9.7 Anwendungen
9.7.1 Flächeninhalte
Wir wollen hier nochmals Beispiele für Flächenberechnungen besprechen, welche unter anderem den Namen der Umkehrfunktionen der hyperbolischen Funktionen erklären.
Beispiel 9.64.
Wir berechnen den Flächeninhalt des Kreises mit Radius . Dieser ist durch definiert (wieso?), und gemeinsam mit Bespiel 9.21 ergibt sich daraus
Beispiel 9.65 (Hyperbolische Umkehrfunktionen).
Wir verwenden die Funktion
um die „ positive Hälfte“ der Hyperbel zu parametrisieren. Wir stellen uns den Parameter vorerst als Zeit vor. In diesem Sinne beschreibt (9.22) eine Bewegung im . Wir wollen den Flächeninhalt des folgenden Gebietes in Rosa zwischen dem Ursprung und einem Teil der Hyperbel berechnen.
Dieser ist der Flächeninhalt des eingezeichneten Dreiecks minus dem Flächeninhalt unterhalb der Hyperbel zwischen der und in Blau. Letztere Fläche ist durch gegeben. Um dieses Integral zu berechnen, verwenden wir die hyperbolische Substitution , und erhalten
Somit ist der Flächeninhalt des gesuchten Gebiets
Dies erklärt die Namen „Areasinus Hyperbolicus“ und „Areakosinus Hyperbolicus“ der Umkehrfunktionen der hyperbolischen Funktionen (wieso?).
9.7.2 Bogenlänge
Im Folgenden möchten wir einen stetige Funktion für , auch Weg oder Kurve von nach genannt, betrachten. Dabei fassen wir als Zeitparameter und als die Position zum Zeitpunkt auf.
Falls alle Komponenten von stetig differenzierbar sind, interpretieren wir für einen Zeitpunkt den Ausdruck als die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt .
Wir möchten nun die Bogenlänge des Weges als die gesamte Strecke, die zwischen den Zeiten und zurückgelegt wurde, definieren. Dabei soll gelten, dass die zurückgelegte Strecke zwischen gleichen Zeiten und Null ist und dass sich Strecken additiv verhalten, also dass die zwischen den Zeiten zurückgelegte Strecke plus die zwischen den Zeiten zurückgelegte Strecke gerade die zwischen den Zeiten zurückgelegte Strecke ist. Im Sinne von Definition 4.29 ist die zurückgelegte Strecke also eine additive Intervallfunktion auf .
Des Weiteren möchten wir natürlich verlangen, dass die in einem Teilintervall mit zurückgelegte Strecke zwischen mal die minimale Geschwindigkeit in und mal die maximale Geschwindigkeit in liegt. Nach Proposition 4.30 ist daher die einzig vernünftige Definition der Bogenlänge des Weges der Ausdruck
Anders formuliert ist also die Länge des zurückgelegten Weges das Integral über die Geschwindigkeitsfunktion.
Beispiel 9.66 (Umfang des Kreises).
Wir betrachten den Weg
Wegen sind der Start- und der Endpunkt von gleich (wir sagen auch, dass der Weg geschlossen ist). Auch gilt für die Geschwindigkeit zu jedem Zeitpunkt
Der Weg (oder die Kurve) durchläuft (wegen für alle ) den Einheitskreis also mit konstanter Geschwindigkeit Eins. Deswegen gilt
Des Weiteren besucht jeden Punkt (bis auf den Endpunkt) genau einmal (siehe auch Abschnitt 7.6.4). Einen solchen Weg nennen wir auch einfach. Deswegen lässt sich die Bogenlänge von auch als den Umfang des Einheitskreises auffassen, der somit ist. Dies gilt analog für Teilstrecken und definiert den Begriff Winkel als Bogenlänge am Einheitskreis.
Sei ein stetig differenzierbarer Weg ausgehend von einem Intervall mit Endpunkten . Eine stetig differenzierbare Reparametrisierung von ist ein Weg der Form , wobei ein kompaktes Intervall mit Endpunkten ist und eine stetig differenzierbare, monoton wachsende, bijektive Funktion ist. Wenn wir uns als einen „ Fahrplan eines Autobusses“ vorstellen, dann entspricht einer „ Fahrplanänderung“.
Intuitiv ausgedrückt ist eine Reparametrisierung eines Weges also ein Weg mit denselben Endpunkten (da und ) und der immer in dieselbe Richtung geht (wegen Monotonie). Anschaulich kann man deswegen erwarten, dass jede Reparametrisierung eines Weges dieselbe Bogenlänge hat. Auch wollen wir zeigen, dass ein nie anhaltender Weg so reparametrisiert werden kann, dass der neue Weg Einheitsgeschwindigkeit hat. Falls nie anhält oder genauer falls für alle , so nennen wir regulär.
Lemma 9.67 (Reparametrisierungen eines Weges).
Sei ein stetig differenzierbarer Weg für . Dann hat jede Reparametrisierung von dieselbe Bogenlänge. Falls regulär ist, gibt es eine Reparametrisierung von mit Einheitsgeschwindigkeit, welche auch die Parametrisierung nach Bogenlänge genannt wird.
In Beispiel 9.66 ist der betrachtete Weg bereits nach Bogenlänge parametrisiert.
Beweis.
Sei ein kompaktes Intervall mit Endpunkten und eine stetig differenzierbare, monoton wachsende, bijektive Funktion. Dann gilt
Für die zweite Aussage konstruieren wir nun eine geeignete Funktion wie oben. Sei
Wegen für alle sowie und ist eine streng monoton wachsende, stetig differenzierbare Bijektion. Insbesondere ist ebenfalls streng monoton wachsend und stetig differenzierbar. Zur Zeit berechnen wir nun die Geschwindigkeit von . Ist , so gilt wegen auch
Somit hat die Reparametrisierung die gewünschte Eigenschaft.
Übung 9.68 (Eindeutigkeit der Parametrisierung).
In Lemma 9.67 wird bereits von der Parametrisierung nach Bogenlänge gesprochen. Wir wollen dies hier begründen. Sei ein stetig differenzierbarer, regulärer Weg. Nach Lemma 9.67 dürfen wir annehmen, dass Einheitsgeschwindigkeit hat. Zeigen Sie, dass es keine weitere Reparametrisierung von mit Einheitsgeschwindigkeit gibt.
Übung 9.69 (Totale Variation des Weges).
In dieser Übung wollen wir noch eine weitere Begründung für die Definition der Bogenlänge eines Weges geben. Hierfür interpretieren wir als den Abstand zweier Punkte . Die totale Variation von ist definiert als
wobei das Supremum über alle Zerlegungen von genommen wird. Nehmen Sie nun an, dass stetig differenzierbar ist und zeigen Sie .
Hinweis.
Verwenden Sie den Mittelwertsatz für jede Komponente von in jedem Intervall für und gemeinsam mit gleichmässiger Stetigkeit der Funktion .
Für einen Weg und eine stetige Funktion kann ein Integral der Form
auch physikalische Bedeutung haben. Zum Beispiel kann der Weg einen verbogenen Draht (mit konstanter Dichte ) beschreiben. In diesem Fall gibt
die -te Koordinate des Schwerpunktes des Drahtes an, wobei .
9.7.3 Wegintegrale von Vektorfeldern
Wir kommen nun zu einem weiteren Typ von Wegintegralen, der sowohl für die Physik als auch für die weitere Analysis wichtig sein wird. Hierfür betrachten wir nochmals reelle Zahlen und einen stetig differenzierbaren Weg . Wir interpretierten ja bereits als Geschwindigkeit (in ) des Weges zum Zeitpunkt (in ) und wollen analog dazu die Ableitung als den Geschwindigkeitsvektor zum Zeitpunkt interpretieren (mit jeder Koordinate in ), der eben nicht nur die augenblickliche Geschwindigkeit als eindimensionale Grösse angibt, sondern auch die Richtung der Bewegung beschreibt.
Sei eine stetige Funktion (siehe Abschnitt 5.4.1), welche wir als ein Kraftfeld interpretieren und bei jedem Punkt die Richtung und Stärke einer Krafteinwirkung zum Beispiel auf Grund von Wind angibt (mit jeder Koordinate in ). Wir nennen in diesem Zusammenhang auch ein Vektorfeld und visualisieren für (und etwas schwieriger auch für ) dieses durch eine Ansammlung von Vektoren bei mehreren Punkten im Definitionsbereich, siehe folgendes Bild.
Das innere Produkt gibt damit die Leistung (in ) an, die bei Bewegung mit vorgeschriebener Geschwindigkeit von der Krafteinwirkung zum Zeitpunkt geleistet wird. Hierbei kann es vorkommen, dass Krafteinwirkung und Geschwindigkeit ähnliche Richtungen haben und das innere Produkt positiv ist. Ebenso kann es aber vorkommen, dass Krafteinwirkung und Geschwindigkeit entgegengesetzt sind und das innere Produkt negativ ist. In diesem Sinne (siehe auch Abschnitt 4.4.4) berechnet das sogenannte Wegintegral
die Arbeit, die von der Krafteinwirkung insgesamt geleistet wurde.
Wir werden im zweiten Semester derartige Integrale nochmals genauer untersuchen und dann zum Beispiel folgende Frage beantworten können: Wie kann man einem Kraftfeld ansehen, ob das Wegintegral nur von Anfangspunkt und Endpunkt abhängt und nicht von der Wahl des konkreten Weges von nach ?
Beispiel 9.70 (Abhängigkeit von der Wahl des Weges).
Sei definiert durch . Wir betrachten den Weg definiert durch für . Dann ist das Wegintegral von über den Weg von nach durch
gegeben. Verwenden wir allerdings den Weg definert durch für , so sind zwar Anfangs- und Endpunkte unverändert, doch ist das Wegintegral durch
gegeben.
Applet 9.71 (Wegintegral).
Wir stellen sowohl das Vektorfeld , einen verschiebbaren Weg mit animiertem Punkt , die Ableitung und darunter den Graph der Funktion dar.
9.7.4 Volumen von Rotationskörpern*
Sei ein kompaktes Intervall mit Endpunkten und stetig. Wir betrachten das Gebiet
und den zugehörigen Körper
der sich aus Rotation von um die -Achse ergibt. Sind die beiden Zylinder mit Radius respektive um die -Achse gegeben, so will man wegen den Enthaltungen , dass das Volumen von zwischen und liegt. Wir halten dies in folgendem Bild fest, wo gemeinsam mit dem Rotationskörper eine von vielen „ Scheiben“, die zusammen den Körper approximieren, dargestellt werden.
Deswegen (siehe auch Übung 9.73) definieren wir das Volumen des Rotationskörpers durch
Beispiel 9.72 (Volumen der Kugel).
Sei für die Kugel mit Radius . Die Kugel lässt sich auch als Rotationskörper mittels der Funktion auffassen. Ihr Volumen ist deswegen durch
gegeben.
Übung 9.73.
Motivieren Sie die Definition des Volumen eines Rotationskörpers mit mehr Details in Analogie zu Abschnitt 9.7.2 unter Verwendung von Proposition 4.30.
9.7.5 Oberflächen von Rotationskörpern*
Obwohl Proposition 4.30 oft ein guter Wegweiser für das Auffinden einer geeigneten Definition darstellt, müssen oder können wir diese nicht immer als Grundlage wählen. Manchmal begnügen wir uns mit geometrischer Intuition als Motivation der Definition.† Man kann die Sinnhaftigkeit einer Definition zwar hinterfragen, doch kann man eine Definition ohnehin nicht beweisen.
Wir betrachten in , eine stetig differenzierbare Funktion und den Rotationskörper
wie im letzten Abschnitt.
In einem kleinen Teilintervall der Länge ist die Funktion der Tangente für ein sehr nahe. Ausserdem wird die Oberfläche des Anteils von , der dem Intervall entspricht, sehr gut durch die Aussenoberfläche des Kegelstumpfs beschrieben, der entsteht, wenn man obiges Tangentenstück zwischen und um die -Achse rotiert. Die Aussenoberfläche eines Kegelstumpfs ist näherungsweise , wobei die Länge der Aussenkante des Kegelstumpfs und der Umfang einer der beiden Kreise darstellt (wieso?).
Die Oberfläche sollte also näherungsweise durch
gegeben sein, wobei für jedes einen Zwischenpunkt darstellt. Deswegen definieren wir nun die Oberfläche des Rotationskörpers als
Beispiel 9.74 (Kugeloberfläche).
Wie in Beispiel 9.72 betrachten wir zu die Funktion , deren Rotationskörper gerade die Kugel von Radius ist. Für alle ist
Damit ist die Kugeloberfläche gleich
Übung 9.75 (Eine lange Nadel).
Berechnen Sie das Volumen und die Oberfläche des „uneigentlichen Rotationskörpers“, der entsteht, wenn man das Gebiet unter dem Graphen der Funktion um die -Achse rotiert.