7.6 Trigonometrische Funktionen
Wir definieren die Sinusfunktion bei durch
und die Kosinusfunktion bei durch
Wir sagen, dass eine Funktion auf gerade ist, wenn für alle und ungerade ist, wenn für alle . (Diese Begriffe werden analog für Funktionen mit Definitionsbereich oder Intervallen der Form für verwendet.)
Satz 7.72 (Sinus- und Kosinusfunktionen).
Die Potenzreihe (7.11) definiert die ungerade stetige Sinusfunktion und die Potenzreihe (7.12) definiert die gerade stetige Kosinusfunktion . Die Einschränkungen dieser Funktionen auf sind reellwertig und werden ebenso also Sinusfunktion und Kosinusfunktion bezeichnet. Des Weiteren bestehen für alle die Beziehungen
zu der Exponentialfunktion und es gelten die trigonometrischen Additionsformeln
für alle .
Eine kurze Rechnung (zum Beispiel wie schon in Abschnitt 7.5.1 unter Verwendung des Quotientenkriteriums) zeigt, dass die Reihen (7.11)–(7.12) für alle konvergieren. Nach Satz 7.56 haben diese Potenzreihen daher unendlichen Konvergenzradius, und Satz 7.56 besagt nun, dass und auf ganz definiert und stetig sind. Für die Partialsummen der Reihe in (7.11) gilt für alle , und daher ist eine ungerade Funktion. Analog ergibt sich, dass eine gerade Funktion definiert. Da die Koeffizienten der Potenzreihen und in liegen, gilt und .
Applet 7.73 (Potenzreihen).
Wir betrachten die ersten Partialsummen der Potenzreihen, welche , und (beziehungsweise , vom nächsten Abschnitt) definieren. Durch Vergrössern des Ausschnittes können Sie die Qualität der Annäherungen der Partialsummen überprüfen. Bei den trigonometrischen Funktionen kann man auch im Bild gut erkennen, dass die Potenzreihe alternierende Reihen bilden.
Wir beweisen nun den Zusammenhang zur Exponentialabbildung. Für gilt
und analog
für alle . Lösen wir diese beiden Gleichungen nach und auf, so ergeben sich die Formeln im Satz.
7.6.1 Additionsformeln
Wir wollen nun für alle die trigonometrischen Additionsformeln in Satz 7.72 beweisen. Hierzu multiplizieren wir und und erhalten auf Grund der Additionsformel (7.9) für die Exponentialabbildung
und ebenso
Auf Grund dieser beiden Gleichungen erhalten wir die Formeln (7.13)–(7.14). (Für würde die erste der beiden Gleichungen ausreichen indem wir Real- und Imaginärteile betrachten. Aber für erhalten wir zum Beispiel (7.14) durch Addition obiger Gleichungen.) Dies beendet den Beweis von Satz 7.72.
Für ergeben sich insbesondere die Winkelverdoppelungsformeln
wobei wir die Notation und für verwendet haben und auch für andere Funktionen und andere Potenzen des Öfteren verwenden werden. Des Weiteren folgt für aus (7.14) und der Tatsache, dass der Sinus ungerade und der Kosinus gerade ist, die Kreisgleichung für Sinus und Kosinus
7.6.2 Die Kreiszahl
Wir können nun die Kreiszahl definieren.
Beweis.
Aus dem Leibniz-Kriterium (Proposition 7.25) und der Monotonie der Folge für alle folgt, dass
und
für alle . Für ist und für ergibt sich
und wegen Positivität von damit . Daher existiert nach dem Zwischenwertsatz (Satz 3.58) eine Zahl mit . Wegen und folgt ebenso . Wir definieren . Die weiteren Formeln im Satz folgen aus den Additionsformeln (und den Winkelverdopplungsformeln).
Es verbleibt die Eindeutigkeit von wie im Satz zu zeigen. Für dies zeigen wir zuerst, dass es keine Nullstelle von der Sinusfunktion geben kann. Wir nehmen indirekt an, dass die Gleichung erfüllt. Dann gilt und somit . Da aber in liegt, verfügen wir bereits über die Ungleichungen , was einen Widerspruch darstellt. Insbesondere gilt daher .
Angenommen erfüllt ebenso . Dann gilt nach obigem, dass . Wir definieren
Dann gilt und (wieso?), was aber obigem Argument widerspricht. Daher ist durch die Gleichung eindeutig bestimmt.
Aus den Additionsformeln erhält man folgendes Korollar.
Insbesondere sind die Werte des Sinus und des Kosinus auf durch die Werte auf dem Intervall eindeutig bestimmt (wieso?). Dieses Prinzip überträgt sich unter anderem auf die Nullstellen von Sinus und Kosinus.
Wichtige Übung 7.76 (Nullstellen von und ).
Zeigen Sie, dass die Nullstellen von genau die Punkte in sind und dass die Nullstellen von genau die Punkte in sind.
Hinweis.
Überzeugen Sie sich zuerst davon, dass der Sinus nur reelle Nullstellen hat. Verwenden Sie die Periodizität des Sinus und die Definition von , um die Nullstellen von zu bestimmen. Anschliessend können Sie Korollar 7.75 für die Aussage über den Kosinus benutzen.
Übung 7.77 (Monotonie von Sinus).
Zeigen Sie die Formel
für alle . Verwenden Sie dies, um zu zeigen, dass der eingeschränkte Sinus
strikt monoton wachsend und bijektiv ist.
Übung 7.79 (Abschätzungen für ).
Zeigen Sie oder sogar (wobei die Verwendung eines elektronischen Hilfsmittels zur Berechnung von gewissen rationalen Zahlen hilfreich sein könnte).
7.6.3 Tangens und Cotangens
Wir definieren die Tangensfunktion durch
für alle mit , was nach Übung 7.76 gerade alle sind. Analog ist die Cotangensfunktion durch
für alle mit (oder äquivalent alle nach Übung 7.76) definiert.
Übung 7.80 (Additionsformel für den (Co-)Tangens).
Zeigen Sie, dass für die Additionsformel
gilt, wo definiert. Finden und beweisen Sie eine analoge Additionsformel für den Cotangens.
7.6.4 Polarkoordinaten und Multiplikation auf den komplexen Zahlen
Die Beschreibung eines Punktes durch Polarkoordinaten besteht aus einem Radius und einem „Winkel“ mit
Wir bezeichnen hier den reellen Parameter als Winkel, obwohl wir diesem noch keine geometrische Bedeutung formal zuweisen. Wir werden dies korrigieren, sobald wir die Definition der Bogenlänge einer Kurve kennen.
Ist eine derartige Darstellung von gegeben, so gilt womit den Abstand von zum Ursprung darstellt. Die Menge der Elemente mit Absolutbetrag Eins
wird als der Einheitskreis in bezeichnet (wobei auch für die -dimensionale Sphäre steht).
Lemma 7.81 (Existenz von Polarkoordinaten).
Für alle existiert ein eindeutig bestimmtes und ein Winkel mit . Des Weiteren ist der Winkel eindeutig bestimmt, falls .
Beweis.
Für gibt es nichts zu zeigen. Also nehmen wir an. Nach Division mit können wir des Weiteren annehmen. Wir betrachten zuerst den Fall und behaupten, dass ein existiert, so dass . In der Tat ist für ein und es gilt und nach Satz 7.74 auch . Insbesondere existiert nach dem Zwischenwertsatz ein mit . Nun gilt aber auch
da wir angenommen haben, und somit
Falls ist, dann wenden wir obiges Argument für an und finden ein mit , womit und .
Sind mit , dann gilt und daher auch . Aus der Eindeutigkeit von in Satz 7.74 und der Formel für alle in Korollar 7.75 ergibt sich daraus, dass . Falls , dann ist aber , und daher muss gelten.
In Polarkoordinaten lässt sich die Multiplikation auf neu interpretieren. Sind und in , dann ist . Multiplikation mit streckt also um den Faktor und rotiert um den Winkel , oder anders formuliert bei Multiplikation der Vektoren multiplizieren sich die Längen der Vektoren und addieren sich die Winkel. Diese geometrische Erklärung der Multiplikation hat in der Geschichte der komplexen Zahlen die komplexen Zahlen ausgehend von einem etwas mysteriösen rein algebraischem Objekt zu einem eigenständigen Zahlenbegriff verwandelt. Daraufhin hat dieser Zahlenbegriff schnell Einzug in die weitere Entwicklung der Mathematik gefunden. Wir verweisen hierfür auf einen weiteren BBC Podcast.
Applet 7.82 (Geometrische Bedeutung der Komplexen Zahlen).
Wir können anhand der eingezeichneten Polarkoordinatenlinien die geometrische Bedeutung der Multiplikation von komplexen Zahlen und der Inversen und der Wurzeln einer vorgegebenen Zahl erkennen. Bei Bewegung von um den Ursprung im Wurzelmodus ist ersichtlich, warum eine stetige Definition von Wurzelfunktionen nicht möglich ist.
Darstellung der Abbildung . Wir möchten illustrieren, wie sich die Abbildung auf Kreisen in der komplexen Ebene verhält. Dazu teilen wir die komplexe Ebene in die obere und die untere Halbebene auf und färben die Kreise (hier für Radien in ) entsprechend ein.
Wir betrachten die beiden Hälften nun gesondert. Zusätzlich zu den bestehenden Halbkreisen zeichnen wir von Null ausgehende Strahlen zu verschiedenen Winkeln ein.
Die Abbildung öffnet nun obige Bilder, die an Fächern erinnern, in die eingezeichnete Richtung auf. Genauer werden die Radien quadriert (und liegen somit in ) und die Winkel in die eingezeichnete Richtung verdoppelt. Das erhaltene Bild ist in beiden Fällen dasselbe; das Bild der gesamten Abbildung stellt sich also wie folgt dar. Insbesondere hat also jeder Punkt in genau zwei Quadratwurzeln.
Abgesehen von dieser geometrischen Interpretation der Multiplikation können Polarkoordinaten verwendet werden, um Nullstellen von Polynomen zu bestimmen. Dies trifft in einem gewissen Sinn auch für allgemeine Polynome im Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra zu, doch wollen wir hier zuerst nur folgende Spezialfälle betrachten.
Übung 7.83 (Wurzeln).
Sei . Zeigen Sie, dass die Nullstellen des Polynoms (die -ten Wurzeln von ) gerade durch
gegeben sind und dass diese paarweise verschieden sind. Die -ten Wurzeln von nennen sich die -ten Einheitswurzeln.
Zeigen Sie des Weiteren für alle natürlichen Zahlen die Identität
Übung 7.84 (Quadratische Formel).
Verallgemeinern Sie Übung 3.18 und zeigen Sie, dass jedes komplexe Polynom vom Grad als Produkt zweier komplexen Polynomen mit Grad geschrieben werden kann.
7.6.5 Zwei Logarithmen auf der komplexen Zahlenebene
Wir erinnern daran, dass wir den reellen Logarithmus als die inverse Abbildung von der bijektiven Abbildung definierten. Wir wollen dies nun wiederholen und den Logarithmus für komplexe Zahlen definieren. Leider gibt es hier aber ein fundamentales Problem: die Exponentialabbildung ist auf der komplexen Zahlenebene ganz und gar nicht bijektiv, da beispielsweise für alle .
Aus diesem Grund müssen wir die Exponentialabbildung auf eine geeignete Teilmenge von einschränken, so dass die eingeschränkte Abbildung bijektiv ist. Dies kann durch viele verschiedene Teilmengen erreicht werden. Wir wollen hier zwei Möglichkeiten ansprechen.
Zum Beispiel könnten wir die Teilmenge
betrachten. In diesem Fall entsprechen und mit der Polarkoordinatendarstellung von in Lemma 7.81 mit und . Da die Polarkoordinatendarstellung von jedem eindeutig bestimmt ist, ist die Einschränkung bijektiv. Der Nachteil dieser Abbildung ist, dass die entsprechende Umkehrabbildung bei jeder positiven Zahl in unstetig ist (wieso?).
Die Unstetigkeit des komplexen Logarithmus lässt sich zwar nicht vermeiden (zumindest dann nicht, wenn man Bijektivität der Logarithmusabbildung bewahren will), doch können wir diese mit der anderen Wahl “etwas besser verstecken”. Wir definieren
Man sieht auf die gleiche Weise wie oben, dass
bijektiv ist. In der Tat entspricht dies leicht veränderten Polarkoordinaten, wo wir einen Winkel unverändert lassen aber einen Winkel durch ersetzen (welcher wegen den gleichen Zweck wie erfüllt). Die entsprechende Umkehrabbildung wird der Hauptzweig des Logarithmus
genannt. Er ist auf der negativen Halbachse unstetig, aber auf stetig. (Diese Stetigkeitsbehauptungen kann man auch jetzt schon zeigen, werden aber klarer sein, wenn wir die trigonometrischen Umkehrfunktionen besprochen haben.)
Wir bemerken noch, dass wir keine Potenzen mit komplexer (oder auch nur negativer) Basis und komplexen (oder auch nur reellen) Exponenten definieren. Der Grund dafür ist, dass diese Definition von einer Wahl eines geeigneten Logarithmus abhängen würde und aus diesem Grunde nicht natürlich wäre.
Die Abbildung in Bildern Wir stellen zuerst die Teilmenge dar.
In obigem Bild sind die blauen Linien bei eingezeichnet. Wir wenden nun auf der -Koordinate die Exponentialabbildung an und erhalten folgendes Bild in den Koordinaten .
Man beachte, dass die grüne Linie von der Abbildung nicht getroffen wird. Jetzt weisen wir jedem Punkt mit Koordinaten die komplexe Zahl zu, die diese Polarkoordinaten hat. Die blaue Linie beim Wert wird damit auf den von ausgehenden Strahl mit Winkel abgebildet. Die rote Linie beim Wert wird auf den Kreis mit Radius abgebildet. Die grüne Linie wird auf den Punkt kollabiert.