 (x)d x, ab (sf ) (x)d x = sabf (x)d x.

Im Beweis werden wir folgendes allgemeines Prinzip mehrmals anwenden. Falls A B nicht-leere Teilmengen von sind und B von oben beschränkt ist, dann ist sup (B) eine obere Schranke von A und daher sup (A) sup (B) (nach Definition des Supremums). Analog gilt inf (A) inf (B), falls B von unten beschränkt ist.

Beweis.

Aus Übung 4.14 folgt die Inklusion 𝒯 ([a, b]) ([a,b]), sodass ([a, b]) insbesondere nicht-leer ist.

Sei nun f ([a,b]) und s 0. Für Treppenfunktionen u,o 𝒯([a,b]) mit u f o gilt somit su sf so. Mit s abu (x)d x = absu (x)d x und s abo (x)d x = abso (x)d x nach Lemma 4.7 folgt s𝒰(f) 𝒰(sf) und s𝒪(f) 𝒪(sf). In der Tat ist

s𝒰(f) = {sabu (x)d xu 𝒯 ( [a,b]),u f } = {absu (x)d xu 𝒯 ( [a,b]),su sf }

eine Teilmenge von 𝒰(sf) und analog für s𝒪(f) 𝒪(sf). Aus der Bemerkung vor dem Beweis folgt also

sup (s𝒰(f)) sup (𝒰(sf)) = I̲(sf) I¯ (sf ) = inf (𝒪 (sf )) inf (s𝒪(f)).

Nach Proposition 2.62 ist jedoch

sI̲(f) = ssup (𝒰(f)) = sup (s𝒰(f)) I̲ (sf ) I¯ (sf ) inf (s𝒪 (f )) = sinf (𝒪 (f )) = sI¯ (f ).

Da aber f Riemann-integrierbar ist und somit I̲ (f ) = I¯ (f ) = abf (x)d x erfüllt ist, gilt in obiger Abschätzung (wegen Gleichheit der kleinsten und der grössten Zahl) überall Gleichheit und wir schliessen

I̲ (sf ) = I¯ (sf ) = sabf (x)d x.

Damit ist sf Riemann-integrierbar mit Integral s abf (x)d x. Ist s < 0, so kehren sich in obigem alle Abschätzungen, die s beinhalten, um (zum Beispiel gilt so sf su) und man erhält vollkommen analog die gewünschte Aussage (siehe Übung 4.20).

Wir zeigen nun Additivität des Integrals. Seien also f1 , f2 ([a,b]) zwei Riemann-integrierbare Funktionen auf [a,b] und u1 , u2 , o1,o2 𝒯([a,b]) Treppenfunktionen mit

u1 f1 o1, u2 f2 o2.

Dann ist auch u1 + u2 f1 + f2 o1 + o2, was gemäss Lemma 4.7

𝒰(f1) + 𝒰(f2) 𝒰(f1 + f2), 𝒪(f1) + 𝒪(f2) 𝒪(f1 + f2) (4.3)

zur Folge hat. Des Weiteren gilt nach Proposition 2.63, dass

sup (𝒰(f1) + 𝒰(f2)) = sup (𝒰(f1)) + sup (𝒰(f2)) = I̲(f1) + I̲(f2) =abf 1 (x)d x +abf 2 (x)d x

nach Riemann-Integrierbarkeit von f1 und f2 und ebenso

inf (𝒪(f1) + 𝒪(f2)) = inf (𝒪(f1)) + inf (𝒪(f2)) = I¯ (f1) + I¯ (f2) =abf 1 (x)d x +abf 2 (x)d x.

Gemeinsam mit der Bemerkung vor dem Beweis ergibt sich nun wiederum

abf 1 (x)d x +abf 2 (x)d x = sup (𝒰(f1) + 𝒰(f2)) sup (𝒰(f1 + f2)) = I̲ (f1 + f2) I¯ (f1 + f2) = inf (𝒪(f1 + f2)) inf (𝒪(f1)) + inf (𝒪(f2)) =abf 1 (x)d x +abf 2 (x)d x

Dies zeigt

I̲ (f1 + f2) = I¯ (f1 + f2) =abf 1 (x)d x +abf 2 (x)d x

und insbesondere Riemann-Integrierbarkeit von f1 + f2 . Wir haben also die Linearität des Riemann-Integrals bewiesen.   

Übung 4.20 (Negative Vielfache).

Formulieren Sie den Fall s < 0 im obigen Beweis aus.

Übung 4.21.

Zeigen Sie, dass Gleichheit in (4.3) (siehe obigen Beweis) nicht erfüllt sein muss.

Hinweis.

Verwenden Sie die Polynome f1 (x) = x2 und f2 (x) = x2 und Übung 4.15.

Übung 4.22 (Ändern bei einem Punkt).

Sei f ([a, b]) Riemann-integrierbar. Sei f ([a, b]) eine Funktion, die erhalten wurde, indem der Wert von f an nur einem Punkt in [a, b] abgeändert wurde. Zeigen Sie, dass f Riemann-integrierbar ist und das gleiche Riemann-Integral wie f hat.

Hinweis.

Verwenden Sie Satz 4.19 und für x0 [a,b] und c die Treppenfunktion t 𝒯([a,b]) gegeben durch

t(x) = { cfalls x = x0 0 falls xx0

für x [a, b].

4.3.2 Monotonie

Für f ([a,b]) definieren wir Funktionen f+,f,|f|([a,b]) durch

f+(x) = max {0,f(x)},f(x) = max {0,f(x)},|f|(x) = max {f(x),f(x)} = |f(x)|

für x [a, b]. Die Funktion f+ ist der Positivteil von f, f ist der Negativteil von f und |f| ist der Absolutbetrag von f.

Übung 4.23 (Eigenschaften vom Positiv- und Negativteil).

Sei f ([a,b]). Zeigen Sie die Gleichungen

f = f+ f, |f | = f+ + f,f+ = |f| + f 2 ,f = |f| f 2 .

Satz 4.24 (Monotonie des Riemann-Integrals).

Für zwei Funktionen f1,f2 ([a,b]) gelten folgende Monotonie-Eigenschaften des Riemann-Integrals:

(i)
Falls f1 0 ist, so gilt abf1 (x)d x 0.
(ii)
Falls f1 f2 ist, so gilt abf1 (x)d x abf2 (x)d x.
(iii)
Die Funktion |f1|ist Riemann-integrierbar auf [a,b] und es gilt die Dreiecksungleichung |abf 1 (x)d x | ab|f 1 (x)|d x.

Wir möchten kurz erklären, wieso sich die Ungleichung in Punkt (iii) des obigen Satzes Dreiecksungleichung nennt. Tatsächlich sieht man kein Dreieck, im Gegensatz zur Dreiecksungleichung

|z1 + z2 | |z1| + |z2|

für z1 , z2 , die geometrisch direkt begründet werden kann (wie?). Es gilt auch die verallgemeinerte Dreiecksungleichung

| i=1nz i | i=1n|z i|

für z1 , , zn , wie man direkt aus der Dreiecksungleichung und vollständiger Induktion folgern kann (siehe Übung 3.4). Die Aussage (iii) in Satz 4.24 ist eine „kontinuierliche Version“ der verallgemeinerten Dreiecksungleichung, weswegen wir von der Dreiecksungleichung für das Riemann-Integral sprechen.

PIC

     Figur 4.3: Wir sehen hier den Graphen einer Funktion f links und der entsprechenden Funkton |f| rechts. Dabei stellt abf (x)d x einen Nettoflächeninhalt und ab|f (x)|d x einen Flächeninhalt dar.     

Beweis.

Für f1 0 wie in (i) ist die konstante Funktion u = 0 eine Treppenfunktion mit u f1 und

0 =abu (x)d x sup (𝒰 (f 1)) = I̲ (f1) =abf (x)d x

folgt.

Falls f1 f2 wie in (ii) gilt, so ist f2 f1 0 und

abf 2 (x)d x abf 1 (x)d x =abf 2 (x) f1 (x)d x 0

nach Linearität des Riemann-Integrals (Satz 4.19) und Teil (i). Dies zeigt (ii).

Für (iii) wollen wir zuerst zeigen, dass für ein f ([a, b]) auch f+ Riemann-integrierbar ist. Dazu bemerken wir zuerst, dass für s, t die Ungleichung s t impliziert, dass

s+ = max {0,s} t+ = max {0,t} und  t+ s+ t s.

Dies ergibt sich aus der Unterscheidung der Fälle s t 0, s 0 < t und 0 < s t. Falls s t 0 dann ist s+ = t+ = 0 und t+ s+ = 0 t s. Falls s 0 < t dann ist s+ = 0, t+ = t, und damit t+ s+ = t t s. Falls 0 < s t, dann ist s+ = s, t+ = t und t+ s+ = t s. Da f Riemann-integrierbar ist, gibt es nach Proposition 4.12 (iii) zu jedem 𝜀 > 0 zwei Treppenfunktion u,o 𝒯([a,b]) mit u f o und ab(o u)(x)d x < 𝜀. Verknüpfen wir diese mit der Funktion t t+ , so ergibt sich

u+ f+ o+,o+ u+ o u

und daher nach (ii) auch

ab (o+ u+) (x)d x ab (o u) (x)d x < 𝜀.

Allerdings sind u+,o+ wieder Treppenfunktionen. Nach der dritten Charakterisierung in Proposition 4.12 ergibt sich somit, dass f+ Riemann-integrierbar ist, da 𝜀 > 0 beliebig war.

Mittels Satz 4.19 erhalten wir, dass |f| = 2f+ f auch Riemann-integrierbar ist. Aus f |f| und f |f| folgt aus (ii) nun

abf (x)d x ab|f (x)|d x,ab f (x)d x ab|f (x)|d x,

was zur Dreiecksungleichung äquivalent ist.   

Übung 4.25 (Modifizierte Dirichlet- oder Riemann-Funktion).

Zeigen Sie, dass die Funktion

g : [0,1] [0,1],x { 0falls x irrational 1 qfalls x = p q mit p,q teilerfremd

Riemann-integrierbar ist. Als Hilfestellung stellen wir den Graphen dar, aber überlassen Ihnen die Interpretation des Graphen und die sich daraus ergebenden Überlegungen.

4.3.3 Teilintervalle

Es seien a < b < c drei reelle Zahlen. Dann definiert eine Funktion f auf dem Intervall [a,c] die Funktion f1 = f|[a,b] auf [a, b] und die Funktion f2 = f|[b,c] auf [b, c]. Dabei gilt f1 (b) = f(b) = f2(b). Umgekehrt können wir Funktionen f1 ([a,b]) und f2 ([b,c]) mit f1 (b) = f2 (b) verwenden, um eine Funktion f ([a,c]) durch

f (x) = { f1(x)falls x [a,b] f2(x)falls x (b,c]

für x [a, c] zu definieren. In diesem Sinne entspricht die Funktion f ([a,c]) zwei Funktionen f1 ([a,b]), f2 ([b, c]) mit f1 (b) = f2 (b).

Satz 4.26 (Additionseigenschaft bezüglich Intervallen).

Unter Verwendung obiger Notation gilt, dass f ([a, c]) genau dann Riemann-integrierbar ist, wenn f1 und f2 Riemann-integrierbar sind. In diesem Fall ist

acf (x)d x =abf 1 (x)d x +bcf 2 (x)d x.

Beweis.

Wir verifizieren zuerst die behauptete Formel für Treppenfunktionen. Dazu betrachten wir eine Treppenfunktion t auf [a, c] und eine Zerlegung in Konstanzintervalle von t

= {a = x0 < x1 < < xn = c}.

Dabei dürfen wir wegen Lemma 4.5 ohne Beschränkung der Allgemeinheit annehmen, dass xm = b für ein m {1, ,n 1}. Für k {1, ,n} sei ck der Konstanzwert von t auf (xk1 , xk). Dann gilt

act(x)d x = k=1nc kΔxk (4.4) = k=1mc kΔxk + k=m+1nc kΔxk =abt| [a,b] (x)d x +bct| [b,c] (x)d x (4.5)

Sei f ([a,c]) eine Funktion und definiere f1 = f|[a,b], f2 = f|[b,c] . Gegeben u 𝒯 ([a, c]) mit u f kann man ebenso u1 = u|[a,b], u2 = u|[b,c] definieren. Es gilt u1 f1 und u2 f2. Wegen Gleichung (4.4) erhalten wir, dass

acu (x)d x =abu 1 (x)d x +bcu 2 (x)d x, (4.6)

was wiederum 𝒰(f) 𝒰(f1) + 𝒰(f2) zur Folge hat. Umgekehrt kann man, gegeben Treppenfunktionen u1 , u2 mit u1 f1 , u2 f2 eine Treppenfunktion u auf [a, c] definieren, die ebenso u f und Gleichung (4.6) erfüllt. Wegen Lemma 4.5 spielt der Funktionswert einer Treppenfunktion bei einem einzelnen Wert keine Rolle. Deswegen können wir beispielsweise die Funktion u definiert durch u(x) = u1(x) für x [a, b) und u(x) = u2(x) für x [b, c] verwenden. Dadurch ist

𝒰(f) = 𝒰(f1) + 𝒰(f2)

und wegen der Additionseigenschaft des Supremums in Proposition 2.63 gilt

I̲(f) = I̲(f1) + I̲(f2). (4.7)

Analog zeigt man, dass

I¯ (f ) = I¯ (f1) + I¯ (f2) . (4.8)

Ist nun f Riemann-integrierbar, dann ist

I̲ (f1) + I̲ (f2) = I̲ (f ) = I¯ (f ) = I¯ (f1) + I¯ (f2) I¯ (f1) + I̲ (f2) I̲ (f1) + I̲ (f2) .

Überall in dieser Kette von Ungleichungen gilt also Gleichheit. Somit ist I¯ (f1 )= I ̲ (f1 ) und dadurch auch I ¯ (f2 ) = I̲ (f2). Das heisst, dass f1 und f2 Riemann-integrierbar sind und Gleichung (4.7) wird zur gewünschten Additionseigenschaft für das Riemann-Integral.

Falls f1 , f2 Riemann-integrierbar sind, dann gilt I¯ (f1) = I̲ (f1) und I ¯ (f2 ) = I̲ (f2). Dies impliziert gemeinsam mit den Gleichungen (4.7), (4.8) auch I̲ (f ) = I¯ (f ) und die Additionseigenschaft.   

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall mit a < b. Ist f eine Funktion, die auf einer grösseren Menge als [a,b] definiert ist, so werden wir anstelle von abf|[a,b] d x trotzdem meist abfd x schreiben, wenn f|[a,b] Riemann-integrierbar ist. Auch definieren wir die folgende Erweiterung des Riemann-Integrals

bafd x = abfd xundaafd x = 0. (4.9)

Diese Definition vereinfacht die Notation und macht auf Grund der Aussage in folgender Übung Sinn.

Wichtige Übung 4.27 (Intervalladditivität).

Sei I = [a0,b0] für a0 < b0 ein kompaktes Intervall und sei f (I). Zeigen Sie die Additionseigenschaft in Satz 4.26 für alle a,b,c I.

Lösung.

Wir unterscheiden Fälle abhängig von der Anordnung der Punkte a, b, c im Intervall I und zeigen jeweils, dass

acfd x =abfd x +bcfd x. (4.10)

gilt wie gewünscht.

1.
Angenommen a < b < c. Dann ist (4.10) genau die Additionseigenschaft aus Satz 4.26.
2.
Angenommen a = b. Dann ist abf(x)d x = 0 per Definition und es gilt acfd x =bcfd x =abfd x +bcfd x.
3.
Falls b = c gilt, so geht man wie in vorherigem Fall vor.
4.
Angenommen es gilt b < a < c. Dann ist nach Satz 4.26 bcfd x =bafd x +acfd x.

Somit gilt nach den Definitionen vor dieser Übung

acfd x =bcfd x bafd x =bcfd x +abfd x.
5.
Die Fälle a < c < b, c < a < b, b < c < a und c < b < a werden ähnlich behandelt.

Übung 4.28 (Stetigkeit des partikulären Integrals).

Sei a < b und f : [a, b] eine Riemann-integrierbare Funktion. Zeigen Sie, dass das sogenannte partikuläre Integral

x [a,b]axf (t)d t

eine stetige reellwertige Funktion auf [a,b] definiert. Ist diese Funktion auch gleichmässig oder Lipschitz-stetig (siehe Übung 3.80 für letzteren Begriff)?

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Analysis I (Kap. 1-9) Copyright © by Manfred Einsiedler. All Rights Reserved.

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