5.2 Metrische Räume
5.2.1 Definition und erste Beispiele
Definition 5.10 (Metrik).
Ein metrischer Raum ist eine Menge gemeinsam mit einer Abbildung , die die Metrik auf genannt wird und die folgenden drei Eigenschaften erfüllt:
Intuitiv ausgedrückt weist eine Metrik auf einer Menge je zwei Punkten ihre Distanz (ihren Abstand) zu. In dieser Auffassung besagt die Definitheit der Metrik, dass der einzige Punkt, der Abstand Null zu einem gegebenen Punkt hat, selbst ist. Symmetrie der Metrik besagt, dass der Abstand von zu der gleiche ist wie von zu . Fasst man die Distanz zwischen zwei Punkten als die Länge eines kürzesten Weges vom einen zum anderen Punkt auf (was nicht immer möglich ist), dann besagt die Dreiecksungleichung, dass die Länge eines kürzesten Weges von nach höchstens so gross ist wie die Länge eines Weges, den man abläuft, wenn man zuerst den Umweg nach und von dort aus nach geht.
Folgende Beispiele von Metriken sind uns eigentlich bereits bekannt – siehe Lemma 5.11 unten:
Für und damit auch werden wir im Normalfall die euklidische Metrik benützen und diese auch einfach mit bezeichnen.
Wie wir auch sehen werden, gibt es viele weitere, interessante Beispiele von metrischen Räumen. Manche aber nicht alle dieser erhalten wir mittels Normen auf Vektorräumen wie in Definition 5.1.
Lemma 5.11 (Eine Norm definiert eine Metrik).
Sei ein Vektorraum über† Hier und auch im Folgenden können wir ebenso Vektorräume über betrachten, doch inkludiert der Fall der reellen Vektorräume auch den Fall von komplexen Vektorräumen, weshalb wir Vektorräume über hier und im Folgenden nicht mehr getrennt erwähnen werden. und eine Norm auf . Dann definiert
für eine Metrik auf , die man auch die von der Norm induzierte Metrik auf nennt.
Beweis.
Es gilt für
nach Definitheit der Norm . Nach Homogenität der Norm für gilt für
und somit erhalten wir die Symmetrie von . Zuletzt verwenden wir die Dreiecksungleichung der Norm und erhalten
für alle . Dies zeigt die Dreiecksungleichung für , womit also eine Metrik auf ist.
Nicht jede Metrik auf einem Vektorraum muss durch eine Norm gegeben sein. Des Weiteren ist das Messen von Distanzen nicht nur auf Vektorräumen von Interesse. Interessante Beispiele dieser Art möchten wir nun besprechen.
Beispiel 5.12 (Weitere metrische Räume).
- (i)
- (Diskrete Metriken) Sei eine Menge und definiert durch
für . Dann ist ein metrischer Raum. In der Tat ist definit und symmetrisch per Definition. Des Weiteren erfüllt die Dreiecksungleichung: Seien Punkte in . Falls gilt, dann ist trivialerweise erfüllt. Falls gilt, dann ist und ist mindestens von einem Punkt in verschieden und die Dreiecksungleichung gilt ebenso.
Man beachte, dass die diskrete Metrik auf für nicht durch eine Norm gegeben ist. In der Tat würde eine Norm mit für alle widersprüchlicherweise die Homogenitätseigenschaft in Definition 5.1 nicht erfüllen können.
- (ii)
- (Manhattanmetrik) Wir setzen und
für . In der Tat erfüllt alle Axiome einer Metrik auf , da die Einschränkung der Einsmetrik von auf ist. Die Metrik wird oft auch Manhattan-Metrik genannt. Grund dafür ist, dass man in schachbrettartig angelegten Orten wie zum Beispiel Manhattan auf folgende Weise von nach gelangt: Man geht zuerst bei gleichbleibender -Koordinate von nach und dann bei gleichbleibender -Koordinate von nach , oder umgekehrt von nach und dann von nach . Es gäbe zwar noch andere Möglichkeiten, aber wenn alle Strassen in Manhattan von West-Ost oder Nord-Süd verlaufen, dann misst den relevanten Abstand zwischen zwei Punkten.
- (iii)
- (Metrik der französischen Eisenbahn) Wir setzen und definieren die SNCF-Metrik auf durch
für alle . Der Grund für den Namen dieser Metrik (siehe Übung 5.13) ist, dass eine Bahnreise von einer französischen Stadt bei zu einer anderen bei meist über den Ursprung (auch Paris genannt) führt, ausser wenn und auf derselben – von Paris ausgehenden geraden Strecke liegen. Gewissermassen besteht in dieser Metrik also aus unendlich vielen Halbgeraden, die sich nur im Ursprung treffen.
- (iv)
- Ein kombinatorischer Graph ist eine endliche Menge von Punkten, die sogenannten Ecken, von welchen einige mit sogenannten Kanten verbunden sind. Diese lassen sich auf natürliche Weise mit mehreren Metriken ausstatten; der Konkretheit halber betrachten wir einen spezifischen Graphen, doch muss ein Graph nicht unbedingt als Teilmenge von für gegeben sein.
Man kann nun eine Metrik auf den Ecken (durch gekennzeichnet) dadurch definieren, dass man benachbarten Ecken die Distanz zuweist und dies iteriert. Beispielsweise definiert man die Distanz zweier Ecken, die man über zwei aber nicht weniger Kanten erreichen kann, als . Dazu notwendig ist, dass man von einer Ecke zu jeder anderen Ecke über Ablaufen von Kanten gelangen kann (wie bei obigem Graphen) – diese Eigenschaft nennt sich auch Zusammenhang des Graphen.
Des Weiteren ist es auch möglich, eine Metrik auf dem kompletten (kontinuierlichen) Graphen zu definieren, indem man die obige Definition auf folgende Weise erweitert. Fasst man eine Kante als Kopie des Intervalles auf, wobei und die zwei Ecken der Kante sind, so kann man eine Distanz auf den Kanten über die Distanz auf definieren. Ähnlich wie oben kann man nun damit eine Metrik auf dem gesamten Graphen (inklusive den Kanten) definieren.
Übung 5.13.
Zeigen Sie, dass die in Beispiel 5.12(iii) definierten Metriken tatsächlich Metriken sind. Führen Sie des Weiteren die Konstruktion der Metriken in (iv) vollständig und formal durch.
Wir bemerken, dass für eine gegebene Teilmenge eines metrischen Raumes die Einschränkung eine Metrik auf definiert. Wenn mit dieser Metrik versehen ist, nennen wir einen Teilraum des metrischen Raumes und die Metrik die induzierte Metrik. Wenn nicht anders spezifiziert, statten wir Teilmengen eines metrischen Raumes implizit mit der induzierten Metrik aus.
Wichtige Übung 5.14 (Umgekehrte Dreiecksungleichung).
Sei ein metrischer Raum. Zeigen Sie, dass für alle gilt
Übung 5.15 (Deformation der Metrik).
Sei ein metrischer Raum. Zeigen Sie, dass
für zwei Metriken , auf definieren.
5.2.2 Ein kurzer Überblick
Wir fassen die behandelten Begriffe nochmals in einem Diagram zusammen.
Wir werden uns im zweiten Semester vor allem mit für (mehrdimensionale Analysis) beschäftigen; allerdings werden wir auch mit wie in Beispiel 5.7 oder gewisse Teilmengen von verwenden. Insbesondere bieten metrische Räume den für uns geeigneten allgemeinen Rahmen.
5.2.3 Offene Bälle
Mit dem Abstandsbegriff gegeben durch Metriken lassen sich in Analogie zu Definition 2.52 Bälle definieren.
Definition 5.16 (Offene Bälle).
Sei ein metrischer Raum. Für ein und einen Punkt nennt man
den offenen Ball mit Radius um . Wir sagen, dass eine Teilmenge offen ist, falls es zu jedem ein mit gibt.
Wir zeigen im Folgenden, dass der Durchschnitt zweier offener Bälle offen ist, aber verschieben eine ausführlichere Diskussion dieses und verwandter Begriffe auf das zweite Semester.
Lemma 5.17 (Schnitte offener Bälle).
Sei ein metrischer Raum, seien und . Dann ist offen, das heisst, es existiert für alle ein mit
Beweis.
Sei . Wir setzen
und bemerken, dass ist, da und nach Annahme an . Es bleibt zu zeigen, dass die gewünschte Eigenschaft erfüllt. Sei also . Dann gilt nach der Dreiecksungleichung
und genauso , was das Lemma beweist.
5.2.4 Wie sehen metrische Räume aus?
Da metrische Räume sozusagen geometrische Objekte darstellen, drängt sich vielleicht die Frage im Titel des Unterabschnittes auf. Doch ist diese Frage genauso wenig sinnvoll wie zum Beispiel die Frage „Welche Eigenschaften haben chemische Elemente?“. In beiden Fällen hängt die Antwort stark vom betrachteten Spezialfall ab. Zum Beispiel inkludiert die Frage „ Wie sehen metrische Räume aus?“ auch die Frage „Wie sehen Teilmengen von aus?“, denn jede Teilmenge von kann als eigenständiger metrischer Raum (mit der induzierten Metrik) betrachtet werden. Insbesondere hat auf Grund ihrer Allgemeinenheit diese Frage kaum eine vernünftige Antwort.
Damit Sie sich von der Vielfalt der Antwortmöglichkeiten ein besseres Bild machen können, betrachten wir im Folgenden offene Bälle in einigen wenigen metrischen Räumen.
Wichtige Übung 5.18 (Offene Bälle).
Beschreiben Sie die offenen Bälle in folgenden metrischen Räumen.
Applet 5.19 (Bälle in einigen metrischen Räumen).
Die folgenden Apps sollten helfen, die Vielfalt der Möglichkeiten für die Gestalt von Bällen in metrischen Räumen zu visualisieren.