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9.1 Der Fundamentalsatz der Integral- und Differentialrechnung

Definition 9.1.

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall in und sei f R([a,b]) eine auf [a, b] Riemann-integrierbare Funktion. Die Funktion

x [a,b]axf (t)d t

nennt sich das Integral mit veränderlicher oberer Grenze oder das partikuläre Integral von f.

Man beachte, dass für f R([a,b]) und x [a, b] das Integral axf(t)d t wohldefiniert ist (siehe Satz 4.26 über die Intervalladditivität des Riemann-Integrals). Wir erinnern daran, dass wir in Übung 4.28 bereits die Stetigkeit des partikulären Integrals gezeigt haben. Mit etwas stärkeren Annahmen ergibt sich nun folgender Satz von fundamentaler Bedeutung.

Theorem 9.2 (Ableitung des Integrals).

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten a < b und sei f R([a,b]) eine auf [a, b] Riemann-integrierbare Funktion. Falls f bei x0 [a, b] stetig ist, so ist F : x [a,b] axf(t)d t bei x0 differenzierbar und F(x0) = f(x0).

Beweis.

Sei 𝜀 > 0. Dann existiert ein δ > 0 mit

|f(x) f(x0)| < 𝜀

für alle x (x0 δ,x0 + δ) [a,b]. Wir verwenden dies nun in Kombination mit der Dreiecks-Ungleichung für das Riemann-Integral (Satz 4.24) und der Intervalladditivität des Riemann-Integrals (Satz 4.26), um die Aussage zu zeigen. Für x (x0,x0 + δ) [a,b] gilt

|F(x) F(x0) x x0 f (x0)| = | 1 x x0 (axf(t)d t ax0 f(t)d t) f (x0)| = | 1 x x0x0xf (t)d t f (x 0)| = | 1 x x0x0xf (t)d t 1 x x0x0xf (x 0) d t| = | 1 x x0x0x (f (t) f (x 0)) d t| 1 x x0x0x |f (t) f (x 0)| d t 1 x x0x0x𝜀d t = 𝜀.

Analog gilt für x (x0 δ,x0) [a,b], dass

|F(x) F(x0) x x0 f (x0)| = |F(x0) F(x) x0 x f (x0)| = | 1 x0 xxx0 (f (t) f (x0)) d t| 1 x0 xxx0 |f (t) f (x0)| d t 𝜀.

Da 𝜀 > 0 beliebig war, beweist dies lim xx0F(x)F(x0) xx0 = f (x0) und damit den Satz.   

PIC

     Figur 9.1: Illustration zum Beweis von Theorem 9.2. Der Wert F(x) F(x0) lässt sich schreiben als f(x0)(x x0) plus die Fläche in Rot, die kleiner ist als 𝜀(x x0). Somit ist F(x)F(x0) xx0 , bis auf einen Fehler kleiner als 𝜀, durch f(x0) gegeben.     

Korollar 9.3 (Ableitung des Integrals).

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten a < b und sei f C([a,b]) stetig. Dann ist x [a, b] axf(t)d t eine Stammfunktion von f und jede Stammfunktion F : [a,b] von f hat die Form

F(x) =axf(t)d t + C (9.1)

für alle x [a,b] und eine Konstante C .

Beweis.

Nach Satz 4.42 ist f Riemann-integrierbar. Nach Theorem 9.2 ist

x [a,b]axf(t)d t

differenzierbar und eine Stammfunktion von f. Nach Lemma 8.59 unterscheidet sich jede weitere Stammfunktion nur um eine Konstante von dieser, was die Formel im Korollar beweist.   

Korollar 9.4 (Berechnung des Integrals).

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten a < b und sei f C([a,b]) stetig. Falls F : [a,b] eine Stammfunktion von f ist, dann gilt

abf (t)d t = F (b) F (a).

Wir werden auch öfter die Abkürzung  [F (x) ]ab = [F (x) ]x=ax=b = F (b) F (a) verwenden.

Beweis.

Nach Korollar 9.3 gilt (9.1). Setzen wir x = a erhalten wir für die Konstante C = F(a) und das Korollar folgt nun indem wir x = b in (9.1) einsetzen.   

Korollar 9.5 (Integral der Ableitung).

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten a < b und sei F C1([a,b]) stetig differenzierbar. Dann gilt

F(x) = F(a) +axF(t)d t

für alle x [a,b].

Insbesondere kann der Wert von F an jeder Stelle x vollständig durch den Wert von F bei der Stelle a und die Werte der Funktion F beschrieben werden.

Beweis.

Die Funktion F0 : x [a,b] axF(t)d t ist nach Korollar 9.3 ebenso wie F eine Stammfunktion. Sei C mit F(x) = F0(x) + C für alle x [a, b] nach Korollar 9.3. Setzen wir x = a ein, so erhalten wir

F(a) = F0(a) + C =aaF(t)d t + C = C.

Somit ist

F(x) = F(a) + F0(x) = F(a) +axF(t)d t

für alle x [a,b], wie zu zeigen war.   

Die obigen Resultate sind auch als der Fundamentalsatz der Integral- und Differentialrechnung bekannt und gehen auf die Arbeiten von Leibniz, Newton und Barrow zurück, die weitgehend die Ausgangspunkte der Analysis darstellen. Zur Vereinfachung der Diskussion haben wir Stetigkeit von f beziehungsweise F angenommen. Diese Annahme lässt sich auf verschiedene Arten abschwächen.

Übung 9.6 (Theorem 9.2 für „fast überall“ stetige Funktionen).

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten a < b und sei f R([a,b]) Riemann-integrierbar und bei höchstens endlich vielen Punkten unstetig. Zeigen Sie, dass die verallgemeinerte Stammfunktion F mit F(x) = axf(t)d t für x [a, b] stetig ist und bei allen Punkten x [a,b] bis auf endlich viele Ausnahmen differenzierbar ist mit F(x) = f(x).

Wichtige Übung 9.7 (Fundamentalsatz für komplexe Funktionen).

In obigem Satz und dessen Korollaren haben wir für die Aussagen eigentlich nicht wirklich verwendet, dass die betrachteten Funktionen reellwertig sind. Zeigen Sie deswegen, dass alle obigen Resultate für komplexwertige Funktionen zutreffen.

Hinweis.

Sie brauchen nicht nochmals die Beweise durchzuführen. Für eine Riemann-integrierbare Funktion g : [a, b] lässt sich das Riemann-Integral von g in das Integral über den Realteil und das Integral über den Imaginärteil von g zerlegen.

Zusammenfassend wollen wir noch betonen, dass auf Grund obiger Resultate die Berechnung von Riemann-Integralen und damit insbesondere von Flächeninhalten, Schwerpunkkoordinaten, Arbeitsberechnungen, Bogenlängen und Volumen von Rotationskörpern (siehe Abschnitt 9.7) auf die Berechnung von Stammfunktionen zurückgeführt werden kann.

Übung 9.8 (Mittelwertsatz der Integralrechnung).

Sei [a, b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten a < b und f : [a, b] stetig. Zeigen Sie, dass ein ξ (a,b) existiert mit

abf (x)d x = f (ξ) (b a).

Können Sie zwei verschiedene Beweise finden?

Hinweis.

Verwenden Sie entweder den Zwischenwertsatz für stetige Funktionen oder den Mittelwertsatz der Differentialrechnung.

Übung 9.9 (Riemann-integrierbare Ableitung).

Wir möchten hier eine etwas stärkere Version von Korollar 9.5 thematisieren. Sei [a,b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten a < b und F : [a, b] eine differenzierbare, reellwertige Funktion mit F R([a,b]). Zeigen Sie, dass F(x) = F(a) + axF(t)d t für alle x [a,b].

Hinweis.

Betrachten Sie eine Zerlegung = {a = x0 < < xn = x} des Intervalles [a, x] und wenden Sie auf k=1nF(xk) F(xk1) den Mittelwertsatz an. Verwenden Sie dann Riemann-Summen.

Applet 9.10 (Fundamentalsatz).

Wir sehen hier nochmals die Idee des Beweises des Fundamentalsatzes der Integral- und Differentialrechnung (Theorem 9.2), wobei unten das partikuläre Integral der Funktion im oberen Fenster dargestellt wird.

9.1.1 Differentiation von Potenzreihen

Wir wenden nun den Fundamentalsatz an, um zu zeigen, dass sich Potenzreihen nicht nur integrieren (siehe Satz 7.85), sondern auch differenzieren lassen.

Korollar 9.11 (Differentiation von Potenzreihen).

Sei f(x) = n=0cnxn eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0. Dann ist f : (R,R) differenzierbar und es gilt

f(x) = n=1nc nxn1

für alle x (R,R), wobei die Potenzreihe rechts ebenfalls Konvergenzradius R hat.

Beweis.

Sei g(x) die Potenzreihe n=1ncnxn1 = k=0(k + 1)ck+1xk und sei S der zugehörige Konvergenzradius. Nach Satz 7.56 ist g auf (S, S) stetig und nach Satz 7.85 darf g(x) gliedweise integriert werden. Genauer gesagt besagt Satz 7.85, dass G : (S, S) gegeben durch

G (x) =0xg (t)d t = k=0(k + 1)ck+1 k + 1 xk+1 = k=0c k+1xk+1

wieder eine Potenzreihe mit Konvergenzradius S darstellt. Nach Korollar 9.3 gilt weiters, dass G eine Stammfunktion von g = G darstellt. Da dies aber abgesehen vom ersten Glied der Reihe genau die Potenzreihe f ist, stimmen die Konvergenzradien R = S überein, f ist differenzierbar und f(x) = G(x) = g(x) = n=1ncnxn1 für alle x (R,R).   

Korollar 9.11 lässt sich leicht anpassen, um zu zeigen, dass durch Potenzreihen gegebene Funktionen glatt sind.

Übung 9.12 (Verallgemeinerung von Korollar 9.11).

Sei f(x) = n=0cnxn eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0. Zeigen Sie, dass f : (R,R) glatt ist und finden Sie eine Darstellung von f(n) durch eine Potenzreihe für jedes n .

Übung 9.13 (Koeffizientenvergleich für Potenzreihen).

Seien f(x) = n=0cnxn und g(x) = n=0dnxn Potenzreihen mit reellen Koeffizienten und positiven Konvergenzradien Rf,Rg. Sei R = min {Rf,Rg} und angenommen f(x) = g(x) für alle x (R,R). Zeigen Sie, dass dann cn = dn für alle n 0 und damit Rf = Rg gilt.

Hinweis.

Verwenden Sie Korollar 9.11 und Übung 9.12.

Übung 9.14 (Potenzreihenentwicklung für Wurzeln).

Sei α . Wir wollen hier zeigen, dass

(1 + x)α = n=0α nxn

für alle x (1,1), wobei die verallgemeinerten Binomialkoeffizienten für n 0 durch

α n = j=0n1(α j) n! = α(α 1)(α n + 1) n!

definiert sind.

(a)
Zeigen Sie, dass für α0 die Potenzreihe g(x) = n=0α nxn

Konvergenzradius 1 hat.

(b)
Berechnen Sie die Ableitung von g und zeigen Sie, dass f(x) = (1 + x)α und g(x) die Differentialgleichung y = α y 1 + x

erfüllen.

(c)
Berechnen Sie die Ableitung von g(x) f(x) und schliessen Sie die Behauptung.
Hinweis.

Für (b) müssen Sie die Gleichung

(n + 1) α n + 1 + nα n = αα n

zeigen (was mit der richtigen Interpretation des Produkts j=0n1(α j) auch für n = 0 gilt).

9.1.2 Die alternierende harmonische Reihe

Wir haben bereits in Beispiel 7.20 gesehen, dass die alternierende harmonische Reihe n=1(1)n+1 n konvergiert, was auch aus dem Leibniz-Kriterium (Proposition 7.25) folgt. Mit den Resultaten von Kapitel 7 konnten wir den Wert der Reihe aber nicht bestimmen. Nun können wir mit Hilfe des Fundamentalsatzes der Integral- und Differentialrechnung die Identität

n=1(1)n+1 n = log (2)

beweisen.

Es ist in diesem Fall (vielleicht überraschenderweise) einfacher, eine allgemeinere Aussage zu zeigen. Wir beginnen hierfür mit

(log (1 + x)) = 1 1 + x = 1 1 (x) = n=0(1)nxn

für alle x (1,1), wobei die Reihe rechts Konvergenzradius 1 hat (und an den Endpunkten divergiert). Nach Korollar 9.5 und Satz 7.85 folgt daraus, dass

log (1 + x) = log (1) +0x 1 1 + td t = n=0(1)n n + 1 xn+1 = k=1(1)k+1 k xk

für alle x (1,1). Da die Potenzreihe rechts auch für x = 1 konvergiert, ist die Funktion

f : x (1,1] k=1(1)k+1 k xk

nach dem Abelschen Grenzwertsatz (Satz 7.65) auch bei x = 1 stetig. Da die Funktion mit Definitionsbereich (1,1] definiert durch log (1 + x) für x (1,1] ebenfalls stetig ist und für x (1,1) mit f(x) übereinstimmt, ist

log (2) = lim x1 log (1 + x) = lim x1f (x) = n=1(1)n+1 n .

9.1.3 Die Leibniz-Reihe

Wir verwenden obige Methode nochmals, um

n=0(1)n 2n + 1 = π 4 (9.2)

zu beweisen.

Nach dem Leibniz-Kriterium (Satz 7.25) ist die Reihe n=0(1)n 2n+1 konvergent. Wir beginnen die Berechnung ihres Wertes mit

arctan (x) = 1 1 + x2 = n=0(1)nx2n.

für x (1,1). Nach Korollar 9.5 gilt

arctan (x) = arctan (0) +0x 1 1 + t2 d t = n=0(1)n 2n + 1x2n+1

Stetigkeit des Arkustangens bei x = 1, der Abelsche Grenzwertsatz (Satz 7.65) und die Identität arctan (1)= π 4 beweisen nun (9.2).

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Analysis I (Kap. 1-9) Copyright © by Manfred Einsiedler. All Rights Reserved.

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