7.4 Potenzreihen
Definition 7.54 (Potenzreihe).
Für jedes sei . Dann ist der formale Ausdruck
eine Potenzreihe in der Variable .
Es drängt sich bei obiger Definition ein Vergleich zur Definition eines Polynoms in Definition 3.13 auf. Im Gegensatz zur Diskussion von Polynomen ist aber eine Potenzreihe vorerst nur ein formaler Ausdruck. Es ist nicht klar, bei welchen komplexen Zahlen man eine Potenzreihe auswerten darf. Insbesondere wissen wir (noch) nicht, ob wir diesem formalen Ausdruck überhaupt eine Funktion auf oder einer bestimmten Teilmenge von zuordnen können. Diese Frage hängt stark von den Koeffizienten ab und wird in Satz 7.56 beantwortet.
Wie schon bei Polynomen in Definition 3.11 ist auch hier die Definition (3.2) äusserst sinnvoll, damit die Potenzreihe (7.5)bei auf jeden Fall konvergiert und den Wert hat.
7.4.1 Konvergenzradius
Definition 7.55.
Sei eine Potenzreihe mit komplexen Koeffizienten . Wir definieren den Konvergenzradius durch
wobei wir setzen und hier (aber auch nur hier) die Vereinbarung treffen.
Satz 7.56 (Über den Konvergenzradius).
Sei eine Potenzreihe und ihr Konvergenzradius. Dann konvergiert die Reihe für alle mit absolut und divergiert für alle mit . Weiters konvergiert die Funktionenfolge gleichmässig gegen auf jeder Kreisscheibe der Form für jedes . Insbesondere definiert die Potenzreihe die stetige Abbildung
Beweis.
Wir verwenden das Wurzelkriterium aus Korollar 7.30 für ein beliebiges und die Reihe und berechnen deswegen
Nach dem Wurzelkriterium konvergiert die Reihe also absolut für und divergiert für . Die Fälle und ergeben sich aus dem gleichen Argument (wieso?).
Sei nun . Für den Beweis der gleichmässigen Konvergenz auf bemerken wir, dass nach obigem bereits gilt. Daher existiert für jedes ein mit . Für alle und gilt damit
Dies beweist die gleichmässige Konvergenz der stetigen Funktionenfolge auf gegen und damit die Stetigkeit von nach Satz 7.48.
Insbesondere ist die Funktion stetig an jedem Punkt, da es zu ein gibt, mit (wieso zeigt dies die Stetigkeit?). Dies beweist den Satz.
Beispiel 7.57 (Nicht gleichmässige Konvergenz).
Man könnte denken, dass Satz 7.56 eigentlich sagt, dass die Partialsummen der Potenzreihe auf ganz gleichmässig gegen die durch die Potenzreihe definierte Funktion streben, da ja beliebig ist. Dies ist aber nicht immer so (siehe auch Übung 7.50), wie wir hier kurz anhand der geometrischen Reihe zeigen wollen.
Für ist der Konvergenzradius und die mittels der Potenzreihe definierte Funktion ist . Falls die Konvergenz auf ganz gleichmässig wäre, dann gäbe es für ein so dass für alle und die Abschätzung
gelten würde. Wir setzen und erhalten mittels der Dreiecksungleichung daraus
für alle . Dies ist aber ein Widerspruch, da
Übung 7.58 (Konvergenzradien).
Finden Sie für jedes eine Potenzreihe mit Konvergenzradius .
Hinweis.
Für müssen Sie eine Potenzreihe mit sehr schnell wachsenden Koeffizienten verwenden.
Übung 7.59.
Berechnen Sie den Konvergenzradius der Potenzreihe
und zeigen Sie Konvergenz der Potenzreihe bei den Punkten .
Lemma 7.60 (Konvergenzradius via Quotientenkriterium).
Sei eine Potenzreihe mit für alle . Der Konvergenzradius ist gegeben durch
falls dieser Grenzwert existiert.
7.4.2 Addition und Multiplikation
Proposition 7.62 (Summen und Produkte).
Seien und zwei Potenzreihen mit Konvergenzradius respektive . Dann gilt für alle mit
Insbesondere ist der Konvergenzradius der Potenzreihen auf der rechten Seite mindestens .
Beweis.
Die erste Eigenschaft folgt aus Linearität des Grenzwerts. Die zweite verwendet noch Korollar 7.37.
Beispiel 7.63.
Falls mindestens Konvergenzradius hat, so gilt
für alle mit . In der Tat hat die Potenzreihe Konvergenzradius und für mit gilt , womit (7.6)aus Proposition 7.62 folgt.
7.4.3 Stetigkeit bei Randpunkten
Wir wollen nun eine Potenzreihe betrachten, wobei wir für erlauben, aber nur reelle Zahlen einsetzen wollen. Nach Satz 7.56 existiert ein , so dass die Funktion
wohldefiniert und stetig ist, aber für alle mit divergiert. Wir nehmen nun weiter an, dass und ebenfalls konvergiert. Satz 7.56 sagt in diesem Fall überhaupt nichts über die erweiterte Funktion
aus.
Satz 7.65 (Abelscher Grenzwertsatz).
Unter obigen Annahmen ist auch stetig. Das heisst,
Eine analoge Aussage gilt, falls konvergiert.
Beispiel 7.66 (Zwei alternierende Potenzreihen).
- (i)
- Für und für alle ist der Konvergenzradius der Potenzreihe durch gegeben und konvergiert, womit der Abelsche Grenzwertsatz (Satz 7.65) angewendet werden kann. Sobald wir die Funktion für kennen, können wir damit auch berechnen.
- (ii)
- Für für alle ist und der Abelsche Grenzwertsatz (Satz 7.65) kann nicht angewendet werden, da divergiert.
Bemerkung.
Hierzu eine historische Anmerkung: Euler (1707-1783) und seine Zeitgenossen hatten noch einen anderen Zugang zu Reihen und wiesen auf Grund der Gleichung für der Reihe den Wert zu, was aber unserem modernerem Konvergenzbegriff (und insbesondere Proposition 7.2) widerspricht.
Beweis des Abelschen Grenzwertsatzes.
Wir nehmen ohne Beschränkung der Allgemeinheit an, dass der Konvergenzradius ist (sonst ersetzt man mit für alle ). Nach Beispiel 7.63 gilt
für alle . Wir definieren , (was nach Annahme existiert) und erhalten mit für die Gleichung
für alle . Obige Formelmanipulationen mögen vielleicht vom Himmel gefallen sein; ab jetzt wird das Argument jedoch wenig Überraschungen bieten. Sei . Dann existiert ein mit für alle . Daraus folgt für , dass
Da aber das Polynom auf stetig ist und bei verschwindet, gibt es weiters ein , so dass
Daher gilt für alle und der Satz folgt.
Übung 7.67.
Wo wurde im obigen Beweis verwendet, dass reell ist?
Hinweis.
Für ist mitunter kleiner als , doch gilt für .