7.8 Ziffernentwicklungen und fraktale Konstruktionen*
Für jede natürliche Zahl und jede reelle positive Zahl gibt es eine Ziffernentwicklung zur Basis . Genauer formuliert existiert ein mit und eine Folge mit , so dass
Um dies zu sehen, nehmen wir, da die Ziffernentwicklung auf ja bereits bekannt ist (siehe Übung 3.7), ohne Beschränkung der Allgemeinheit an, dass und also . Wir können dann die rekursiv definierten Zahlen
und weiter
für jedes betrachten. Insbesondere ist für alle und damit ergibt sich mittels Induktion
für alle . Daraus folgt die Fehlerabschätzung
und mit dem Grenzübergang auch (7.15) . Wir möchten an dieser Stelle erwähnen, dass obiges Vorgehen eine explizite Variante (einen Algorithmus) liefert, um die Ziffernentwicklung einer Zahl zur Basis zu finden.
In den meisten, aber nicht allen Fällen ist die Ziffernentwicklung eindeutig. Es ist zum Beispiel
Im Spezialfall kennt man dies in der Form .
Wir behaupten, dass diese Rechnung gewissermassen der einzige Grund für eine Zweideutigkeit in der Ziffernentwicklung sein kann. Angenommen
sind zwei verschiedene Ziffernentwicklungen einer Zahl zur Basis . Dann können wir, notfalls unter Hinzufügen von Nullen, annehmen, dass ist. Falls die kleinste Zahl ist mit für und , dann können wir die endliche Summe von abziehen. Daher genügt es den Fall zu betrachten. Dann gilt
was aber , und für alle impliziert (wieso?). Insbesondere sind somit die Zahlen mit nicht eindeutiger Ziffernentwicklung genau jene (rationale Zahlen), die eine abbrechende Ziffernentwicklung besitzen.
Übung 7.91 (Zahlen mit schliesslich periodischer Ziffernentwicklung).
Eine Folge für heisst periodisch, falls ein existiert mit für alle . Sie heisst schliesslich periodisch, falls es ein und ein gibt mit für alle . Wir wollen hier zeigen, dass die Zahlen mit einer schliesslich periodischen Ziffernentwicklung gerade die rationalen Zahlen sind. Sei eine reelle und eine natürliche Zahl. Unterscheiden Sie folgende Fälle:
- (a)
- Angenommen hat eine schliesslich periodische Ziffernentwicklung. Zeigen Sie, dass rational ist.
- (b)
- Zeigen Sie, dass genau dann eine abbrechende (und damit schliesslich periodische) Ziffernentwicklung hat, wenn von der Form für ist (und damit rational ist).
- (c)
- Angenommen hat keine abbrechende Ziffernentwicklung. Dann ist insbesondere die Ziffernentwicklung von eindeutig bestimmt. Sei o.B.d.A. und seien für wie in der Konstruktion der Ziffernentwicklung nach (7.15). Nach Annahme ist für teilerfremd und . Zeigen Sie nun, dass ist für alle und wenden Sie das Schubfachprinzip an.
Übung 7.92 (Mächtigkeit der reellen Zahlen).
Zeigen Sie sowie .
Hinweis.
Verwenden Sie die Ziffernentwicklung zur Basis und die Abbildung , wobei definiert sind wie in der Konstruktion nach (7.15). Bei abzählbar vielen Punkten im Definitionsbereich und Wertebereich verwenden Sie am besten eine andere Bijektion.
7.8.1 Die Cantor-Menge
Wir haben die Cantor-Menge bereits in Abschnitt 2.6.5 kurz besprochen. Wir möchten nun die Cantor-Menge neu, jetzt deutlich einfacher, mit Hilfe der Ziffernentwicklung zur Basis charakterisieren. Die Cantor-Menge ist
Übung 7.93 (Cantor-Menge in Basis 3).
Zeigen Sie, dass diese Beschreibung der Cantor-Menge zutrifft.
Insbesondere hat jeder Punkt eine eindeutig bestimmte Ziffernentwicklung zur Basis mit Ziffern in . Jede Ziffernentwicklung bestimmt einen eindeutig bestimmten Punkt .
Übung 7.94 („Gesamtlänge“ der Cantor-Menge).
Zeigen Sie, dass die charakteristische Funktion der Cantor-Menge auf Riemann-integrierbar ist und ist. In diesem Sinne hat sozusagen „ Gesamtlänge“ und hat „ Gesamtlänge“ .
7.8.2 Cantors Teufelstreppe
Wir wollen hier kurz die Cantor Funktion besprechen, die monoton wachsend und surjektiv ist. Der Graph von wird auch die Teufelstreppe genannt und ist unten im Bild dargestellt.
Die teuflische Eigenheit dieser Funktion ist die Tatsache, dass jeder Punkt in eine Umgebung besitzt, auf der konstant ist und in einem gewissen Sinne fast das ganze Intervall ausmacht (siehe Übung 7.94). Trotzdem schafft es die Cantor Funktion auf stetige Weise von zu anzuwachsen.
Wir definieren zuerst auf der Cantormenge und beschreiben dann, wie von auf ganz fortgesetzt werden kann. Wie in Abschnitt 7.8.1 beschrieben wurde, hat jede Zahl eine eindeutig bestimmte Ziffernentwicklung zur Basis mit für alle . Auf dem Punkt definieren wir nun den Wert von mittels der Ziffernentwicklung als
Das heisst, wir ersetzen jede Ziffer durch die Ziffer und ersetzen die Basis durch die Basis . Daraus folgt, dass surjektiv ist, da jede Zahl eine Ziffernentwicklung zur Basis hat und wir durch für alle und einen Punkt mit finden können.
Per Definition ist monoton wachsend. Des Weiteren ist nicht streng monoton wachsend (wieso?), aber da eine Zahl in höchstens zwei verschiedene Ziffernentwicklungen zur Basis besitzt, gibt es zu höchstens einen weiteren Punkt mit .
Um auf ganz zu definieren, finden wir zu einem Punkt den grössten Punkt links von in der Cantormenge und den kleinsten Punkt rechts von in der Cantormenge. Wir werden unten zeigen, dass die Punkte und eindeutig durch bestimmt sind und gilt. Nun definieren wir . Dies erweitert also zu einer Abbildung . Des Weiteren ist für jedes konstant in der Umgebung von (und damit auch stetig auf ).
Formal können wir dies wie folgt beschreiben. Sei
wobei die kleinste Zahl mit ist. Dann setzen wir
womit erfüllt ist. Damit gilt
wie gewünscht.
7.8.3 Peanos raumfüllende Kurve
Wir wollen nun dem ursprünglichen Argument von Peano ([Pea90]) folgend eine stetige, surjektive Funktion (die sogenannte Peano-Kurve)
konstruieren. Dabei werden wir von der Cantormenge ausgehen.
Für mit für alle definieren wir
Wir behaupten nun, dass die Abbildung surjektiv ist. Für existiert eine Ziffernentwicklung der Komponenten für zur Basis , wobei für alle und . Wir definieren nun und für alle , womit für alle gilt. Sei das Element der Cantormenge mit diesen Ziffern. Dann gilt wie gewünscht. Da beliebig war, ist surjektiv.
Beweis.
Für , und folgt , siehe folgendes Bild.
Dies zeigt die Stetigkeit von ( tut’s für jedes ). Mittels Induktion folgt damit, dass für die Abbildung
als Verknüpfung von stetigen Funktionen wiederum stetig ist (siehe Proposition 3.50 und Proposition 3.52). Für jedes sind die Abbildungen
als Verknüpfung von stetigen Funktionen stetig. Wegen
für alle , konvergieren die Abbildungen gleichmässig gegen . Damit folgt aus Satz 7.48, dass stetig ist. Analog zeigt man, dass stetig ist und somit ist auch stetig.
Wir wollen nun zu einer stetigen Abbildung fortsetzen, wobei wir stückweise affine Abbildungen auf verwenden wollen. Das heisst, für definieren wir und für setzen wir wie folgt fest. Ist der eindeutige Punkt in der Cantormenge links neben und der eindeutige Punkt in der Cantormenge rechts neben wie in Abschnitt 7.8.2, so setzen wir und
unter Verwendung von .
Beweis.
Da surjektiv ist und gilt, ist auch surjektiv. Daher müssen wir nur noch die Stetigkeit von überprüfen.
Für Punkte, die nicht in liegen, ist dies einfacher zu sehen. Intuitiv ausgedrückt liegt dies daran, dass die Funktionen und auf dem Komplement von „lokal konstant“ sind. Nun genauer. Sei also und seien wie oben. Dann gilt , wie in Abschnitt 7.8.2 erklärt wurde. Für alle erfüllen und dieselbe Rolle für wie für , das heisst und . Damit ist stetig auf dem Intervall . Es folgt die Stetigkeit von bei .
Sei nun . Falls ein „rechter Endpunkt“ von ist, also von der Form für ein ist, dann gilt
für alle . Daraus folgt gemeinsam mit die rechtsseitige Stetigkeit von bei .
Sei also nun kein rechter Endpunkt von , womit eine streng monoton fallende Folge in existiert, die gegen konvergiert. Sei , dann gibt es wegen der Stetigkeit von ein , so dass für alle
gilt. Weiter gibt es ein . Für unterscheiden wir zwei Fälle. Wenn in liegt, gilt . Wenn nicht in liegt, dann gilt und
Somit gilt nun für alle und da beliebig war, ist rechsseitig stetig bei . Das Argument für die linksseitige Stetigkeit ist analog.
Bemerkung (Approximative Darstellung der Peano-Kurve).
Auf Grund der Surjektivität der Kurve macht es wenig Sinn, diese darstellen zu wollen. Stattdessen stellt man eine Approximation der Peano-Kurve dar. Für setzt man
für alle und erweitert anschliessend die Funktion zu einer stetigen Funktion in Analogie zu (7.17) . Die Funktionenfolge konvergiert, wie man zeigen kann, gleichmässig gegen .
Wir bemerken noch, dass eine stetige, surjektive Funktion nie injektiv sein kann. Dies ist eine Manifestation der Tatsache, dass und geometrisch verschiedene Objekte sind. Aussagen dieser Form sind Teil der (algebraischen) Topologie, doch der vorliegende konkrete Fall benötigt keine allzu grosse Theorie (siehe Übung 7.98).
Übung 7.98 (Kein Homöomorphismus).
Wir wollen hier zeigen, dass es keine stetige und bijektive Funktion von nach gibt. Wir nehmen indirekt an, dass stetig und bijektiv sei.
- (i)
- Wir wissen bereits, dass konvergente Teilfolgen auf konvergente Teilfolgen abbildet. Zeigen Sie, dass dies ebenfalls tut.
- (ii)
- Finden Sie eine stetige Abbildung (eine Kurve) mit und .
- (iii)
- Zeigen Sie, dass die Abbildung stetig ist und schliessen Sie mit dem Zwischenwertsatz auf einen Widerspruch.
Hinweis für (i).
Sei eine Folge in , so dass gegen konvergiert. Zeigen Sie, dass jede konvergente Teilfolge von gegen konvergieren muss. Schliessen Sie daraus, dass konvergiert.
Übung 7.99 (Stetiges Füllen der Ebene).
Finden Sie eine stetige, surjektive Funktion .
Hinweis.
Überdecken Sie mit abgeschlossenen Intervallen der Form für und mit Quadraten der Form für .
Die hier besprochene Konstruktion einer fraktalen raumfüllenden Kurve mag auf dem ersten Blick unnatürlich und auf jeden Fall weltfremd anmuten. Doch enthält die mathematischen Modellierung der Brownschen Bewegung ähnliche fraktale Kurven, die typischerweise nicht raumfüllend aber genauso wie die Peano-Kurve stetig und “sehr zittrig” sind. Wie man das Gegenteil “schön glatt” von “sehr zittrig” mathematisch formulieren kann, besprechen wir im nächsten Kapitel.