4.9 Einschub: Mehrdimensionale Integrale*
Wir wollen hier unseren vollständigen Aufbau der Analysis kurz unterbrechen und anwendungsbezogen mehrdimensionale Integrale besprechen† Dieser Abschnitt existiert als Hilfestellung für die Physik-Vorlesung und ist als Text für die Eigenlektüre zu verstehen.. Insbesondere werden wir die vorgestellten Methoden informell begründen, aber nicht vollständig erklären oder beweisen können – wir werden dies erst im zweiten Semester nachholen. Der Grund für den Einschub ist einfach zu erklären: Sie werden ein intuitives Verständnis für diese Themen und die wichtigsten Rechenmethoden in den Vorlesungen Physik I und Physik II benötigen.
4.9.1 Definition mittels Treppenfunktionen
Wir beginnen unsere Diskussionen damit, die Definition eines mehrdimensionalen Integrals anzudeuten. Für diese Definition sollten wir Funktionen auf einem -dimensionalen Quader betrachten, wobei die Dimension des Quaders angibt und die Zahlen , …, die Koordinaten und Abmessungen des Quaders definieren. Zur Vereinfachung der Notation setzen wir hier vorerst und betrachten eine reellwertige Funktionen .
Eine Treppenfunktion ist in diesem Zusammenhang eine Funktion, so dass man in Teilrechtecke zerlegen kann und auf den einzelnen Teilrechtecken jeweils konstant ist. Genauer sollte die Zerlegung rasterförmig von der Form
sein, wobei
zwei beliebige Zerlegung der Kanten und des Rechtecks sind und die Vereinigung über alle Paare läuft mit und . Die Menge besteht hier aus den Rändern der einzelnen Rechtecke und wird im folgenden einfach ignoriert (da dies eine sogenannte Nullmenge darstellt). Falls nun die Treppenfunktion für jedes Tupel auf dem entsprechenden Teilrechteck den Konstanzwert annimmt, dann definieren wir das Integral der Treppenfunktion durch
Wir nehmen an, dass beschränkt ist. Dies impliziert wiederum, dass es Treppenfunktionen gibt, die erfüllen. Wir bezeichnen beziehungsweise als Untersumme und Obersumme zu . Das untere Integral ist nun als Supremum der Untersummen und das obere Integral als Infimum der Obersummen definiert. Wenn diese beiden Zahlen übereinstimmen, dann definieren diese das Riemann-Integral
Wir wollen dies auch im folgenden Applet erklären, wobei wir das zwei-dimensionale Integral als Volumen des Körpers in Figur 4.5 interpretieren.
Applet 4.45 (Zelt).
Wir sehen, dass wir das Volumen des Zeltes von unten und von oben abschätzen können, wodurch wir immer genauere Annäherungen für das Volumen erhalten können. Das zwei-dimensionale Integral gibt das Volumen fehlerfrei an.
Auch dreidimensionale Integrale können konkrete physikalische Bedeutungen besitzen. Falls zum Beispiel ein drei-dimensionaler Quader mit Abmessungen (in ) ist und die vom Punkt abhängige Dichte des Quaders (in ) angibt, so gibt das drei-dimensionale Integral
die Gesamtmasse des Quaders an. Dies ergibt sich durch Verallgemeinerung der Diskussion in Abschnitt 4.4.3.
4.9.2 Iterierte Integrale
In der Definition des Begriffes „Integral einer Treppenfunktion“ haben wir über alle Paare mit und summiert (siehe Definition 4.17). Wollen wir dies genauer mittels der Summennotation aus Abschnitt 3.1 formulieren, so haben wir die zwei äquivalenten Möglichkeiten
Da das mehrdimensionale Integral gewissermassen ein kontinuierliches Analog zu derartigen Doppelsummen darstellt, könnte man erwarten, dass das mehrdimensionale Integral einer Riemann-integrierbaren Funktion analog
erfüllt, wobei die inneren Integrale (oben das Integral bezüglich ) die äussere Integrationsvariable (oben die Variable ) als Konstante interpretieren und diese Integrale wiederum eine Funktion bezüglich der äusseren Integrationsvariable (oben ) definieren. Dies trifft in der Tat für stetige Funktionen zu – geeignet interpretiert auch allgemeiner – und wird als der Satz von Fubini bezeichnet. Informell können wir dies in zwei Dimensionen auch durch die Gleichung ausdrücken.
Applet 4.46 (Volumen des Zeltes).
Wir können den Satz von Fubini und das Vorgehen der Berechnung des Volumens auch geometrisch veranschaulichen. Dabei bestimmt die -Koordinate einen ebenen Querschnitt durch das Zelt, und die -Koordinate animiert die Berechnung des Flächeninhaltes des Querschnittes. Versuchen Sie mit den Schiebern die Addition der iterierten Summen nachzustellen.
Der Satz von Fubini ist extrem nützlich, da wir mit diesem Satz die Berechnung von mehrdimensionalen Integrale auf die Berechnung eindimensionaler Integrale zurückführen können (und wir für letztere im Laufe dieses Semester viele Methoden zur Berechnung lernen werden).
Beispiel 4.47 (Volumen des Zeltes).
Wir definieren das Zelt
Das Volumen des Zeltes ist auf Grund von für alle und obiger Diskussionen durch
gegeben, wobei wir für das innere Integral über die Variable als Konstante betrachtet haben und die Rechnung
verwendet haben.
4.9.3 Schwerpunkt eines Körpers
Wir wollen als weitere Anwendung von mehrdimensionalen Integralen den Schwerpunkt von Körpern berechnen, wobei die vom Punkt abhängige Dichte des Körpers beschreibt. In Analogie zu Abschnitt 4.4.3 sind dann die Gesamtmasse des Körpers und die Koordinaten des Schwerpunktes durch die Formeln
gegeben. Wir haben in diesen Definition auch eine Verallgemeinerung des mehrdimensionalen Integrals versteckt, da wir nicht immer annehmen wollen, dass ein Quader ist. Im Sinne der Anwendung liegt es aber nahe anzunehmen, dass beschränkt ist. Dadurch existiert ein Quader wie in obiger Diskussion , der enthält. Nun setzen wir die Dichtefunktion von auf ganz fort, indem wir setzen. Dies macht Sinn, denn wir wollen ja Masse und Schwerpunkt des betrachteten Körpers berechnen und werden dabei davon ausgehen, dass ausserhalb des Körpers Vakuum herrscht. In diesem Sinne ist ein Integral über eine Funktion auf durch
definiert, wobei
Beispiel 4.48 (Schwerpunkt des gleichmässig gefüllten Zeltes).
Wir wollen nun diese Formeln ausprobieren und den Schwerpunkt des gleichmässig gefüllten Zeltes (mit Dichte ) berechnen. Auf Grund der Symmetrie des Zeltes sind die – und -Koordinaten des gleichmässig gefüllten Zeltes gleich . Für die -Koordinate des Zeltes verwenden wir den Quader und obige Formel, woraus sich
ergibt. Wir haben hier die Reihenfolge der Variablen anders gewählt, da in einer anderen Reihenfolge die Betrachtung der Funktion erheblich komplizierter wäre. In der Tat hat in dieser Reihenfolge die Funktion einfach die Auswirkung, dass das innerste Integral über die Variable mit den ursprünglichen Integrationsgrenzen und (wie in der Definition unseres Quaders ) stattdessen die Integrationsgrenzen und (was unserer Definition des Zeltes entspricht) verwendet. Um nun tatsächlich zu berechnen, nützen wir nochmals die Symmetrie des Zeltes aus, um die Rechnung ein wenig zu vereinfachen. Dadurch ergibt sich
Übung 4.49.
Wir betrachten nun den Körper
und die Dichtefunktion für .
- (i)
- Berechnen Sie das Volumen von .
- (ii)
- Berechnen Sie die Masse des Körpers.
- (iii)
- Berechnen Sie die Koordinaten des Schwerpunktes. (Auf Grund einer Symmetrie genügt es hierfür zwei dreidimensionale Integrale zu berechnen.)
Zahlenwerte der Lösung.
Das Volumen ist , die Masse ist und der Schwerpunkt hat die Koordinaten und .
Wir erwähnten bereits, dass man den Satz von Fubini für zwei-dimensionale Integrale auf zwei verschiedene Arten anwenden kann. Dies hilft manchmal um die Berechnung des Integrals zu beschleunigen, wie in der nächsten Übungsaufgabe.
Übung 4.50.
Berechnen Sie den Flächeninhalt und den Schwerpunkt (bei gleichmässiger Massenverteilung mit Gesamtmasse ) der Fläche zwischen den Kurven, die durch die Gleichungen und beschrieben wird. Hierzu müssen Sie zuerst eine Skizze des Gebietes erstellen. Versuchen Sie anschliessend die Wahl der Integrationsreihenfolge zu optimieren, so dass Sie möglichst wenige Integrale berechnen müssen (konkret 3 anstatt 6).
Zahlenwerte der Lösung.
Der Flächeninhalt ist und der Schwerpunkt hat die Koordinaten und .
4.9.4 Polarkoordinaten
Gelegentlich ist es in gewissen Problemen nützlich, ein Integral in anderen Koordinaten als den Kartesischen Koordinaten zu berechnen. Beispielsweise kann eine gegebene Funktion oder ein Integrationsbereich über gewisse Symmetrien verfügen, welche man sich zu Nutzen machen möchte. Wir illustrieren dies hier an den Polarkoordinaten in der Ebene und im nächsten Unterabschnitt an den Kugelkoordinaten im dreidimensionalen Raum.
Jeder Punkt lässt sich schreiben als
für den Radius und einen Winkel .† Wie wir später bei der Einführung der Winkelfunktionen sehen werden, stellt die Bogenlänge am Einheitskreis die einzige natürliche Wahl für die Angabe eines Winkels dar. Die Koordinaten des Punktes werden dabei die Polarkoordinaten genannt. Wir bemerken natürlich, dass die Funktionen und noch nicht formal definiert wurden; wir werden diesen Mangel später beheben. Für den Moment begnügen wir uns mit folgendem Bild:
Gegeben eine Riemann-integrierbare Funktion möchten wir nun das Integral als Integral bezüglich den neuen Koordinaten ausdrücken. Dabei können wir aber nicht einfach wie in der Diskussion vom Satz von Fubini als interpretieren, denn dies würde die vorliegende geometrische Bedeutung der Polarkoordinaten komplett ignorieren. Stattdessen gilt
Der zusätzliche Faktor beschreibt das Volumen kleiner Quader in den Koordinaten , wie wir im folgenden Bild erklären möchten.
Beispiel 4.51 (Kreisrundes Zelt).
Wir betrachten das adaptierte Zelt
mit kreisförmiger Basis und berechnen das Volumen. Es gilt
unter Verwendung der Formel (4.18). Nun berechnet man
Beispiel 4.52 (Trägheitsmoment der Kreisscheibe).
Wir betrachten zu einem Radius die Kreisscheibe , welche wir nun um die Null rotieren lassen möchten. Sei die dazugehörige Winkelgeschwindigkeit (mit Einheit ). Betrachtet man nun einen Punkt und ein sehr kleines „ Polarrechteck“ um diesen Punkt wie in Figur 4.6, so rotieren Punkte in etwa mit Geschwindigkeit . Die kinetische Energie für die Bewegung von ist also in etwa gegeben durch , wobei die Masse von bezeichnet. Summiert man dies über alle Polarrechtecke, so erhält man eine intuitive Begründung für die folgende Formel für die kinetische Energie der Rotation (kurz Rotationsenergie)
Dabei ist die Massenverteilung auf . Die Grösse (mit Einheit ) verhält sich also wie die Masse für die geradlinige Bewegung und ist in diesem Sinne intrinsisch. Sie wird das Trägheitsmoment von um Null genannt. Wir wollen dieses nun berechnen, wobei wir annehmen wollen, dass konstant ist und Masse hat. Wir haben also , und damit ist das Trägheitsmoment durch
gegeben.
Im Vergleich dazu wäre das Trägheitsmoment für einen Kreisring mit Masse am Kreis mit Radius gleich : Denn bei vernachlässigbarer Dicke des Kreisrings hat jeder Teil der Masse Geschwindigkeit , womit die kinetische Energie der Rotation durch
gegeben ist.
Applet 4.53 (Trägheitsmomente).
Wir sehen verschiedene Körper, welche an einer Rampe frei runter rollen. Dabei kommt es je nach Trägheitsmoment des Körpers zu unterschiedlichen Geschwindigkeiten, da die potentiellen Energie in Rotationsenergie und kinetische Energie umgewandelt wird und ist. Zum Vergleich wird auch noch ein nicht rotierender Würfel dargestellt, der ohne Reibung die Rampe runter rutscht. Wir werden die Trägheitsmomente der anderen dargestellten Körper unten berechnen.
Was passiert, wenn wir am Ende der Rampe alle Objekte (mit Hilfe einer Stange durch die Rotationsachsen) stoppen ohne die Rotation zu stören und dann nochmals gleichzeitig weiterrollen lassen? Es ist klar, dass der Würfel dann einfach liegen bleibt, da wir beim Stoppen seine kinetische Energie auf Null gesetzt haben und er keine Rotationsenergie hat. Was passiert mit den anderen Körpern?
4.9.5 Kugelkoordinaten
Ähnlich zum zweidimensionalen Fall gibt es im dreidimensionalen Raum sphärische Koordinaten. Jeder Punkt lässt sich schreiben als
für den Radius und Winkel , wie im folgenden Bild.
Für eine Riemann-integrierbare Funktion
gilt dann
Wie im vorherigen Abschnitt beschreibt der Faktor das Verhältnis des Volumens eines sehr kleinen Quaders bezüglich den neuen Kugelkoordinaten im Vergleich zu dem Produkt der Differenzen der einzelnen (Kugel-)Koordinaten.
Beispiel 4.54 (Volumen des Balles mit Radius ).
Wir berechnen das Volumen des Balles . Es gilt
wobei wir die Integrationsregel verwendet haben.
Beispiel 4.55 (Trägheitsmoment des Balles).
Wir wollen das Trägheitsmoment des Balles mit Radius berechnen, wobei wir annehmen wollen, dass die Masse gleichmässig mit Dichte im Ball verteilt ist. Wir gehen hier ähnlich wie in Beispiel 4.52 vor und wollen annehmen, dass der Ball mit Mittelpunkt gegeben ist und wir diesen um die -Achse rotieren lassen wollen. Daraus ergibt sich
Beispiel 4.56 (Trägheitsmoment einer Kugelschale).
Wir wollen nun annehmen, dass die Masse mit gleichmässiger Dichte (in ) an der Oberfläche des Balles mit Radius verteilt ist, und wiederum das Trägheitsmoment berechnen. Da die Oberfläche zwei-dimensional ist, liegt es nahe zu erwarten, dass wir auch ein zwei-dimensionales Integral berechnen müssen. Wir werden auch dies im zweiten Semester genauer definieren und dessen Eigenschaften vollständig erklären, doch begnügen wir uns hier mit folgenden beiden Rechnungen.
Die Oberfläche der Kugel ist gegeben durch
wobei wir uns die Kugeloberfläche als Vereinigung von kleinen „Sphärenrechtecken“ (ähnlich wie in Figur 4.8) vorgestellt haben und dabei das Ihnen wahrscheinlich bekannte Ergebnis erhalten haben.
Durch diesen Erfolg bestätigt berechnen wir die Dichte und das Trägheitsmoment
4.9.6 Zusammenfassung
Wir hoffen, dass Sie in dieser Diskussion folgende Punkte erkennen konnten: