4.2 Definition des Riemann-Integrals
Wie schon im letzten Abschnitt betrachten wir im Folgenden Funktionen auf einem kompakten Intervall zu reellen Zahlen .
Wir bemerken, dass Treppenfunktionen beschränkt sind, da sie endliche Bilder haben. Des Weiteren ist eine reellwertige Funktion genau dann beschränkt, wenn es Treppenfunktionen gibt, die erfüllen. In der Tat, falls für gewisse Treppenfunktionen gilt, dann ist von oben durch das Maximum von beschränkt und von unten durch das Minimum von beschränkt. (Wieso?). Umgekehrt können wir konstante Treppenfunktionen verwenden, falls beschränkt ist.
Definition 4.10.
Sei beschränkt. Dann definieren wir die (nicht-leere) Menge der Untersummen durch
und die (nicht-leere) Menge der Obersummen durch
Falls ein „ vernünftiges Integral“ von existiert, so sollte eine obere Schranke von und eine untere Schranke von sein. Wir wollen diese Beobachtung verwenden, um eine Definition des Integrals zu erarbeiten.
Für mit wie in Definition 4.10 gilt nach Lemma 4.8 auch
Jede Untersumme ist also kleiner gleich jeder Obersumme. Äquivalenterweise ist jede Obersumme eine obere Schranke der nicht-leeren Menge der Untersummen und daher ist
da das Supremum die kleinste obere Schranke ist. Insbesondere ist eine untere Schranke der Menge der Obersummen und es gilt
da das Infimum die grösste untere Schranke ist.
Definition 4.11 (Riemann-Integrierbarkeit).
Für eine beschränkte Funktion wird das untere Integral von und das obere Integral von genannt. Die Funktion heisst Riemann-integrierbar, oder kurz R-integrierbar, falls . In diesem Fall wird dieser gemeinsame Wert das Riemann-Integral
genannt. Des Weiteren definieren wir
Wir bezeichnen als die untere und als die obere Integrationsgrenze und die Funktion als den Integrand für das Integral .
Wir haben hier den Zugang von Darboux für die Definition des Riemann-Integrals gewählt; in Kapitel 6 werden wir aber auch kurz die sogenannten Riemann-Summen besprechen, die von Riemann als Ausgangspunkt seiner Definition verwendet wurden. Es gibt neben diesen beiden äquivalenten Definitionen noch weitere, die wir nicht besprechen werden.
Falls nicht-negativ (das heisst, es gilt ), beschränkt und Riemann-integrierbar ist, dann interpretieren wir die Zahl als den Flächeninhalt der Menge
Proposition 4.12 (Charakterisierungen der Riemann-Integrierbarkeit).
Sei beschränkt. Folgende Bedingungen sind äquivalent:
- (i)
- ist Riemann-integrierbar.
- (ii)
- Es existiert höchstens eine (oder auch genau eine) reelle Zahl , die die Ungleichungen
für alle mit erfüllt.
- (iii)
- Für alle existieren mit , so dass .
Der dritte Punkt in obiger Proposition bedeutet intuitiv, dass sich zwischen zwei Treppenfunktionen „einquetschen“ lässt, so dass deren Differenz im Mittel (geometrisch formuliert, der Flächeninhalt zwischen den beiden Treppenfunktionen) klein ist.
Beweis.
Angenommen ist Riemann-integrierbar wie in (i). Wir wollen (iii) zeigen. Sei also . Dann existiert (wegen der zweiten Charakterisierung des Supremums in Satz 2.59) ein mit und . Genauso existiert ein mit und . Da nach Voraussetzung folgt nun mit Lemma 4.7
wie in (iii) behauptet.
Angenommen ist beschränkt und erfüllt die Aussage in (iii). Wir wollen (ii) zeigen und nehmen also an, dass die Ungleichungen
für alle mit erfüllen. Für ein beliebiges können wir wegen (iii) finden, so dass die obigen Ungleichungen kombiniert zu
und
führen. Daher ist für alle und es muss gelten. Dies zeigt, dass es höchstens eine Zahl gibt, die die Ungleichung in (ii) erfüllt.
Angenommen (ii) gilt. Wir behaupten, dass die Ungleichungen dann von genau einer Zahl erfüllt werden und dass Riemann-integrierbar ist. In der Tat gilt nach Gleichung (4.2), dass
für alle mit . Das heisst, dass sowohl wie auch die Ungleichungen in (ii) erfüllen. Nach Voraussetzung (von (ii)) folgt und damit, dass Riemann-integrierbar ist.
Wir haben gesehen, dass die Implikationen (i)(iii), (iii)(ii) und (ii)(i) gelten, also folgt die Proposition.
Applet 4.13 (Unter- und Obersummen).
Wir sehen den Graph einer Funktion, können die betrachtete Zerlegung verfeinern (mit dem Punkt ) und dann (mit den Pfeilen) sowohl bessere Untersummen also auch besser Obersummen zu der Funktion finden. Können Sie die optimalen Unter- und Obersummen zu einer Zerlegung in 5 Intervalle finden? Nach einigen Experimenten sollten Sie davon überzeugt sein, dass die betrachtete Funktion Riemann-integrierbar ist – dies wird aus den späteren Sätzen dieses Kapitels recht schnell folgen.
Gut zu wissen ist, dass das Riemann-Integral eine Verallgemeinerung des Integrals von Treppenfunktionen darstellt und in diesem Sinne auch einfach vom Riemann-Integral einer Treppenfunktion gesprochen werden kann.
Übung 4.14 (Zur Wohldefiniertheit).
Sei eine Treppenfunktion. Zeigen Sie, dass Riemann-integrierbar ist und dass das Riemann-Integral von gleich dem Integral von als Treppenfunktion ist.
Übung 4.15 (Integral der Parabelfunktion).
Wiederholen Sie den Beweis von Proposition 1.1 und zeigen Sie (in der Sprache dieses Abschnitts), dass Riemann-integrierbar ist mit . Verifizieren Sie an dieser Stelle auch, dass
Die Charakterisierung (iii) in Proposition 4.12 ist unter anderem dann nützlich, wenn man von spezifischen Funktionen die Riemann-Integrierbarkeit zeigen will. Ihre Bedingungen lassen sich sogar noch abschwächen, was wir in folgender Übung diskutieren wollen.
Wichtige Übung 4.16 (Betrachten spezieller Ober- und Untersummen).
Sei eine beschränkte Funktion und sei eine Menge von Treppenfunktionen mit für alle und eine Menge von Treppenfunktionen mit für alle . Angenommen für jedes existieren und mit
Zeigen Sie, dass Riemann-integrierbar ist und
Hinweis.
Verwenden Sie den Beweis von Proposition 4.12.
Beispiel 4.17 (Eine nicht-Riemann-integrierbare Funktion).
Wir betrachten wieder die sogenannte Dirichlet-Funktion, das heisst, die charakteristische Funktion
Die Behauptung ist, dass diese nicht Riemann-integrierbar ist. Dazu berechnen wir das untere und das obere Integral von . Sei mit . Sei
eine Zerlegung in Konstanzintervalle von . Sei und mit für alle . Da dicht in ist (siehe Korollar 2.70), existiert ein mit . Wegen gilt . Somit gilt
unter Verwendung von Teleskopsummen. Damit ist das obere Integral von durch gegeben, da die Treppenfunktion mit konstantem Wert Integral hat und beliebig war. Ähnlich (siehe Übung 4.18) zeigt man, dass das untere Integral von durch gegeben ist. Somit ist nicht Riemann-integrierbar.
Es ist etwas schwierig den Graphen der Dirichlet-Funktion zu zeichnen (vor allem da für die meisten Computerprogramme alle Zahlen rational sind). Wir wollen dies aber trotzdem versuchen, wobei die verschiedenen Kreuze die Funktionswerte der ersten rationalen Zahlen andeuten.
Übung 4.18.
Zeigen Sie, dass die Funktion aus Beispiel 4.17 unteres Integral hat.
Hinweis.
Gehen Sie genauso wie im Beispiel vor und zeigen Sie dazu, dass dicht in liegt. Für letzteres kann man beispielsweise Dichtheit von zeigen.