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3 Funktionen und die reellen Zahlen

Wir haben im letzten Kapitel die reellen Zahlen eingeführt und ihre grundlegenden Eigenschaften besprochen. In diesem Kapitel werden wir einige weitere elementare Konstruktionen und reellwertige oder komplexwertige Funktionen betrachten. Des Weiteren werden wir für solche Funktionen erste Eigenschaften definieren und das Vollständigkeitsaxiom (in der Form der Existenz des Supremums) dazu verwenden, grundlegendes Wissen über «stetige» Funktionen auf Intervallen zu erarbeiten.

3.1 – Summen und Produkte

Sei [latex]n \in \mathbb {N}[/latex] und seien [latex]a_1,\ldots ,a_n \in \mathbb {C}[/latex] oder [latex]a_1,\ldots ,a_n[/latex] Elemente eines Vektorraums [latex]V[/latex] (wie zum Beispiel [latex]\mathbb {R}^d[/latex] für ein [latex]d \geq 1[/latex]). Wir wollen hier für eine natürliche Zahl [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] die Summe von [latex]a_1[/latex] bis [latex]a_n[/latex], also

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{j=1}^n a_j = a_1+\ldots +a_n,\end{aligned}
[/latex]

besprechen und formal korrekt definieren.

Vom formalen Standpunkt her gesehen ist [latex]j \mapsto a_j\in V[/latex] eine Funktion, (die oft auch durch eine konkrete Formel gegeben sein wird und) deren Definitionsbereich die Menge

[latex]
\begin{aligned}[]\left \lbrace {j \in \mathbb {N}} \mid {1 \leq j \leq n}\right \rbrace\end{aligned}
[/latex]

enthalten muss. Wir können [latex]\sum _{i=1}^n a_j[/latex] rekursiv definieren durch

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{j=1}^1 a_j = a_1\text { und } \sum _{j=1}^{k+1} a_j = \bigg (\sum _{j=1}^{k} a_j\bigg ) + a_{k+1}\end{aligned}
[/latex]

für [latex]k \in \left \lbrace {1,\ldots ,n-1} \right \rbrace[/latex]. Diese Definition entspricht einem einfachen rekursiven Algorithmus, um die Summe [latex]\sum _{i=1}^n a_j[/latex] zu berechnen. Allgemeiner ist die Summe [latex]\sum _{i=m}^n a_j[/latex] für ganze Zahlen [latex]m,n[/latex] ebenso rekursiv durch

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{j=m}^na_j=\begin{cases}0 &\text {falls }m>n,\\ a_m &\text {falls }m=n\text { und}\\ \big (\sum _{j=m}^{n-1} a_j\big ) + a_{n}&\text {falls }m[/latex]

definiert. Wir werden [latex]a_j[/latex] als die Summanden und [latex]j[/latex] als den Index der Summe [latex]\sum _{j=1}^n a_j[/latex] bezeichnen.

Falls nun [latex]m,n[/latex] ganze Zahlen und [latex]a_m,\ldots ,a_n \in \mathbb {C}[/latex] sind, dann können wir auch das Produkt [latex]\prod _{j=m}^n a_j[/latex] von [latex]a_m[/latex] bis [latex]a_n[/latex] rekursiv durch

[latex]
\begin{aligned}[]\prod _{j=m}^na_j=\begin{cases}1 &\text {falls }m>n,\\ a_m &\text {falls }m=n\text { und}\\ \big (\prod _{j=m}^{n-1} a_j\big ) \cdot a_{n}&\text {falls }m[/latex]

definieren. Wir werden [latex]a_j[/latex] als die Faktoren und [latex]j[/latex] als den Index des Produkts [latex]\prod _{j=m}^n a_j[/latex] bezeichnen.

Der Index [latex]j[/latex] in der Summe [latex]\sum _{j=1}^na_j[/latex] oder dem Produkt [latex]\prod _{j=1}^n a_j[/latex] hat ausserhalb der Summe oder dem Produkt keinerlei Bedeutung; er ist sozusagen eine interne Variable für das rekursive Teilprogramm und wird von einem Programm, welches das Teilprogramm aufruft, nicht gesehen. Insbesondere gilt

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{j=m}^n a_j = \sum _{k=m}^n a_k = \sum _{\ell =m}^n a_\ell\end{aligned}
[/latex]

und analog für das Produkt. Manchmal werden wir auch eine Indexverschiebung anwenden, wie zum Beispiel in
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-index shift} \sum _{j=m}^n a_j = \sum _{k=m-1}^{n-1} a_{k+1} = \sum _{\ell =m+1}^{n+1} a_{\ell -1}.\end{aligned}
[/latex]
Dies lässt sich direkt mittels vollständiger Induktion beweisen (siehe die folgende Übung), doch wollen wir bemerken, dass es leicht ist, sich diese Formeln zu merken. Statt diese auswendig zu lernen, überprüfen Sie einfach bei Auftreten von Indexverschiebungen dieser Form bei beiden Summen, ob jeweils diesselben Ausdrücke für den ersten und den letzten Summanden auftreten.

Übung 3.1: Indexverschiebung

Beweisen Sie Gleichung (3.1) und eine analoge Formel für das Produkt mittels vollständiger Induktion.

Hinweis.

Bei dem Induktionsbeweis bezüglich der Variable [latex]n\geq m[/latex] werden Sie feststellen, dass man genau die Eigenschaften in obiger Merkregel verwendet: Für den Induktionsanfang [latex]n=m[/latex] müssen die ersten Summanden übereinstimmen. Für den Induktionsschritt von [latex]n[/latex] nach [latex]n+1[/latex] müssen die zusätzlichen (also die letzten) Summanden übereinstimmen.

Der einfachste Fall einer Funktion [latex]j \mapsto a_j[/latex] ist der Fall der konstanten Funktion [latex]a_j = z[/latex] für ein [latex]z[/latex] und für alle [latex]j[/latex]. In diesem Fall ergibt sich die Summe zu [latex]\sum _{j=1}^n z = nz[/latex] für alle [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] und [latex]z\in \mathbb {C}[/latex] (oder [latex]z[/latex] in einem Vektorraum). Im Falle des Produkts erhalten wir aber die Definition der Potenzfunktion für [latex]z\in \mathbb {C}[/latex] und [latex]n\in \mathbb {N}[/latex]

[latex]
\begin{aligned}[]z^n = \prod _{j=1}^n z,\end{aligned}
[/latex]

die somit rekursiv durch

[latex]
\begin{aligned}[]z^1 = z \text { und } z^{n+1}= z^n z\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]n \in \mathbb {N}[/latex] definiert ist. Wir nennen [latex]z[/latex] die Basis und [latex]n[/latex] den Exponenten. Wir erweitern diese Definition durch
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-z^0 = 1} z^0 = 1\end{aligned}
[/latex]
für alle [latex]z\in \mathbb {C}[/latex] (insbesondere[1] für [latex]z=0[/latex]) und

[latex]
\begin{aligned}[]z^{-n} = (z^n)^{-1}\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]z \in \mathbb {C}^\times := \mathbb {C} \setminus \left \lbrace {0} \right \rbrace[/latex] und [latex]n\in \mathbb {N}[/latex]. Die nächste Übung zeigt, dass die so definierte Potenzfunktion die üblichen Rechenregeln erfüllt.

Wichtige Übung 3.2

Beweisen Sie [latex](zw)^m=z^mw^m[/latex], [latex]z^{m+n} = z^m z^n[/latex] und [latex](z^m)^n = z^{mn}[/latex] zuerst für alle [latex]z,w\in \mathbb {C}[/latex] und [latex]m,n\in \mathbb {N}_0[/latex] mit vollständiger Induktion und dann für alle [latex]z,w \in \mathbb {C}^\times[/latex] und [latex]m,n \in \mathbb {Z}[/latex].

Teillösung

Wir beweisen [latex](zw)^m=z^mw^m[/latex] für alle [latex]z,w\in \mathbb {C}[/latex] und [latex]m\in \mathbb {N}_0[/latex] mittels Induktion nach [latex]m[/latex]. Für [latex]m=0[/latex] ergibt sich [latex]1=1\cdot 1[/latex] nach Definition. Angenommen die Aussage gilt bereits für ein [latex]m\in \mathbb {N}_0[/latex], dann gilt ebenso

[latex]
\begin{aligned}[](zw)^{m+1}=(zw)^m(zw)=z^mw^mzw=z^{m+1}w^{m+1}.\end{aligned}
[/latex]

Dies beweist den Induktionsschritt und damit die gewünschte Aussage.

Bemerkung

Formal gesehen sollten wir auch alle weiteren Rechenregeln in diesem Abschnitt mit vollständiger Induktion beweisen. Da uns diese Beweise aber sehr wenig lehren, werden wir darauf verzichten.

3.1.1 – Rechenregeln für die Summe

Die Summe erfüllt für gegebene ganze Zahlen [latex]m,n[/latex] mit [latex]m \leq n[/latex] die Gleichungen

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=m}^n(a_k+b_k) = \sum _{k=m}^na_k + \sum _{k=m}^nb_k\end{aligned}
[/latex]

und

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=m}^n(ca_k) = c \sum _{k=m}^na_k,\end{aligned}
[/latex]

wobei [latex]a_m,\ldots ,a_n[/latex], [latex]b_m,\ldots ,b_n[/latex] in einem reellen (respektive komplexen) Vektorraum [latex]V[/latex] liegen und [latex]c\in \mathbb {R}[/latex] (respektive [latex]c\in \mathbb {C}[/latex]) ein Skalar ist. (Die erste Eigenschaft ist eine Mischung aus Assoziativgesetz und Kommutativgesetz für die Addition, und die zweite Eigenschaft ist eine Verallgemeinerung des Distributivgesetzes.)

Diese beiden Eigenschaften (die Summe wird auf die Summe und das skalare Vielfache auf das skalare Vielfache abgebildet) werden auch als Linearität der Abbildung [latex]\sum[/latex] bezeichnet, wobei [latex]\sum[/latex] auf dem Vektorraum [latex]V^{\{ m,\ldots ,n\} }[/latex] der Funktionen von [latex]\{ m,\ldots ,n\}[/latex] nach [latex]V[/latex] definiert ist, den Vektorraum [latex]V[/latex] als Zielbereich besitzt, und [latex](a_m,\ldots ,a_n)\in V^{\{ m,\ldots ,n\} }[/latex] auf [latex]\sum _{k=m}^na_k[/latex] abbildet. Wie der Name sagt, wird Linearität ausführlicher in der Linearen Algebra besprochen. Es handelt sich dabei aber auch um eine wichtige Eigenschaft für die Analysis, welche also häufig auftreten.

Des Weiteren gilt die Formel für die Teleskopsumme

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=m}^n(a_{k+1}-a_k) &= (a_{m+1}-a_m) + (a_{m+2}-a_{m+1})+\ldots + (a_n-a_{n-1})+(a_{n+1}-a_n)\\ &= a_{n+1}-a_m\end{aligned}
[/latex]

wobei [latex]a_m,\ldots ,a_{n+1}[/latex] in einem reellen oder einem komplexen Vektorraum liegen. Formaler argumentiert gilt

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=m}^n(a_{k+1}-a_k) &= \sum _{k=m}^na_{k+1}-\sum _{k=m}^na_k = \sum _{j=m+1}^{n+1}a_j - \sum _{k=m}^n a_k\\ &= \Bigg (a_{n+1}+ \sum _{j=m+1}^na_j\Bigg ) - \Bigg (a_m + \sum _{k=m+1}^na_k\Bigg ) = a_{n+1}-a_m\end{aligned}
[/latex]

wie bereits behauptet. Die Formel für die Teleskopsumme lässt sich zur Abel-Summationsformel verallgemeinern, welche überraschend viele Anwendungen in der Analysis und Zahlentheorie findet.

Übung 3.3: Abel-Summation

Seien [latex]a_1,\ldots ,a_n,b_1,\ldots ,b_n \in \mathbb {C}[/latex]. Wir setzen [latex]A_k = \sum _{j=1}^k a_j[/latex] für [latex]k \in \mathbb {N}_0[/latex] mit [latex]k \leq n[/latex]. Zeigen Sie die Abel-Summationsformel

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=1}^n a_kb_k = A_nb_n + \sum _{k=1}^{n-1} A_k (b_k-b_{k+1}).\end{aligned}
[/latex]

Verwenden Sie dazu die Gleichung [latex]a_k = A_k-A_{k-1}[/latex] für alle [latex]k \in \mathbb {N}[/latex] mit [latex]k \leq n[/latex]. Wenden Sie des Weiteren die Abel-Summation auf die Summe [latex]\sum _{k=1}^{2n} \frac {(-1)^k}{k}[/latex] an.

Lösung

Wir bemerken zuerst, dass [latex]a_k = A_k-A_{k-1}[/latex] für alle [latex]k \in \mathbb {N}[/latex] mit [latex]k \leq n[/latex] auf Grund von [latex]A_0=0[/latex] und der rekursiven Definition der Summe [latex]A_k = \sum _{j=1}^k a_j[/latex] gilt. Nun gehen wir wie vorgeschlagen vor und erhalten

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=1}^n a_kb_k &=\sum _{k=1}^n (A_k-A_{k-1})b_k\\ &=\sum _{k=1}^n A_kb_k -\sum _{j=0}^{n-1}A_{j}b_{j+1}\\ &=A_nb_n+\sum _{k=1}^{n-1}A_k(b_k-b_{k+1}),\end{aligned}
[/latex]

wobei wir die Linearität der Summe, die Rekursionsformel der Summe und Indexverschiebung verwendet haben.

In dem Spezialfall [latex]a_k=(-1)^k[/latex] für [latex]1\leq k\leq 2n[/latex] ergibt sich (mittels vollständiger Induktion), dass [latex]A_k=0[/latex] für alle geraden [latex]k\leq 2n[/latex], insbesondere [latex]A_{2n}=0[/latex], und [latex]A_k=-1[/latex] für alle ungeraden [latex]k\leq 2n[/latex]. Da die ungeraden ganzen Zahlen [latex]k[/latex] mit [latex]1\leq k\leq 2n[/latex] genau die Form [latex]k=2\ell -1[/latex] für [latex]\ell =1,\ldots ,n[/latex] haben, erhalten wir daraus

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=1}^{2n}b_k = -\sum _{\ell =1}^n\left (b_{2\ell -1}-b_{2\ell }\right ).\end{aligned}
[/latex]

Also entspricht die Abel-Summation in diesem Fall einer Zusammenfassung von jeweils zwei benachbarten Summanden. Falls [latex]b_k=\frac 1k[/latex] für [latex]1\leq k\leq 2n[/latex], können wir noch [latex]b_{2\ell -1}-b_{2\ell }=\frac {1}{2\ell (2\ell -1)}[/latex] in diese Formel einsetzen.

Anstelle der Dreiecksungleichung werden wir oft auch folgende verallgemeinerte Dreiecksungleichung für Summen verwenden.

Wichtige Übung 3.4: Verallgemeinerte Dreiecksungleichung

Zeigen Sie, dass für alle Zahlen [latex]a_1,\ldots ,a_n\in \mathbb {C}[/latex] die Ungleichung

[latex]
\begin{aligned}[]\bigg \vert \sum _{i=1}^na_i \bigg \vert \leq \sum _{i=1}^n|a_i|.\end{aligned}
[/latex]

gilt.

Hinweis.

Wenden Sie Induktion nach [latex]n[/latex] an und verwenden Sie die reguläre Dreiecksungleichung und die rekursive Definition der Summe für den Induktionsschritt.

Manchmal wollen wir in einer Summe einen gewissen Summanden getrennt betrachten und dazu die Summe aufteilen. Dies kann dann zum Beispiel für [latex]1\leq k\leq n[/latex] die Form

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{j=1}^na_j=\sum _{j=1}^ka_j+\sum _{j=k+1}^na_j=\sum _{j=1}^{k-1}a_j+a_k+\sum _{j=k+1}^na_j\end{aligned}
[/latex]

annehmen. In dem Spezialfall [latex]k=1[/latex] sollte dies aber mit [latex]a_1+\sum _{j=2}^na_j[/latex] und in dem Spezialfall [latex]k=n[/latex] mit [latex]\sum _{j=1}^{n-1}a_j+a_n[/latex] übereinstimmen, was auf Grund unserer Definitionen [latex]\sum _{j=1}^0a_j=0[/latex] und [latex]\sum _{j=n+1}^na_j=0[/latex] in der Tat gilt. (Der formale Beweis erfolgt wiederum mit Induktion nach [latex]n\geq k[/latex].)

3.1.2 – Rechenregeln für das Produkt

Für ganze Zahlen [latex]m \leq n[/latex] und [latex]a_m,\ldots ,a_n,b_m,\ldots ,b_n \in \mathbb {C}[/latex] gilt

[latex]
\begin{aligned}[]\prod _{k=m}^n (a_kb_k) = \bigg (\prod _{k=m}^n a_k\bigg ) \bigg (\prod _{k=m}^n b_k\bigg ).\end{aligned}
[/latex]

Insbesondere ist für alle [latex]c\in \mathbb {C}[/latex]

[latex]
\begin{aligned}[]\prod _{k=m}^n (ca_k) = c^{n-m+1}\bigg (\prod _{k=m}^n a_k\bigg ).\end{aligned}
[/latex]

Des Weiteren gilt für alle [latex]a_m,\ldots ,a_n[/latex] die Formel für das Teleskopprodukt

[latex]
\begin{aligned}[]\prod _{k=m}^n \frac {a_{k+1}}{a_k} &= \bigg (\prod _{k=m}^n a_{k+1}\bigg )\bigg ( \prod _{k=m}^n \frac {1}{a_k}\bigg ) = \bigg (\prod _{k=m+1}^{n+1} a_{k}\bigg )\bigg ( \prod _{k=m}^n \frac {1}{a_k}\bigg )\\ &= a_{n+1}\bigg (\prod _{k=m+1}^{n} a_{k}\bigg )\bigg ( \prod _{k=m+1}^n \frac {1}{a_k}\bigg )\frac {1}{a_m} = \frac {a_{n+1}}{a_m}.\end{aligned}
[/latex]

Lemma 3.5: Bernoulli’sche Ungleichung

Für alle reellen Zahlen [latex]a \geq -1[/latex] und [latex]n \in \mathbb {N}_0[/latex] gilt [latex](1+a)^n \geq 1+na[/latex].

Beweis

Wir verwenden vollständige Induktion. Für [latex]n=0[/latex] haben wir [latex](1+a)^n = 1 = 1+na[/latex]. Angenommen die Ungleichung [latex](1+a)^n \geq 1+na[/latex] gilt für ein [latex]n \in \mathbb {N}_0[/latex]. Nach Annahme an [latex]a[/latex] ist [latex]a \geq -1[/latex], was in Kombination mit der Annahme an [latex]n[/latex]

[latex]
\begin{aligned}[](1+a)^{n+1}&= (1+a)^n(1+a) \\ & \geq (1+na)(1+a) = 1+na+a+na^2 \\ & \geq 1+(n+1)a\end{aligned}
[/latex]

ergibt und damit den Induktionsschritt zeigt. Das Lemma folgt. ∎

Übung 3.6: Archimedisches Prinzip für Potenzen

Verwenden Sie die Bernoulli’sche Ungleichung und das Archimedische Prinzip (Satz 2.69), um folgende Aussage zu beweisen. Für alle [latex]x,y\in \mathbb {R}[/latex] mit [latex]x>1[/latex] existiert ein [latex]n\in \mathbb {N}_0[/latex], so dass [latex]x^n \geq y[/latex].

Lösung

Sei [latex]a=x-1>0[/latex]. Dann gilt [latex]x^n=(1+a)^n\geq na[/latex] auf Grund der Bernoulli’schen Ungleichung. Auf Grund des Archimedischen Prinzip hat [latex]\mathbb {N}[/latex] keine obere Schranke in [latex]\mathbb {R}[/latex]. Daher und wegen [latex]a>0[/latex] existiert für jedes [latex]y\in \mathbb {R}[/latex] ein [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] mit [latex]na>y[/latex]. Zusammen erhalten wir daraus [latex]x^n>y[/latex].

Übung 3.7: Zifferndarstellungen natürlicher Zahlen

Sei [latex]q\in \mathbb {N}[/latex] eine natürliche Zahl. Zeigen Sie, dass sich jede natürliche Zahl [latex]m[/latex] als Summe der Form [latex]m = \sum _{k=0}^\ell a_k q^k[/latex] schreiben lässt wobei [latex]\ell \in \mathbb {N}_0[/latex] und die Koeffizienten [latex]a_0,\ldots ,a_\ell \in \mathbb {N}_0\cap [0,q-1][/latex]. Diese Aussage kennen Sie schon für [latex]q=10[/latex] wegen der Dezimaldarstellung natürlicher Zahlen und vielleicht auch für [latex]q=2[/latex] wegen der Binärdarstellung. Für ein allgemeines [latex]q[/latex] spricht man auch von der [latex]q[/latex]-nären Darstellung.

Hinweis.

Nach Übung 3.6 existiert für alle [latex]m \in \mathbb {N}[/latex] ein [latex]\ell \in \mathbb {N}[/latex] mit [latex]m

3.1.3 – Die geometrische Summe

In diesem kurzen Abschnitt möchten wir folgende, vermutlich schon bekannte und für uns später sehr wichtige Formel beweisen.

Proposition 3.8: Geometrische Summenformel

Sei [latex]n \in \mathbb {N}_0[/latex] und [latex]q \in \mathbb {C}[/latex]. Dann gilt

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=0}^n q^k = \left \lbrace \begin{array}{cc} n+1 & \text {falls } q=1 \\ \frac {q^{n+1}-1}{q-1} & \text {falls } q \neq 1\end{array} \right . .\end{aligned}
[/latex]

Der direkte (aber sicher nicht eleganteste) Beweis verwendet vollständige Induktion:

Beweis

Für [latex]q=1[/latex] ist [latex]q^k=1[/latex] für alle [latex]k\in \mathbb {N}_0[/latex] und die Aussage folgt aus den Eigenschaften der Summe. Sei nun [latex]q\neq 1[/latex]. Für [latex]n=0[/latex] gilt [latex]\sum _{k=0}^0 q^k = q^0 = 1 = \frac {q-1}{q-1}[/latex], was also den Induktionsanfang zeigt. Angenommen die Formel in der Proposition gilt bereits für [latex]n[/latex]. Dann ist

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=0}^{n+1} q^k = \sum _{k=0}^n q^k + q^{n+1} = \frac {q^{n+1}-1}{q-1} + q^{n+1} = \frac {q^{n+1}-1}{q-1} + \frac {q^{n+2}-q^{n+1}}{q-1} = \frac {q^{n+2}-1}{q-1},\end{aligned}
[/latex]

womit der Induktionsschritt gezeigt ist und die Proposition folgt. ∎

Wir laden Sie dazu ein, in folgender Übung einen eleganteren Beweis zu finden.

Übung 3.9: Geometrische Summenformel

Verwenden Sie eine Teleskopsumme um die geometrische Summenformel (Proposition 3.8) für [latex]q\neq 1[/latex] zu beweisen.

Hinweis.

Multiplizieren Sie [latex]\sum _{k=0}^n q^k[/latex] mit [latex]q-1[/latex].

Übung 3.10: Eindeutigkeit der Ziffernentwickung natürlicher Zahlen

Zeigen Sie, dass die [latex]q[/latex]-näre Darstellung einer natürlichen Zahl in Übung 3.7 eindeutig bestimmt ist. Das heisst, für jedes [latex]m\in \mathbb {N}[/latex] mit [latex]m=\sum _{k=0}^\ell a_k q^k[/latex] und [latex]a_\ell \neq 0[/latex] sind [latex]\ell \in \mathbb {N}_0[/latex] und die Koeffizienten [latex]a_0,\ldots ,a_\ell \in \mathbb {N}_0\cap [0,q-1][/latex] eindeutig durch [latex]m[/latex] bestimmt.

Hinweis.

Zeigen Sie zuerst für [latex]b_0,\ldots ,b_\ell \in \mathbb {Z}[/latex] mit [latex]|b_k|

3.2 – Polynome

Definition 3.11: Polynomfunktionen

Eine Polynomfunktion auf [latex]\mathbb {C}[/latex] ist eine Funktion der Form

[latex]
\begin{aligned}[]f:z \in \mathbb {C} \mapsto \sum _{k=0}^n a_k z^k \in \mathbb {C}\end{aligned}
[/latex]

für [latex]n \in \mathbb {N}_0[/latex] und [latex]a_0,\ldots ,a_n \in \mathbb {C}[/latex]. Die Zahlen [latex]a_0,\ldots ,a_n \in \mathbb {C}[/latex] heissen die Koeffizienten von [latex]f[/latex]. Das grösste [latex]k\in \{ 0,\ldots ,n\}[/latex] mit [latex]a_k \neq 0[/latex] ist der Grad [latex]\deg (f)[/latex] der Polynomfunktion [latex]f[/latex] und [latex]a_{\deg (f)}[/latex] ist der Leitkoeffizient oder führende Koeffizient von [latex]f[/latex]. Falls kein solches [latex]k[/latex] existiert, das heisst, falls [latex]f[/latex] die Polynomfunktion [latex]z \in \mathbb {C} \mapsto 0 z^0 = 0\in \mathbb {C}[/latex] ist, so nennt man die Polynomfunktion die Null und setzt den Grad auf [latex]-\infty[/latex]. Eine Polynomfunktion der Form [latex]z\in \mathbb {C} \mapsto a_0z^0\in \mathbb {C}[/latex] für [latex]a_0\in \mathbb {C}[/latex] wird auch konstant genannt und kurz mit [latex]a_0[/latex] bezeichnet. Eine Polynomfunktion mit Grad [latex]\leq 1[/latex] wird affin oder linear genannt. Eine Polynomfunktion der Form [latex]z\in \mathbb {C} \mapsto a_kz^k\in \mathbb {C}[/latex] für [latex]k \in \mathbb {N}_0[/latex] heisst ein Monom. Wir sagen, dass eine Polynomfunktion reell ist, wenn die Koeffizienten reell gewählt werden können. Wir werden eine reelle Polynomfunktion auch mit der zugehörigen Funktion von [latex]\mathbb {R}[/latex] nach [latex]\mathbb {R}[/latex] identifizieren.

Wir bemerken, dass die Definition (3.2) für die Definition einer Polynomfunktion gewissermassen notwendig ist, dann falls wir [latex]z^0[/latex] bei [latex]z=0[/latex] nicht definiert hätten, dann wäre eine Polynomfunktion bei [latex]z=0[/latex] nicht definiert.

Polynomfunktionen lassen sich auf natürliche Weise addieren und multiplizieren.

Wichtige Übung 3.12: Ringstruktur der Polynomfunktionen

Seien [latex]f,g[/latex] zwei Polynomfunktionen. Wir möchten hier unter anderem zeigen, dass die Summe von [latex]f[/latex] und [latex]g[/latex] definiert durch

[latex]
\begin{aligned}[]f+g:z\in \mathbb {C} \mapsto f(z) + g(z)\in \mathbb {C}\end{aligned}
[/latex]

und das Produkt

[latex]
\begin{aligned}[]f\cdot g: z\in \mathbb {C} \mapsto f(z)g(z)\in \mathbb {C}\end{aligned}
[/latex]

von [latex]f[/latex] und [latex]g[/latex] wieder Polynomfunktionen sind.

  1. Angenommen die Koeffizienten von [latex]f[/latex] sind [latex]a_0,\ldots ,a_m \in \mathbb {C}[/latex] und die Koeffizient von [latex]g[/latex] sind [latex]b_0,\ldots ,b_n \in \mathbb {C}[/latex]. Setzen Sie [latex]a_j = 0[/latex] für alle [latex]j > m[/latex] und [latex]b_j = 0[/latex] für alle [latex]j >n[/latex]. Zeigen Sie, dass [latex]f+g[/latex] durch
    [latex]
    \begin{aligned}[]z\in \mathbb {C}\mapsto (f+g)(z) = \sum _{j=0}^{\max \left \lbrace {m,n} \right \rbrace } (a_j+b_j)z^j\end{aligned}
    [/latex]

    gegeben ist und insbesondere wieder eine Polynomfunktion ist.

  2. Zeigen Sie, dass [latex]f\cdot g[/latex] durch
    [latex]
    \begin{aligned}[]z\in \mathbb {C}\mapsto f \cdot g(z) = \sum _{k=0}^{n+m} \left (\sum _{j=0}^{k}a_j b_{k-j} \right ) z^k\end{aligned}
    [/latex]

    gegeben ist und insbesondere wieder eine Polynomfunktion ist.

Zeigen Sie damit auch die Ungleichungen

[latex]
\begin{aligned}[]\deg (f+g) \leq \max \left \lbrace {\deg (f),\deg (g)} \right \rbrace , \quad \deg (f\cdot g) = \deg (f)+\deg (g)\end{aligned}
[/latex]

und dass im ersten Fall Gleichheit gilt, falls [latex]\deg (f) \neq \deg (g)[/latex]. Folgern Sie auch, dass der Leitkoeffizient von [latex]f\cdot g[/latex] gerade das Produkt der Leitkoeffizienten von [latex]f[/latex] und [latex]g[/latex] ist.

Hinweis.

Für das Produkt ist folgende Umformung nützlich

[latex]
\begin{aligned}[]f(z)g(z)&=\bigg (\sum _{j=0}^ma_jz^j\bigg )\bigg (\sum _{\ell =0}^nb_\ell z^\ell \bigg )\\ &=\sum _{j=0}^m\sum _{\ell =0}^na_jb_\ell z^{j+\ell }\\ &=\sum _{k=0}^{m+n}\biggl (\sum _{j=\max \{ 0,k-m\} }^ka_jb_{k-j}\biggr )z^k\\ &=\sum _{k=0}^{m+n}\biggl (\sum _{j=0}^ka_jb_{k-j}\biggr )z^k,\end{aligned}
[/latex]

wobei wir das Distributivgesetz zweimal angewendet haben um zu der Doppelsumme zu gelangen, in der Doppelsumme [latex]k=j+\ell[/latex] gesetzt haben, die Reihenfolge der Summation vertauscht haben, für ein gegebenes [latex]k[/latex] über den Index [latex]j[/latex] summieren, und [latex]a_j=0[/latex] für [latex]j>m[/latex] und [latex]b_j=0[/latex] für [latex]j>n[/latex] verwendet haben.

Wir bemerken, dass die Axiome eines Ringes eine Teilmenge der Axiome eines Körper sind und insbesondere für einen Ring nicht gefordert wird, dass ein multiplikatives Inverses existiert. Für eine präzise Definition verweisen wir auf [2]und auf [3]. Die ganzen Zahlen und auch die Menge der Polynomfunktionen über [latex]\mathbb {R}[/latex] bilden einen Ring. Dies bringt uns zu einer weiteren Definition.

Definition 3.13: Polynome

Sei [latex]\mathbb {K}[/latex] ein beliebiger Körper. Ein Polynom [latex]f[/latex] über [latex]\mathbb {K}[/latex] ist ein formaler Ausdruck der Form [latex]\sum _{k=0}^na_k T^k[/latex] für [latex]n\in \mathbb {N}_0[/latex] und Koeffizienten [latex]a_0,\ldots ,a_n\in \mathbb {K}[/latex]. Hierbei ist [latex]T[/latex] ein Symbol, das man auch als Variable bezeichnet und das verwendet wird, um die Koeffzienten von einander zu trennen. Wir schreiben auch [latex]T^1=T[/latex] und [latex]aT^0=a[/latex] für alle [latex]a\in \mathbb {K}[/latex]. Weiter darf ein Summand der Form [latex]0T^k[/latex] für [latex]k\in \mathbb {N}_0[/latex] aus der Summe entfernt werden. Wir definieren den Polynomring [latex]\mathbb {K}[T][/latex] als die Menge der Polynome über [latex]\mathbb {K}[/latex] in der Variablen [latex]T[/latex] mit Addition und Multiplikation gegeben durch die Formeln in Übung 3.12 und verwenden ebenso die Begriffe Grad, Koeffizient, etc. wie in Definition 3.11 für Polynome[4].

Sie fragen sich jetzt vielleicht, und zwar mit Recht, was denn der Unterschied zwischen Definition 3.11 und Definition 3.13 sei (abgesehen davon, dass wir in letzterer allgemeinere Körper zugelassen haben und einen anderen Buchstaben für die Variable verwendet haben). In der Tat, jedem Polynom [latex]f\in \mathbb {C}[T][/latex] können wir eine Polynomfunktion [latex]z\in \mathbb {C}\mapsto f(z)\in \mathbb {C}[/latex] zuordnen. Diese Zuordnung ist nach Definition des Begriffs Polynomfunktion surjektiv, doch ist nicht klar, ob die Polynomfunktion ihre Koeffizienten eindeutig bestimmt. Insbesondere ist nicht klar, ob es nicht vielleicht zwei Darstellung der gleichen Polynomfunktion mit verschiedenen Koeffizienten gibt und ob nicht vielleicht der Grad der Polynomfunktion von dieser Darstellung abhängt.

Beispiel 3.14: Polynome auf endlichen Körpern

Wir betrachten für den Körper [latex]\mathbb {F}_2[/latex] mit zwei Elementen die Polynomfunktionen

[latex]
\begin{aligned}[]f:a\in \mathbb {F}_2 \mapsto a^3+a+1 \in \mathbb {F}_2,\quad g:a\in \mathbb {F}_2 \mapsto 1 \in \mathbb {F}_2.\end{aligned}
[/latex]

Bei [latex]0\in \mathbb {F}_2[/latex] gilt [latex]f(0) = 1 = g(0)[/latex] und an der Stelle [latex]1\in \mathbb {F}_2[/latex] gilt [latex]f(1) = 1+1+1 = 1[/latex] und [latex]g(1) = 1[/latex]. Insbesondere gilt [latex]f=g[/latex], obwohl [latex]f[/latex] und [latex]g[/latex] nicht durch die gleichen Koeffizienten gegeben sind. Wir unterscheiden die Polynome [latex]T^3+T+1\in \mathbb {F}_2[T][/latex] (mit Grad [latex]3[/latex]) und [latex]1\in \mathbb {F}_2[T][/latex] (mit Grad [latex]0[/latex]), obwohl die zugehörigen Polynomfunktionen identisch sind (womit es für diese Polynomfunktion keinen wohldefinierten Grad gibt).

Dieses Beispiel zeigt, dass die oben erwähnte Unterscheidung zwischen einer Polynomfunktion und einem Polynom für gewisse Körper notwendig ist. Wir werden hier zeigen, dass für [latex]\mathbb {K}=\mathbb {R}[/latex] oder [latex]\mathbb {K}=\mathbb {C}[/latex] die Zuordnung zwischen Polynome (welche per Definition eineindeutig einer Liste von Koeffizienten mit wohldefiniertem Grad entsprechen) und der zugehörigen Polynomfunktion bijektiv ist. Wir beweisen dies mittels einer weiteren wichtigen Eigenschaft von Polynomfunktionen.

Proposition 3.15: Wachstum von Polynomfunktionen und Eindeutigkeit der Koeffizienten

Sei [latex]f(T) \in \mathbb {C}[T][/latex] ein nicht-konstantes Polynom. Dann gibt es zu jeder positiven reellen Zahl [latex]M > 0[/latex] eine reelle Zahl [latex]R \geq 1[/latex], so dass für alle [latex]z \in \mathbb {C}[/latex] mit [latex]|z| \geq R[/latex] auch [latex]|f(z)| \geq M[/latex] gilt. Insbesondere ist die Zuordnung, die jedem Polynom [latex]f(T) \in \mathbb {C}[T][/latex] die zugehörige Polynomfunktion [latex]z \in \mathbb {C} \mapsto f(z) \in \mathbb {C}[/latex] zuweist, bijektiv. Dies gilt analog ebenso für reelle Polynome [latex]f(T)\in \mathbb {R}[T][/latex] und reelle Polynomfunktionen [latex]x\in \mathbb {R}\mapsto f(x)\in \mathbb {R}[/latex].

Intuitiv formuliert besagt die Proposition, dass ein nicht-konstantes Polynom bei «grossen» [latex]z \in \mathbb {C}[/latex] auch grosse Werte annimmt (gross ist im Absolutbetrag zu verstehen). Auf Grund der zweiten Aussage in obiger Proposition werden wir in der Analysis in Zukunft die Begriffe Polynom und Polynomfunktion nicht mehr unterscheiden und für eine Polynomfunktion [latex]f[/latex] auch [latex]f\in \mathbb {C}[T][/latex] schreiben.

Beweis

Sei [latex]f(T) = a_nT^n + a_{n-1}T^{n-1} + \ldots + a_1 T + a_0 \in \mathbb {C}[T][/latex] mit [latex]a_n\neq 0[/latex] und [latex]n\geq 1[/latex]. Wir definieren [latex]q(T) \in \mathbb {C}[T][/latex] durch [latex]q(T) = a_{n-1}T^{n-1} + \ldots + a_1 T + a_0[/latex], womit [latex]f(T) = a_nT^n + q(T)[/latex]. Nun behaupten wir, dass die Polynomfunktion [latex]q(z)[/latex] «langsamer wächst als» [latex]a_n z^n[/latex] und schätzen also [latex]|q(z)|[/latex] für [latex]z \in \mathbb {C}[/latex] mit [latex]|z| \geq 1[/latex] nach oben ab:

[latex]
\begin{aligned}[]|q(z)| &= |a_{n-1}z^{n-1}+ \ldots +a_1z+a_0| \\ &\leq |a_{n-1}z^{n-1}|+ \ldots +|a_1z|+|a_0|\\ &= |a_{n-1}||z^{n-1}|+ \ldots +|a_1||z|+|a_0|\\ &\leq (|a_{n-1}|+\ldots + |a_1| + |a_0|) |z|^{n-1} = A |z|^{n-1},\end{aligned}
[/latex]

wobei wir [latex]A= |a_{n-1}|+\ldots + |a_1| + |a_0|[/latex] gesetzt haben und [latex]|z| \geq 1[/latex] in der Form [latex]|z|^k \leq |z|^{n-1}[/latex] für [latex]k \in \left \lbrace {0,\ldots , n-1} \right \rbrace[/latex] verwendet haben. Mit der umgekehrten Dreiecksungleichung (siehe Abschnitt 2.4.2) und [latex]f(z) = a_nz^n + q(z)[/latex] gilt somit

[latex]
\begin{aligned}[]|f(z)| \geq |a_nz^n| -|q(z)| &\geq |a_n||z|^n - A |z|^{n-1} \\ &= (|a_n||z|-A) |z|^{n-1} \geq |a_n||z|-A,\end{aligned}
[/latex]

falls [latex]|a_n||z|- A \geq 0[/latex] oder äquivalenterweise [latex]|z| \geq \frac {A}{|a_n|}[/latex]. Sei nun [latex]M > 0[/latex] beliebig. Dann wählen wir

[latex]
\begin{aligned}[]R = \max \left \lbrace {1,\frac {A}{|a_n|},\frac {A+M}{|a_n|}} \right \rbrace .\end{aligned}
[/latex]

Falls nun [latex]z \in \mathbb {C}[/latex] die Ungleichung [latex]|z| \geq R[/latex] erfüllt, dann gilt [latex]|z| \geq 1[/latex] und [latex]|z| \geq \frac {A}{|a_n|}[/latex], wonach obige Ungleichungen ergeben

[latex]
\begin{aligned}[]|f(z)| \geq |a_n||z|-A \geq |a_n|\frac {A+M}{|a_n|} -A = M,\end{aligned}
[/latex]

was die erste Behauptung der Proposition beweist.

Angenommen [latex]f_1(T), f_2(T) \in \mathbb {C}[T][/latex] sind zwei Polynome, die [latex]f_1(z) = f_2(z)[/latex] für alle [latex]z[/latex] in [latex]\mathbb {C}[/latex] erfüllen. Dann hat das Polynom [latex]g(T) = f_1(T) - f_2(T)[/latex] die Eigenschaft, dass [latex]g(z) = 0[/latex] für alle [latex]z \in \mathbb {C}[/latex] gilt. Falls der Grad des Polynoms [latex]g(T)[/latex] grösser gleich Eins ist, widerspricht dies dem ersten Teil der Proposition. Also ist [latex]g(T)[/latex] konstant, womit [latex]g(T) = 0[/latex] gelten muss und daher sind die Polynome [latex]f_1(T)[/latex] und [latex]f_2(T)[/latex] identisch (d.h. sie haben denselben Grad und dieselben Koeffizienten). Diesen Beweis kann man ebenso für reelle Polynome und die zugehörigen Polynomfunktionen von [latex]\mathbb {R}[/latex] nach [latex]\mathbb {R}[/latex] durchführen. ∎

3.2.1 – Polynomdivision

Wie wir in Satz 2.32 gesehen haben, existiert auf [latex]\mathbb {N}[/latex] eine Division von [latex]n[/latex] durch [latex]d[/latex] mit Rest gegeben durch [latex]n=qd+r[/latex]. Dabei ist der Rest [latex]r[/latex] strikt kleiner (bezüglich [latex]\leq[/latex]) als [latex]d[/latex]. Division mit Rest gibt es auch für Polynome. Hier hat der Rest bei der Divison von [latex]f[/latex] durch [latex]d[/latex] einen kleineren Grad als [latex]d[/latex]. Wir illustrieren dies an einem Beispiel und verschieben die allgemeine Aussage auf die nächste Übung.

Beispiel 3.16

Seien [latex]f,d[/latex] die durch [latex]f(x) = 3x^4 -2x^2+5,\ d(x) = x^2+1[/latex] für alle [latex]x \in \mathbb {C}[/latex] gegebenen Polynome. Wir behaupten, dass Polynome [latex]q[/latex] und [latex]r[/latex] existieren, so dass [latex]f = q\cdot d+r[/latex] mit [latex]\deg (r)

[latex]
\begin{aligned}[]r = r_1-q_2\cdot d = f- q_1 \cdot d - q_2 \cdot d = f- (q_1+q_2) \cdot d.\end{aligned}
[/latex]

Wenn wir [latex]q = q_1 + q_2[/latex] setzen, haben wir also [latex]f= q\cdot d+ r[/latex] mit [latex]\deg (r) = 0

[latex]
\begin{aligned}[](&3x^4 -2x^2+5):(x^2+1) = 3x^2-5\\ -&\underline{3x^4 -3x^2}\\ & \quad \ \, -5x^2 + 5\\ & \quad \ \ \quad \underline{5x^2 + 5}\\ & \qquad \qquad \quad 10\end{aligned}
[/latex]

Für uns wird folgende Übung wichtig sein, wobei für konkrete Rechnungen später nicht nur die Existenz der Division mit Rest notwendig sein wird, sondern auch eine gewisse Rechenfertigkeit mit Polynomen und der Division mit Rest (wie in Beispiel 3.16) vorausgesetzt sein wird.

Wichtige Übung 3.17: Division mit Rest

Zeigen Sie folgende Version von Division mit Rest: Falls [latex]d[/latex] ein Polynom verschieden von Null ist, dann gibt es für jedes Polynom [latex]f[/latex] zwei eindeutig bestimmte Polynome [latex]q,r[/latex] mit [latex]\deg (r)

Hinweis.

Abgesehen von der Buchführung entspricht der Beweis der Division mit Rest klar dem Algorithmus der Berechnung der Division mit Rest: Man verwendet Induktion nach dem Grad von [latex]f[/latex] und kann den gleichen Trick wie schon in obigem Beispiel für den Induktionsschritt verwenden.

Für zwei Polynome [latex]f,d\in \mathbb {C}[z][/latex] mit [latex]d\neq 0[/latex] wird die Funktion [latex]z\mapsto \frac {f(z)}{d(z)}[/latex] als eine rationale Funktion bezeichnet, diese hat als natürlichen Definitionsbereich die Menge [latex]\mathbb {C}\setminus \left \lbrace {z\in \mathbb {C}} \mid {d(z)=0}\right \rbrace[/latex]. Die Division mit Rest hat für rationale Funktion [latex]\frac {f(z)}{d(z)}[/latex] die Bedeutung, dass man letztere in der Form [latex]q(z)+\frac {r(z)}{d(z)}[/latex] schreiben kann, wobei der Grad von [latex]r[/latex] aber kleiner als der Grad von [latex]d[/latex] ist. Dies ist nützlich, da das Polynom [latex]q(z)[/latex] und ebenso die rationale Funktion [latex]\frac {r(z)}{d(z)}[/latex] oft einfacher zu behandeln sind.

3.2.2 – Nullstellen und Interpolation

Beim Betrachten eines expliziten Polynoms (und auch sonst) interessiert man sich oft für sehr spezifische Punkte, die Nullstellen des Polynoms. Eine Nullstelle eines Polynoms [latex]f[/latex] ist eine Zahl [latex]z_1 \in \mathbb {C}[/latex] mit [latex]f(z_1) = 0[/latex]. In Abschnitt 2.3 wurde bereits erwähnt, dass nach dem Fundamentalsatz der Algebra jede Gleichung der Form [latex]a_n x^n +\ldots +a_1 x + a_0 = 0[/latex] für [latex]a_0,\ldots ,a_n \in \mathbb {C}[/latex] mit [latex]a_n \neq 0[/latex] und [latex]n > 0[/latex] eine Lösung über [latex]\mathbb {C}[/latex] besitzt. Äquivalent dazu ist, dass jedes nicht-konstante Polynom eine Nullstelle hat.

Übung 3.18: Ein Spezialfall des Fundamentalsatzes der Algebra

Verwenden Sie die Wurzelfunktion aus Übung 2.12, um zu zeigen, dass jedes Polynom von Grad [latex]1[/latex] und jedes reelle Polynom (also mit reellen Koeffizienten) von Grad [latex]2[/latex] eine Nullstelle in [latex]\mathbb {C}[/latex] besitzt. Geben Sie dabei die Nullstellen explizit an.

An dieser Stelle muss man anmerken, dass der Beweis der allgemeinen Aussage deutlich komplizierter ist. Für einen geschichtlichen Exkurs bezüglich Nullstellen eines Polynoms vom Grad 3 (also kubische Gleichungen) verweisen wir nochmals auf den Podcast der BBC (von der 14. Minute bis zur 21. Minute). Des Weiteren existiert für Polynome von Grad grösser gleich [latex]5[/latex] im Allgemeinen keine explizite Formel für die Nullstellen. (Diese letzte Aussage ist Teil der Galois-Theorie, die auch in der Algebra-Vorlesung des 2. Studienjahres des Mathematikstudiums behandelt wird.) In Analogie zu ganzen Zahlen sagen wir, dass ein Polynom [latex]d[/latex] ein Polynom [latex]f[/latex] teilt falls es ein Polynom [latex]q[/latex] gibt mit [latex]f=q\cdot d[/latex]. In folgender Übung interessieren wir uns für die Anzahl der Nullstellen.

Wichtige Übung 3.19: Anzahl Nullstellen eines Polynoms

Zeigen Sie, für ein beliebiges Polynom [latex]f(T)\in \mathbb {C}[T][/latex] und eine komplexe Zahl [latex]z\in \mathbb {C}[/latex], dass das Polynom [latex]T-z[/latex] genau dann [latex]f[/latex] teilt, wenn [latex]f[/latex] bei [latex]z[/latex] eine Nullstelle hat. Schliessen Sie daraus, dass [latex]f[/latex] höchstens [latex]n[/latex] verschiedene Nullstellen in [latex]\mathbb {C}[/latex] besitzt, falls [latex]f[/latex] nicht gerade gleich Null ist.

Hinweis.

Falls [latex]f[/latex] nicht Null ist und [latex]z \in \mathbb {C}[/latex] eine Nullstelle von [latex]f[/latex] ist, dann gibt es nach Division mit Rest ein Polynom [latex]f_1[/latex] von Grad [latex]\deg (f)-1[/latex] und eine Konstante [latex]r[/latex] mit [latex]f(T) = f_1(T)(T-z)+r[/latex]. Zeigen Sie [latex]r =0[/latex] und verwenden Sie Induktion nach [latex]n[/latex].

In Hinblick auf Übung 3.19 sagen wir auch, dass eine Nullstelle [latex]z \in \mathbb {C}[/latex] von [latex]f(T)\in \mathbb {C}[T][/latex] Vielfachheit [latex]k\in \mathbb {N}[/latex] hat, falls [latex](T-z)^k[/latex] das Polynom [latex]f[/latex] teilt, aber [latex](T-z)^{k+1}[/latex] das Polynom [latex]f[/latex] nicht teilt.

Wichtige Übung 3.20: Koeffizientenvergleich

Sei [latex]n \in \mathbb {N}_0[/latex] und seien [latex]f,g[/latex] zwei Polynome mit Grad kleiner gleich [latex]n[/latex]. Angenommen [latex]f[/latex] und [latex]g[/latex] stimmen auf mehr als [latex]n[/latex] Punkten überein (das heisst, [latex]f(z) = g(z)[/latex] gilt für mehr als [latex]n[/latex] Punkte [latex]z \in \mathbb {C}[/latex]). Zeigen Sie, dass dies [latex]f =g[/latex] impliziert und insbesondere, dass die Grade und Koeffizienten von [latex]f[/latex] und [latex]g[/latex] übereinstimmen.

Hinweis.

Betrachten Sie für die erstere Aussage die Differenz [latex]f-g[/latex] und wenden Sie Übung 3.19 an.

Falls [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] und [latex]z_1,\ldots ,z_n\in \mathbb {C}[/latex] verschiedene Punkte und [latex]w_1,\ldots ,w_n\in \mathbb {C}[/latex] beliebige Werte sind, dann kann man ein Polynom [latex]f(z)\in \mathbb {C}[z][/latex] finden mit [latex]f(z_k)=w_k[/latex] für [latex]k \in \left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex]. Auf Grund des Koeffizientenvergleich in Übung 3.20 ist dieses auch eindeutig durch diese [latex]2n[/latex] komplexen Zahlen bestimmt. Das Auffinden eines solchen Polynoms wird auch als Lagrange Polynominterpolation bezeichnet. Unter Verwendung der Summennotation und einer leicht adaptierten Produktnotation können wir dieses Polynom auch konkret durch

[latex]
\begin{aligned}[]f(z)=\sum _{k=1}^n w_k\prod _{\substack {j=1\\ j\neq k}}^n(z_k-z_j)^{-1}\prod _{\substack {j=1\\ j\neq k}}^n(z-z_j)\end{aligned}
[/latex]

angeben (was ohne Verwendung dieser Notation extrem unangenehme Ausdrücke liefern würde). In der Tat können wir für [latex]k=1,\ldots ,n[/latex] die Polynome

[latex]
\begin{aligned}[]q_k(z)&=\prod _{\substack {j=1\\ j\neq k}}^n(z-z_j)\\ p_k(z)&=q_k(z_k)^{-1}q_k(z)\end{aligned}
[/latex]

definieren, wobei wir [latex]q_k(z_k)=\prod _{\substack {j=1,j\neq k}}^n(z_k-z_j)\neq 0[/latex] für die Definition des Polynoms [latex]p_k(z)[/latex] verwendet haben. Setzt man nun die Werte [latex]z=z_\ell[/latex] für [latex]\ell =1,\ldots ,n[/latex] in [latex]p_k[/latex] ein, so sieht man

[latex]
\begin{aligned}[]p_k(z_\ell )=\begin{cases}1 &\text { falls }\ell =k,\\ q_k(z_\ell )=0 &\text { falls }\ell \neq k\end{cases}\end{aligned}
[/latex]

und damit

[latex]
\begin{aligned}[]f(z_\ell )=\sum _{j=1}^n w_kp_k(z_\ell )=w_\ell .\end{aligned}
[/latex]

Für uns werden diese Formeln nicht besonders wichtig sein, doch zeigen sie sehr deutlich den Vorteil der Summen- und Produktnotation auf. Des Weiteren zeigt obige Diskussion, dass für [latex]n[/latex] vorgegebene und paarweise verschiedene Zahlen [latex]z_1,\ldots ,z_n\in \mathbb {C}[/latex] die Polynome [latex]p_1,\ldots ,p_n[/latex] eine Basis des Vektorraums [latex]\left \lbrace {f\in \mathbb {C}[z]} \mid {\deg (f)\leq n-1}\right \rbrace[/latex] bilden, die eben bei diesem Interpolationsproblem der eher üblichen Basis [latex]1,z,\ldots ,z^{n-1}[/latex] vorzuziehen ist.

Applet 3.21: Polynominterpolation

Wir stellen in diesem Applet die Polynom-Interpolation grafisch dar, wobei sie bis zu [latex]n=7[/latex] Punkte [latex]x_1,x_2,\ldots ,x_n[/latex] verwenden können, um ein Polynom zu definieren. Nach einigen Experimenten sieht man bereits Nachteile der Polynominterpolation. Wenn man bespielsweise die Werte [latex]x_1

Wir erwähnen noch, dass viele Aussagen (mit Ausnahme des Fundamentalsatzes der Algebra), die wir zuvor für den Körper [latex]\mathbb {C}[/latex] formuliert haben, auch für reelle Polynome und den Polynomring [latex]\mathbb {R}[x][/latex] in analoger Weise richtig sind.

Übung 3.22

Verallgemeinern Sie in der richtigen Notation die Übungen 3.12, 3.17, 3.19 und 3.20 für einen beliebigen Körper [latex]\mathbb {K}[/latex].

Bemerkung

Der Grund, wieso man oft auch den hier erklärten, formalen Standpunkt der Unterscheidung von Polynomfunktionen und Polynomen einnimmt, ist zum einen, dass man damit auch endliche Körper gescheit behandeln kann und zum anderen, dass die formale Herangehensweise geeigneter ist für algebraische Konstruktionen. Wir wollen ein wichtiges Beispiel dazu erwähnen.

Die komplexen Zahlen lassen sich als Äquivalenzklassen von [latex]\mathbb {R}[x][/latex] bezüglich der Äquivalenz­relation

[latex]
\begin{aligned}[]f \sim g \iff (x^2+1) \text { teilt } f-g\end{aligned}
[/latex]

auffassen. In der Tat bezeichnen wir die Äquivalenzklasse von [latex]x[/latex] einfach durch [latex]\mathrm {i}[/latex] und erhalten aus den Definitionen [latex]\mathrm {i}^2=-1[/latex]. In dieser Konstruktion kann man schnell eine Addition und eine Multiplikation auf [latex]\mathbb {C}[/latex] definieren und erhält die Körperstruktur auf [latex]\mathbb {C}[/latex], ohne dass man dabei Kommutativität, Assoziativität, und Distributivität verifizieren müsste, da diese Eigenschaften bereits auf [latex]\mathbb {R}[x][/latex] gelten. (Wieso gelten diese auf [latex]\mathbb {R}[x][/latex] und wieso gelten diese dann auch für den Quotientenraum? Können Sie den Beweis dieser Eigenschaften auf die Axiome zurückführen?

Da wir reelle Polynome und reelle Polynomfunktionen identifizieren dürfen, können wir zum Beispiel argumentieren, dass die Distributivität für Polynome erfüllt ist, da [latex](f+g)\cdot h= f\cdot h+g\cdot h[/latex] bei jedem Punkt [latex]x\in \mathbb {R}[/latex] auf Grund der Distributivität in [latex]\mathbb {R}[/latex] erfüllt ist. Addition und Multiplikation von Polynome induzieren wohldefinierte Operationen auf dem Quotientenraum, und Identitäten, die für Polynome gelten, gelten dann ebenso für die Elemente im Quotientenraum.

) Auf diese Art und Weise kann man viele weitere Körper aus [latex]\mathbb {K}[x][/latex] für einen Körper [latex]\mathbb {K}[/latex] erhalten (siehe wiederum die Algebra-Vorlesungen des zweiten Jahres des Mathematik-Studiums).

3.2.3 – Algebraische und transzendente Zahlen

Eine Zahl [latex]\alpha \in \mathbb {C}[/latex] heisst algebraisch, falls es ein von Null verschiedenes Polynom [latex]f \in \mathbb {Q}[x][/latex] gibt mit [latex]f(\alpha )=0[/latex]. Beispielsweise sind [latex]\mathrm {i}[/latex] und [latex]\sqrt {2}[/latex] algebraisch, denn [latex]x^2+1[/latex] hat [latex]\mathrm {i}[/latex] als Nullstelle und [latex]x^2-2[/latex] hat [latex]\sqrt {2}[/latex] als Nullstelle. Des Weiteren ist jede rationale Zahl algebraisch. Die Menge [latex]\overline {\mathbb {Q}}[/latex] der algebraischen Zahlen wird auch der algebraische Abschluss von [latex]\mathbb {Q}[/latex] genannt und ist (wie wir hier nicht zeigen wollen) ein Unterkörper von [latex]\mathbb {C}[/latex].

Nicht-algebraische Zahlen nennt man transzendent. Interessanterweise sind die meisten Zahlen transzendent, wie die nächste Übung zeigt. Beispiele von transzendenten Zahlen werden wir allerdings erst später angeben können.

Übung 3.23

Zeigen Sie, dass der Polynomring [latex]\mathbb {Q}[x][/latex] abzählbar unendlich ist. Schliessen Sie, dass der algebraische Abschluss [latex]\overline {\mathbb {Q}}[/latex] von [latex]\mathbb {Q}[/latex] abzählbar unendlich ist.

Hinweis.

Verwenden Sie für Ersteres, dass [latex]\mathbb {Q}[/latex] abzählbar ist und dass abzählbare Vereinigungen und endliche kartesische Produkte von abzählbaren Mengen abzählbar sind. Für Zweiteres können Sie von Übung 3.19 Gebrauch machen.

3.3 – Die Fakultät und der Binomialsatz

3.3.1 – Fakultät

Definition 3.24: Fakultät

Die Funktion [latex]n \in \mathbb {N}_0 \mapsto n! \in \mathbb {N}[/latex] ist definiert durch

[latex]
\begin{aligned}[]0! = 1,\ n! = \prod _{k=1}^n k.\end{aligned}
[/latex]

Die Zahl [latex]n![/latex] wird als [latex]n[/latex]–Fakultät oder [latex]n[/latex]–Faktorielle bezeichnet.

Insbesondere (nämlich per Definition des Produkts) gilt also die rekursive Formel

[latex]
\begin{aligned}[](n+1)! = (n!)\cdot (n+1)\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]n\in \mathbb {N}_0[/latex]. Wir werden dieser Funktion in vielen weiteren Funktionen und Ausdrücken begegnen. Sie hat jedoch auch für sich gesehen eine (kombinatorische) Bedeutung.

Lemma 3.25: Kardinalität der Menge der Permutationen einer endlichen Menge

Für [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] ist [latex]n![/latex] die Kardinalität der Menge [latex]\mathcal {S}_n[/latex] der bijektiven Abbildungen [latex]\sigma :\left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace \to \left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] (auch Permutationen von [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] genannt).

Intuitiv ausgedrückt gibt es also genau [latex]n![/latex] verschiedene Möglichkeiten die Menge [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] zu sortieren oder auch [latex]n![/latex] Möglichkeiten für die verschiedenen Reihenfolgen, wenn alle [latex]n[/latex] nummerierte Bälle zufällig aus einer Urne gezogen werden.

Bemerkung

Zu [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] bildet die Menge [latex]\mathcal {S}_n[/latex] zusammen mit der Verknüpfung von Elementen [latex](\sigma ,\tau )\in \mathcal {S}_n^2 \mapsto \sigma \circ \tau \in \mathcal {S}_n[/latex] eine Gruppe (die symmetrische Gruppe).

Beweis von Lemma 3.25

Wir beweisen die Aussage per Induktion. Für [latex]n=1[/latex] gibt es genau eine (bijektive) Abbildung [latex]\left \lbrace {1} \right \rbrace \to \left \lbrace {1} \right \rbrace[/latex], was den Induktionsanfang darstellt.

Angenommen die Aussage des Lemmas gilt bereits für ein [latex]n\in \mathbb {N}[/latex]. Wir betrachten nun eine Permutation [latex]\sigma[/latex] von [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,n+1} \right \rbrace[/latex]. Falls [latex]\sigma (n+1) = n+1[/latex] gilt, so erhalten wir mittels Einschränkung auf [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] eine bijektive Abbildung [latex]\sigma ': k \in \left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace \to \left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] in [latex]\mathcal {S}_n[/latex]. Umgekehrt können wir für jedes [latex]\sigma '\in \mathcal {S}_n[/latex] eine Fortsetzung [latex]\sigma \in \mathcal {S}_{n+1}[/latex] mit [latex]\sigma (n+1)=n+1[/latex] definieren. Daher wissen wir also per Induktionsannahme, dass es [latex]n![/latex] Abbildungen [latex]\sigma \in \mathcal {S}_{n+1}[/latex] mit [latex]\sigma (n+1)=n+1[/latex] gibt. Wir bezeichnen die Menge aller solcher Permutation in [latex]\mathcal {S}_{n+1}[/latex] mit

[latex]
\begin{aligned}[]H=\left \lbrace {\sigma \in \mathcal {S}_{n+1}} \mid {\sigma (n+1)=n+1}\right \rbrace ,\end{aligned}
[/latex]

so dass [latex]|H|=n![/latex].

Die Menge [latex]\mathcal {S}_{n+1}[/latex] lässt sich wie folgt partitionieren:

[latex]
\begin{aligned}[]\mathcal {S}_{n+1} = \bigsqcup _{k=1}^{n+1}P_k\text { mit } P_k=\left \lbrace {\tau \in \mathcal {S}_{n+1}} \mid {\tau (n+1) = k}\right \rbrace\end{aligned}
[/latex]

für [latex]k=1,\ldots ,n+1[/latex]. Wir behaupten nun, dass die Mengen [latex]P_k[/latex] auf der rechten Seite alle Kardinalität [latex]n![/latex] haben (für [latex]k=n+1[/latex] ist dies bereits bekannt, da [latex]P_{n+1}=H[/latex]). Dies impliziert

[latex]
\begin{aligned}[]|\mathcal {S}_{n+1}| = (n!)\cdot (n+1) = (n+1)!\end{aligned}
[/latex]

und damit nach vollständiger Induktion das Lemma.

image

Abbildung 3.1 – Wir haben [latex]\mathcal {S}_{n+1}[/latex] in [latex]n+1[/latex] Teile zerlegt und beweisen, dass jedes Element dieser Partition genau [latex]n!=|H|[/latex] Elemente enthält. Dazu konstruieren wir für jedes [latex]k \in \left \lbrace {0,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] eine Bijektion [latex]P_k \to P_{n+1} = H[/latex].

Sei [latex]k\in \left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] fix und sei [latex]\delta _k:\left \lbrace {1,\ldots ,n+1} \right \rbrace \to \left \lbrace {1,\ldots ,n+1} \right \rbrace[/latex] die bijektive Abbildung, die [latex]k[/latex] und [latex]n+1[/latex] vertauscht und sonst wirkungslos ist, das heisst, die Abbildung

[latex]
\begin{aligned}[]\delta _k: \left \lbrace {1,\ldots ,n+1} \right \rbrace \to \left \lbrace {1,\ldots ,n+1} \right \rbrace ,\ \ell \mapsto \left \lbrace \begin{array}{ll} k & \text {falls } \ell = n+1 \\ n+1 &\text {falls } \ell = k \\ \ell &\text {falls } \ell \not \in \left \lbrace {k,n+1} \right \rbrace .\end{array} \right .\end{aligned}
[/latex]

Falls nun [latex]\tau \in \mathcal {S}_{n+1}[/latex] die Eigenschaft [latex]\tau (n+1) = k[/latex] hat, dann bildet [latex]\sigma =\delta _k\circ \tau \in \mathcal {S}_{n+1}[/latex] das Element [latex]n+1[/latex] auf [latex]n+1[/latex] ab. Die Abbildung

[latex]
\begin{aligned}[]\Phi :\tau \in P_k \mapsto \delta _k \circ \tau \in H=\left \lbrace {\sigma \in \mathcal {S}_{n+1}} \mid {\tau (n+1) = n+1}\right \rbrace\end{aligned}
[/latex]

ist somit wohldefiniert. Sie ist auch bijektiv, da die Abbildung

[latex]
\begin{aligned}[]\sigma \in H=P_{n+1}\mapsto \delta _k \circ \sigma = \tau \in P_k\end{aligned}
[/latex]

eine Inverse darstellt. (Wieso?

Für [latex]\sigma \in H[/latex] gilt [latex]\delta _k\circ \sigma (n+1)=\delta _k(n+1)=k[/latex] und damit definiert [latex]\sigma \in H\mapsto \Psi (\sigma )=\delta _k\circ \sigma[/latex] eine Abbildung [latex]\Psi :H\to P_k[/latex]. Des Weiteren ist die Verknüpfung [latex]\delta _k\circ \delta _k[/latex] die Identität auf [latex]\{ 1,\ldots ,n+1\}[/latex], womit

[latex]
\begin{aligned}[]\Psi \circ \Phi (\tau )=\delta _k\circ (\delta _k\circ \tau )=(\delta _k\circ \delta _k)\circ \tau =\tau\end{aligned}
[/latex]

für [latex]\tau \in P_k[/latex] und ebenso

[latex]
\begin{aligned}[]\Phi \circ \Psi (\sigma )=\delta _k\circ (\delta _k\circ \sigma )=(\delta _k\circ \delta _k)\circ \sigma =\sigma\end{aligned}
[/latex]

für [latex]\sigma \in H[/latex].

) Dies beweist die obige Behauptung, was den Beweis des Induktionsschritts abschliesst. ∎

3.3.2 – Binomialkoeffizienten

Für [latex]n,k \in \mathbb {N}_0[/latex] mit [latex]0 \leq k \leq n[/latex] definieren wir den Binomialkoeffizienten [latex]\binom {n}{k}[/latex], als «[latex]n[/latex] über [latex]k[/latex]» ausgesprochen, durch

[latex]
\begin{aligned}[]\binom {n}{k} = \frac {n!}{k!\ (n-k)!}.\end{aligned}
[/latex]

Ersetzen wir [latex]k[/latex] bei gleichbleibendem [latex]n[/latex] im Binomialkoeffizienten durch [latex]n-k[/latex], so vertauschen sich bloss die beiden Ausdrücke im Nenner und wir erhalten

[latex]
\begin{aligned}[]\binom {n}{k} = \binom {n}{n-k}\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]k,n \in \mathbb {N}_0[/latex] mit [latex]0 \leq k \leq n[/latex].

Proposition 3.26: Additionseigenschaft der Binomialkoeffizienten

Für alle [latex]n,k\in \mathbb {N}_0[/latex] mit [latex]0 \leq k \leq n-1[/latex] gilt [latex]\binom {n}{0} = \binom {n}{n} = 1[/latex] und
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-additionsformel fuer binom.koeff} \binom {n}{k} + \binom {n}{k+1} = \binom {n+1}{k+1}.\end{aligned}
[/latex]
Insbesondere ist [latex]\binom {n}{k} \in \mathbb {N}[/latex] für alle [latex]n,k\in \mathbb {N}_0[/latex] mit [latex]0 \leq k \leq n[/latex].

image

Abbildung 3.2 – Die Binomialkoeffizienten lassen sich auch bildlich im sogenannten Pascal Dreieck festhalten, wobei in der [latex]n[/latex]-ten Zeile die Zahlen [latex]\binom {n}{0},\binom {n}{1},\binom {n}{2},\ldots ,\binom {n}{n}[/latex] stehen und die diagonalen Striche die Additionsformel (3.3) in Proposition 3.26 andeuten.

Beweis

Wir verwenden die Definition der Binomialkoeffizienten und erhalten

[latex]
\begin{aligned}[]\binom {n}{0} = \binom {n}{n} = \frac {n!}{0!\ n!} = 1\end{aligned}
[/latex]

sowie

[latex]
\begin{aligned}[]\binom {n}{k}+ \binom {n}{k+1} &= \frac {n!}{k!(n-k)!} + \frac {n!}{(k+1)!\ (n-k-1)!}\\ &= \frac {(k+1)n!}{(k+1)!\ (n-k)!} + \frac {(n-k)n!}{(k+1)!\ (n-k)!}\\ &= \frac {(k+1+n-k)n!}{(k+1)!\ ((n+1)-(k+1))!} = \binom {n+1}{k+1}\end{aligned}
[/latex]

durch Erweiterung mit [latex]k+1[/latex] beziehungsweise [latex]n-k[/latex].

Die letzte Aussage ergibt sich aus den ersten beiden Aussagen und Induktion nach [latex]n[/latex]. In der Tat entsteht die jeweils nächste Zeile im Pascal Dreieck (siehe Bild 3.2), indem man an den Rändern jeweils eine [latex]1[/latex] und dazwischen die Summen aus der vorherigen Zeile niederschreibt. ∎

Wichtige Übung 3.27: Kombinatorische Bedeutung der Binomialkoeffizienten

Beweisen Sie, dass die Zahl [latex]\binom {n}{k}[/latex] für [latex]n,k\in \mathbb {N}_0[/latex] mit [latex]0 \leq k \leq n[/latex] die möglichen Resultate bei der Auswahl einer [latex]k[/latex]-elementigen Teilmenge von [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] darstellt. Formaler ausgedrückt: Zeigen Sie, dass es genau [latex]\binom {n}{k}[/latex] Teilmengen von [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] gibt, die [latex]k[/latex] Elemente besitzen. Berechnen Sie [latex]\binom {42}6[/latex] (beziehungsweise [latex]\binom {49}6[/latex] falls Sie aus Deutschland stammen oder [latex]\binom {45}6[/latex] falls Sie aus Österreich stammen).

Hinweis.

Verwenden Sie Induktion über [latex]n[/latex]. Für eine gegebene [latex]k+1[/latex]-elementige Teilmenge [latex]M[/latex] von [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,n+1} \right \rbrace[/latex] für [latex]n \in \mathbb {N}[/latex] können Sie die Fälle [latex]n+1\in M[/latex] und [latex]n+1\not \in M[/latex] unterscheiden. Diese Unterscheidung führt zur Betrachtung von einer [latex]k[/latex]-elementigen Teilmenge von [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] beziehungsweise einer [latex]k+1[/latex]-elementigen Teilmenge von [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex], und per Induktionsannahme ist die Anzahl derartiger Teilmengen bereits bekannt.

Obige kombinatorische Bedeutung liefert sowohl eine Interpretation als auch einen kombinatorischen Beweis von (3.3): Angenommen wir haben [latex]n+1[/latex] Bälle mit den Zahlen [latex]1[/latex] bis [latex]n+1[/latex] beschriftet, doch hat der letzte Ball [latex]n+1[/latex] die Farbe rot und alle anderen die Farbe blau. Sei nun [latex]0\leq k\leq n-1[/latex]. Für jede der [latex]\binom {n+1}{k+1}[/latex] Möglichkeiten [latex]k+1[/latex] Bälle aus den [latex]n+1[/latex] Bällen auszuwählen fällt nun zuerst auf, ob der rote Ball ausgewählt wurde oder nicht. In dem ersten Fall haben wir den roten Ball gemeinsam mit einer der [latex]\binom {n}{k}[/latex] Auswahlmöglickeiten für [latex]k[/latex] Bälle aus den [latex]n[/latex] blauen Bällen. Im zweiten Fall sehen wir eine der [latex]\binom {n}{k+1}[/latex] Auswahlmöglichkeiten für [latex]k+1[/latex] Bälle aus den [latex]n[/latex] blauen Bällen. Dies definiert also eine Bijektion zwischen den [latex]\binom {n+1}{k+1}[/latex] Auswahlmöglichkeiten für [latex]k+1[/latex] aus [latex]n+1[/latex] und der (disjunkten) Vereinigung der [latex]\binom {n}{k}[/latex] Auswahlmöglichkeiten für [latex]k[/latex] aus [latex]n[/latex] und den [latex]\binom {n}{k+1}[/latex] Auswahlmöglichkeiten für [latex]k+1[/latex] aus [latex]n[/latex], wodurch (3.3) nochmals bewiesen wird.

3.3.3 – Der binomische Lehrsatz

Satz 3.28: Binomischer Lehrsatz

Für [latex]w,z\in \mathbb {C}[/latex] und [latex]n\in \mathbb {N}_0[/latex] gilt

[latex]
\begin{aligned}[](w+z)^n = \sum _{k=0}^n \binom {n}{k}w^{n-k}z^k.\end{aligned}
[/latex]

Die Geschichte des binomischen Lehrsatz ist zum einen ziemlich verzweigt und zum anderen ziemlich lang. Die erste Formulierung eines Spezialfalls des binomischen Lehrsatzes wird bereits Euklid zugeschrieben. Der binomische Lehrsatz und die Binomialkoeffizienten waren den Hindus im ersten Jahrtausend vermutlich bekannt, die erste, relativ exakte Formulierung geht wahrscheinlich auf den persischen Mathematiker Al-Karaji zurück, der den Lehrsatz mit einer groben Variante von vollständiger Induktion bewies. Wir verweisen unter anderem auf [5]für mehr Details.

Beweis des binomischen Lehrsatzes

Wir verwenden vollständige Induktion über [latex]n[/latex]. Für [latex]n=0[/latex] gilt die Aussage, da

[latex]
\begin{aligned}[](w+z)^0 = 1 = \sum _{k=0}^0 1w^{0-k}z^k.\end{aligned}
[/latex]

Angenommen die Aussage des Satzes gilt für ein [latex]n\in \mathbb {N}_0[/latex]. Dann erhalten wir

[latex]
\begin{aligned}[](w+z)^{n+1} &= (w+z)^n(w+z) = \left (\sum _{k=0}^n \binom {n}{k}w^{n-k}z^k \right ) (w+z)\\ &= \sum _{k=0}^n \binom {n}{k}w^{n+1-k}z^k + \sum _{k=0}^n \binom {n}{k}w^{n-k}z^{k+1}\\ &= w^{n+1}+\sum _{j=1}^n \binom {n}{j}w^{n+1-j}z^j + \sum _{k=0}^{n-1} \binom {n}{k}w^{n-k}z^{k+1} + z^{n+1}\\ &= w^{n+1}+\sum _{k=0}^{n-1} \binom {n}{k+1}w^{n-k}z^{k+1} + \sum _{k=0}^{n-1} \binom {n}{k}w^{n-k}z^{k+1} + z^{n+1}\\ &= w^{n+1}+\sum _{k=0}^{n-1} \binom {n+1}{k+1}w^{(n+1)-(k+1)}z^{k+1} + z^{n+1}\\ &= w^{n+1}+\sum _{\ell =1}^{n} \binom {n+1}{\ell }w^{n+1-\ell }z^{\ell } + z^{n+1}\\ &= \sum _{\ell =0}^{n+1} \binom {n+1}{\ell }w^{n+1-\ell }z^{\ell }\end{aligned}
[/latex]

unter Verwendung von (zwei) Indexverschiebungen und der Additionsformel (3.3). ∎

Übung 3.29: Summe der Binomialkoeffizienten

Zeigen Sie für jedes [latex]n\in \mathbb {N}_0[/latex] die Identitäten

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=0}^n \binom {n}{k} = 2^n,\quad \sum _{k=0}^n (-1)^k \binom {n}{k} = 0.\end{aligned}
[/latex]

Hinweis.

Setzen Sie spezielle Werte für die Variablen im binomischen Lehrsatz ein.

Übung 3.30: Eine weitere Summe

Verwenden Sie den binomischen Lehrsatz, um die Identität

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{m=k}^n \binom {m}{k} \binom {n}{m} = \binom {n}{k}2^{n-k}\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]k\leq n[/latex] zu beweisen. Dies verallgemeinert die erste Aussage aus Übung 3.29, wieso? Können Sie einen kombinatorischen Beweis für diese Aussage finden?

Hinweis.

Betrachten Sie das Polynom [latex]p(x) = (1+(1+x))^n = (2+x)^n[/latex] und finden Sie den Koeffizienten von [latex]x^k[/latex] unter Verwendung des binomischen Lehrsatzes. Für den kombinatorischen Beweis wählen sie aus [latex]n[/latex] Bällen zuerst [latex]j\geq k[/latex] und aus diesen anschliessend [latex]k[/latex] Bälle aus. Auf diese Weise erhalten Sie wiederum [latex]k[/latex] Bälle aus [latex]n[/latex] Bällen, doch ergeben sich hier Vielfachheiten.

3.3.4 – Eine Summe von Binomialkoeffizienten*

*Für unseren Aufbau war Proposition 3.31 zwar nötig um [latex]\int _a^bx^n\thinspace {\rm {d}} x=[\frac 1{n+1}x^{n+1}]_a^b[/latex] zu beweisen, doch lässt sich dies nach Besprechung des Hauptsatzes aus der Ableitungsregel für [latex]x^n[/latex] viel schneller beweisen.

In diesem Teilabschnitt wollen wir mit Hilfe der Binomialkoeffizienten Lemma 1.3 für beliebige Potenzen verallgemeinern.

Proposition 3.31: Summe von Potenzen

Für jedes [latex]d\in \mathbb {N}_0[/latex] gibt es rationale Konstanten [latex]c_0,\ldots ,c_d\in \mathbb {Q}[/latex], so dass

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=1}^n k^d = \frac {1}{d+1}n^{d+1}+c_d n^d +\ldots +c_1n+c_0\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] gilt.

Anders ausgedrückt ist die Summe der [latex]d[/latex]-ten Potenzen [latex]1^d+\cdots +n^d[/latex] gleich den Funktionswerten eines Polynoms mit Grad [latex]d+1[/latex] und Leitkoeffizient [latex]\frac {1}{d+1}[/latex] ausgewertet bei [latex]x=n[/latex]. Wir werden dies im Kapitel 4 verwenden, um Flächeninhalte unter Graphen von Polynomen zu berechnen.

Per Definition erzeugen die Funktionen [latex]1,x,x^2,\ldots[/latex] den Vektorraum [latex]\mathbb {R}[x][/latex] der Polynome und bilden in der Tat sogar eine Basis von [latex]\mathbb {R}[x][/latex]. (Wieso?

Dies ist für den Polynomring Teil der Definition, und für Polynomfunktionen die Identifikation zwischen Polynome und Polynomfunktionen in Proposition 3.15.

) Für das Problem in obiger Proposition ist diese Basis jedoch nicht besonders gut geeignet. Stattdessen ist die Basis [latex]p_0(x),p_1(x),\ldots \in \mathbb {C}[x][/latex] definiert durch

[latex]
\begin{aligned}[]p_0(x) &= 1,\\ p_1(x) &= x,\\ p_2(x) &= \frac {x(x-1)}{2}\end{aligned}
[/latex]

und allgemeiner durch
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-alt.basis fuer pol} p_d(x) = \frac {1}{d!}\prod _{j=0}^{d-1} (x-j)\end{aligned}
[/latex]
für alle [latex]d\in \mathbb {N}_0[/latex] deutlich besser dafür geeignet. Wir haben diesen Zugang gewählt, da wir im Zuge des Beweises eine kombinatorische Bedeutung solcher Summen kennenlernen werden. Es wäre auch möglich Proposition 3.31 schneller zu beweisen, indem man die Teleskopsumme für die Summanden [latex]a_n=(n+1)^d-n^d[/latex] verwendet.

Übung 3.32: Eine besser geeignete Basis

Zeigen Sie, dass die in Gleichung (3.4) definierten Polynome [latex]p_0,p_1,p_2,\ldots[/latex] tatsächlich eine Basis von [latex]\mathbb {R}[x][/latex] bilden.

Hinweis.

Der Grad von [latex]p_d[/latex] ist gleich [latex]d[/latex] für jedes [latex]d\in \mathbb {N}[/latex]. Die lineare Unbhängigkeit verwendet, das diese Grade alle unterschiedlich sind. Um zu zeigen, dass diese Polynome eine Basis bilden, kann man Induktion nach dem Grad eines darzustellenden Polynoms und Division mit Rest verwenden.

Proposition 3.33: Summe von Binomialkoeffizienten

Für jedes [latex]d\in \mathbb {N}[/latex] ist [latex]p_d(x)[/latex] ein Polynom mit rationalen Koeffizienten vom Grad [latex]d[/latex], welches Leitkoeffizient [latex]\frac 1{d!}[/latex] und Nullstellen [latex]0,\ldots ,d-1[/latex] besitzt. Für jedes [latex]d\in \mathbb {N}_0[/latex] gilt des Weiteren [latex]p_d(n) = \binom {n}{d}[/latex] für alle [latex]n \geq d[/latex] (siehe auch das Bild 3.3) und wir haben die Summenformel

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=0}^n p_d(k) = p_{d+1}(n+1)\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]n \in \mathbb {N}[/latex].

Die ersten beiden Aussagen ergeben sich direkt aus (3.4). Für [latex]n, d\in \mathbb {N}_0[/latex] mit [latex]n\geq d[/latex] gilt des Weiteren

[latex]
\begin{aligned}[]p_d(n) &= \frac {\prod _{j=0}^{d-1}(n-j) }{d! }\cdot 1\\ &=\frac {\prod _{j=0}^{d-1}(n-j) \prod _{j=d}^{n-1}(n-j)}{d!\ \prod _{k=1}^{n-d}k} \\ &= \frac {n!}{d!\ (n-d)!} = \binom {n}{d}.\end{aligned}
[/latex]

Im Spezialfall [latex]d=1[/latex] können wir die Summenformel in Proposition 3.33 geometrisch interpretieren. Zuerst bemerken wir, dass [latex]p_1(x) = x[/latex] und somit gilt

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=0}^n k = \frac {n(n+1)}{2} = p_2(n+1) = \binom {n+1}{2}.\end{aligned}
[/latex]

Nun betrachten wir folgendes Bild für [latex]n=5[/latex].

image

Je zwei Quadrate in der sechsten Zeile bestimmen also eindeutig ein Quadrat in den oberen (hier fünf) Zeilen und umgekehrt. Daher gilt [latex]1+2+3+4+5 = \binom {6}{2}[/latex], da die linke Seite die Anzahl Quadrate in den oberen [latex]5[/latex] Zeilen ist und die rechte Seite die Anzahl Paare von Quadraten in der sechsten Zeile ist. Allgemeiner zeigt man analog, dass [latex]1+2+\ldots +n = \binom {n+1}{2}[/latex].

Im Allgemeinen wollen wir einen kombinatorischen Beweis der Summenformel in Proposition 3.33 geben, wobei wir hierfür die Aussage in Übung 3.27 verwenden werden, welche den Binomialkoeffizienten eine kombinatorische Bedeutung gibt.

Beweis von Proposition 3.33

Seien [latex]d,n\in \mathbb {N}_0[/latex]. Falls [latex]n\in \left \lbrace {0,\ldots ,d-1} \right \rbrace[/latex] liegt, gilt [latex]p_{d}(k)=0[/latex] für alle [latex]k\in \left \lbrace {0,\ldots ,n} \right \rbrace[/latex] und damit auch

[latex]
\begin{aligned}[]p_{d+1}(n+1)=0=\sum _{k=0}^n p_d(k).\end{aligned}
[/latex]

Wir dürfen also [latex]d\leq n[/latex] annehmen. Sei [latex]\mathcal {P}[/latex] die Menge aller [latex](d+1)[/latex]-elementigen Teilmengen von [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,n+1} \right \rbrace[/latex]. Da [latex]A\in \mathcal {P}[/latex] genau [latex]d+1[/latex] Elemente und nur natürliche Zahlen enthält, gilt [latex]\max (A)\geq d+1[/latex]. Wir verwenden dies um

[latex]
\begin{aligned}[]\mathcal {P}=\bigsqcup _{\ell =d+1}^{n+1}\mathcal {P}_\ell\end{aligned}
[/latex]

in die Teilmengen [latex]\mathcal {P}_\ell =\left \lbrace {A\in \mathcal {P}} \mid {\max (A)=\ell }\right \rbrace[/latex] für [latex]\ell \in \left \lbrace {d+1,\ldots ,n+1} \right \rbrace[/latex] zu partitionieren, so dass

[latex]
\begin{aligned}[]\binom {n+1}{d+1}=|\mathcal {P}|=\sum _{\ell =d+1}^{n+1}|\mathcal {P}_{\ell }|.\end{aligned}
[/latex]

Für [latex]\ell \in \left \lbrace {d+1,\ldots ,n+1} \right \rbrace[/latex] und eine Teilmenge [latex]A\in \mathcal {P}_\ell[/latex] gilt nach Definition [latex]\ell \in A[/latex] und [latex]A\subseteq \{ 1,\ldots ,\ell \}[/latex]. Entfernen wir von diesem [latex]A[/latex] das Element [latex]\ell[/latex], so erhalten wir eine [latex]d[/latex]-elementige Teilmenge [latex]A\setminus \{ \ell \}[/latex] von [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,\ell -1} \right \rbrace[/latex], welche eindeutig von [latex]A[/latex] bestimmt ist und gemeinsam mit [latex]\ell[/latex] die Menge [latex]A[/latex] eindeutig bestimmt. Zusammenfassend bildet die Abbildung [latex]A \mapsto A \setminus \left \lbrace {\ell } \right \rbrace[/latex] also eine Bijektion zwischen [latex]\mathcal {P}_\ell[/latex] und den [latex]d[/latex]-elementigen Teilmengen von [latex]\left \lbrace {1,\ldots ,\ell -1} \right \rbrace[/latex]. Nach Übung 3.27 ergibt sich somit [latex]|\mathcal {P}_{\ell }|=\binom {\ell -1}{d}=p_d(\ell -1)[/latex] für alle [latex]\ell =d+1,\ldots ,n+1[/latex] und daher

[latex]
\begin{aligned}[]p_{d+1}(n+1)= \binom {n+1}{d+1}=\sum _{\ell =d+1}^{n+1}\binom {\ell -1}{d}= \sum _{k=d}^n\binom {k}d=\sum _{k=0}^np_d(k),\end{aligned}
[/latex]

da [latex]p_d(0)=\cdots =p_{d}(d-1)=0[/latex]. ∎

Applet 3.34: Kombinatorischer Beweis

Es wird für kleine Wahlen von [latex]n[/latex] und [latex]d[/latex] die in obigem kombinatorischem Beweis gefundene Bijektion dargestellt. Falls Sie nicht genau sehen, was die Animation darstellt, dann sollten Sie zuerst den Beweis lesen.

Wenn wir auf die sehr befriedigende kombinatorische Interpretation der Summenformel in Proposition 3.33 verzichten wollen, so können wir die Summenformel auch sehr einfach im Pascal-Dreieck sehen und mit Induktion beweisen.

image

Abbildung 3.3 – Illustration der Summenformel in Proposition 3.33 für [latex]d=3[/latex]. In Rosa ersichtlich sind [latex]p_3(k)[/latex] für [latex]k\in \left \lbrace {0,1,2,3,4,5,6} \right \rbrace[/latex], die summiert gerade [latex]p_4(7) = \binom {7}{4} = 35[/latex] ergeben, wie in Grün markiert.

Übung 3.35: Summe der Binomialkoeffizienten mittels Induktion

Beweisen Sie die letzte Aussage in Proposition 3.33 mittels vollständiger Induktion.

Beweis von Proposition 3.31

Wir beweisen mittels vollständiger Induktion nach [latex]d\in \mathbb {N}_0[/latex], dass es rationale Zahlen [latex]c_d,\ldots ,c_0\in \mathbb {Q}[/latex] gibt, für die
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-summe von potenzen-bew1} \sum _{k=1}^n k^d = \frac {1}{d+1}n^{d+1}+c_dn^d+\cdots +c_0n^0\end{aligned}
[/latex]
für alle natürlichen Zahlen [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] gilt. (Sämtliche Konstanten in (3.5) hängen von [latex]d[/latex] aber nicht von [latex]n[/latex] ab.) Sei also [latex]d\in \mathbb {N}_0[/latex], so dass (3.5) bereits für alle [latex]d'\in \mathbb {N}_0[/latex] mit [latex]d'2.20 für [latex]\mathbb {N}_0[/latex]), und sei [latex]n\in \mathbb {N}[/latex]. Per Definition von [latex]p_{d+1}(T)[/latex] (siehe (3.4)) ist [latex]p_{d+1}(T)[/latex] ein Polynom mit rationalen Koeffizienten und Leitkoeffizient [latex]\frac {1}{(d+1)!}[/latex] und es gilt

[latex]
\begin{aligned}[]p_{d+1}(n+1) = \frac {1}{(d+1)!}(n+1)n(n-1)\ldots (n-d)\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]n\in \mathbb {N}[/latex]. Wir multiplizieren dies mit [latex]d![/latex] und erhalten nach Ausmultiplizieren sowie nach Proposition 3.33, dass

[latex]
\begin{aligned}[]d!\sum _{k=0}^n p_d(k) = \frac {1}{d+1}n^{d+1}+c_d'n^d+\cdots +c_0'n^0\end{aligned}
[/latex]

für gewisse [latex]c_d',\ldots ,c_0' \in \mathbb {Q}[/latex] und alle [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] gilt. Ebenso können wir aber [latex]p_d[/latex] ausmultiplizieren und erhalten analog

[latex]
\begin{aligned}[]d!\ p_d(k) = k^d + c_{d-1}''k^{d-1} +\cdots +c_0''k^0\end{aligned}
[/latex]

für gewisse Konstanten [latex]c_{d-1}'',\ldots ,c_0''\in \mathbb {Q}[/latex] und alle [latex]k\in \mathbb {N}[/latex]. Dies ergibt

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{k=0}^n k^d = \frac {1}{d+1}n^{d+1}+c_d'n^d+\cdots +c_0'n^0 - \sum _{j=0}^{d-1}c_j''\sum _{k=0}^n k^j\end{aligned}
[/latex]

Nach Induktionsvoraussetzung ist aber [latex]\sum _{k=0}^n k^j[/latex] gleich [latex]f_j(n)[/latex] für ein Polynom [latex]f_j(T)[/latex] mit Grad [latex]j+1\leq d[/latex] und mit rationalen Koeffizienten. Daher ist auch

[latex]
\begin{aligned}[]c_d'n^d+\cdots +c_0'n^0 - \sum _{j=0}^{d-1}c_j''\sum _{k=0}^n k^j\end{aligned}
[/latex]

gleich [latex]g(n)[/latex] für ein Polynom [latex]g(T)[/latex] mit Grad kleiner gleich [latex]d[/latex] mit rationalen Koeffizienten. (Wieso?

Es gibt in diesem Argument eine starke Asymmetrie zwischen [latex]d[/latex] und [latex]n[/latex]. Eine Summe von [latex]1[/latex] bis [latex]n[/latex] ist problematisch, da wir eine Aussage über alle [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] beweisen wollen. Hingegen ist die Summe der Polynome [latex]c_j''f_j(T)[/latex] über [latex]j\in \{ 0,\ldots ,d-1\}[/latex] unproblematisch, da diese endliche Summe einfach ein neues Polynom definiert.

) Dies beweist den Induktionsschritt und damit die Proposition. ∎

3.4 – Reellwertige Funktionen

Für eine beliebige, nicht-leere Menge [latex]D[/latex] definieren wir die Menge der [latex]\mathbb {R}[/latex]-wertigen oder reellwertigen Funktionen auf [latex]D[/latex] als

[latex]
\begin{aligned}[]\mathcal {F}(D) = \mathbb {R}^D = \left \lbrace {f} \mid {f:D\to \mathbb {R}}\right \rbrace .\end{aligned}
[/latex]

Die Menge [latex]\mathcal {F}(D)[/latex] bildet einen Vektorraum über [latex]\mathbb {R}[/latex], wobei Addition und skalare Multiplikation punktweise gegeben sind durch

[latex]
\begin{aligned}[](f_1+f_2)(x) &= f_1(x) + f_2(x),\\ (a f_1)(x) &= \alpha f_1(x)\end{aligned}
[/latex]

für [latex]f_1,f_2\in \mathcal {F}(D)[/latex], [latex]a\in \mathbb {R}[/latex] und alle [latex]x\in D[/latex]. Funktionen in [latex]\mathcal {F}(D)[/latex] lassen sich sogar multiplizieren und zwar durch

[latex]
\begin{aligned}[](f_1f_2)(x) = f_1(x) f_2(x)\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]f_1,f_2\in \mathcal {F}(D)[/latex] und [latex]x\in D[/latex]. (Die Menge [latex]\mathcal {F}(D)[/latex] bildet einen kommutativen Ring mit Eins.) Wir sagen, dass [latex]x\in D[/latex] eine Nullstelle von [latex]f\in \mathcal {F}(D)[/latex] ist, falls [latex]f(x) = 0[/latex] gilt. Die Nullstellenmenge von [latex]f[/latex] ist durch [latex]\left \lbrace {x\in D} \mid {f(x)=0}\right \rbrace[/latex] definiert.

Übung 3.36: Nullstellenmenge eines Produkts

Seien [latex]N_1,N_2\subseteq D[/latex] die Menge der Nullstellen von [latex]f_1\in \mathcal {F}(D)[/latex] beziehungsweise [latex]f_2\in \mathcal {F}(D)[/latex]. Was ist die Nullstellenmenge von [latex]f_1f_2[/latex]?

Wir definieren auch eine [latex]\leq[/latex]-Relation (tatsächlich eine Ordnung) auf [latex]\mathcal {F}(D)[/latex] durch

[latex]
\begin{aligned}[]f_1 \leq f_2 \iff \forall x\in D: f_1(x) \leq f_2(x)\end{aligned}
[/latex]

für [latex]f_1,f_2\in \mathcal {F}(D)[/latex]. Wir sagen, dass [latex]f\in \mathcal {F}(D)[/latex] nicht-negativ ist, falls [latex]f\geq 0[/latex] gilt

Übung 3.37: Ordnung auf [latex]\mathcal {F}(D)[/latex]

Zeigen Sie, dass die oben definierte Relation [latex]\leq[/latex] eine Ordnung ist und dass diese Ordnung genau dann linear ist, wenn [latex]D[/latex] aus genau einem Punkt besteht.

3.4.1 – Beschränktheit

In diesem und im nächsten Abschnitt möchten wir jeweils einen wichtigen Begriff zu reellwertigen Funktionen einführen.

Definition 3.38: Beschränktheit von Funktionen

Sei [latex]D[/latex] eine nicht-leere Menge und sei [latex]f: D \to \mathbb {R}[/latex] eine Funktion. Wir sagen, dass die Funktion [latex]f[/latex]

  • von oben beschränkt ist, falls die Wertemenge [latex]f(D)[/latex] von oben beschränkt ist,
  • von unten beschränkt ist, falls die Wertemenge [latex]f(D)[/latex] von unten beschränkt ist,
  • beschränkt ist, falls [latex]f[/latex] von oben und von unten beschränkt ist.

Wir bemerken, dass eine Teilmenge [latex]A \subseteq \mathbb {R}[/latex] genau dann beschränkt ist, wenn es ein [latex]M \in \mathbb {R}[/latex] gibt, so dass [latex]|y|\leq M[/latex] für alle [latex]y\in A[/latex]. Daher ist eine Funktion [latex]f\in \mathcal {F}(D)[/latex] genau dann beschränkt, wenn es ein [latex]M \in \mathbb {R}[/latex] gibt, so dass für alle [latex]x\in D[/latex] gilt [latex]|f(x)|\leq M[/latex].

Übung 3.39: Der Unterraum der beschränkten Funktionen

Sei [latex]D[/latex] eine nicht-leere Menge und sei [latex]\mathcal {B}(D) \subseteq \mathcal {F}(D)[/latex] die Menge der beschränkten Funktionen von [latex]D[/latex] nach [latex]\mathbb {R}[/latex]. Zeigen Sie, dass [latex]\mathcal {B}(D)[/latex] ein Unterraum von [latex]\mathcal {F}(D)[/latex] bildet und dass zu [latex]f_1,f_2 \in \mathcal {B}(D)[/latex] auch [latex]f_1 \cdot f_2 \in \mathcal {B}[/latex] liegt.

3.4.2 – Monotonie

In Folgendem wollen wir annehmen, dass die Menge [latex]D[/latex] (der Definitionsbereich der Funktionen, die wir betrachten wollen) eine nicht-leere Teilmenge von [latex]\mathbb {R}[/latex] ist.

Definition 3.40: Monotonieeigenschaften

Eine Funktion [latex]f:D \to \mathbb {R}[/latex] ist

  • monoton wachsend, falls [latex]\forall x,y\in D: x \leq y \implies f(x) \leq f(y)[/latex],
  • streng monoton wachsend, falls [latex]\forall x,y\in D: x
  • monoton fallend, falls [latex]\forall x,y\in D: x \leq y \implies f(x) \geq f(y)[/latex],
  • streng monoton fallend, falls [latex]\forall x,y\in D: x f(y)[/latex],
  • monoton, falls [latex]f[/latex] monoton wachsend oder monoton fallend ist,
  • streng monoton, falls [latex]f[/latex] streng monoton wachsend oder streng monoton fallend ist.

Eine streng monotone Funktion ist per Definition auch monoton; die Bezeichnung «streng» ist also passend. Wir betrachten nun ein paar elementare Beispiele.

Beispiel 3.41

  • Die Funktion [latex]x\in \mathbb {R}_{\geq 0}\mapsto x^2\in \mathbb {R}[/latex] ist streng monoton wachsend. Die Funktion [latex]x\in \mathbb {R}_{\leq 0}\mapsto x^2\in \mathbb {R}[/latex] ist jedoch streng monoton fallend und [latex]x\in \mathbb {R} \mapsto x^2 \in \mathbb {R}[/latex] hat keine Monotonieeigenschaft. Dies zeigt, dass Monotonie vom Definitionsbereich abhängt.
  • Die Funktion [latex]x\in \mathbb {R}\mapsto x^3\in \mathbb {R}[/latex] ist streng monoton wachsend.
  • Allgemeiner gilt: Für ein [latex]n\in \mathbb {N}[/latex] ist die Funktion [latex]x \in \mathbb {R} \mapsto x^n \in \mathbb {R}[/latex] ist genau dann (streng) monoton, wenn [latex]n[/latex] ungerade ist.
  • Die Abrundungsfunktion [latex]x\in \mathbb {R}\mapsto \lfloor {x} \rfloor \in \mathbb {R}[/latex] ist monoton wachsend, aber nicht streng monoton wachsend (wieso?).
  • Eine konstante Funktion [latex]x \in \mathbb {R} \mapsto c\in \mathbb {R}[/latex] für ein (festes) [latex]c\in \mathbb {R}[/latex] ist sowohl monoton fallend als auch monoton wachsend.

Übung 3.42

Beweisen Sie die Behauptungen in Beispiel 3.41.

Eine streng monotone Funktion ist stets injektiv. Sie braucht jedoch nicht surjektiv zu sein. Beispielsweise ist die Funktion

[latex]
\begin{aligned}[]\mathbb {R} \to \mathbb {R},\ x \mapsto \left \lbrace \begin{array}{ll} x+1 &\text {falls } x \geq 0 \\ x &\text {falls } x [/latex]

streng monoton wachsend, aber nicht surjektiv ([latex]\frac {1}{2}[/latex] liegt nicht im Bild).

image

Verlangt man jedoch von einer streng monotonen Funktion, dass sie «nicht springt» , so kann man in vielen Fällen Surjektivität zeigen. Wir haben bereits ein Beispiel dafür gesehen als wir die Existenz der Wurzelfunktion zeigten (siehe Übung 2.12). Den dazu notwendigen Begriff des «Nicht-Springens» besprechen wir im nächsten Abschnitt.

Übung 3.43: Alternative Charakterisierung von Monotonie und strenger Monotonie

Sei [latex]D \subseteq \mathbb {R}[/latex] eine Teilmenge mit [latex]|D|\geq 3[/latex] und [latex]f:D \to \mathbb {R}[/latex] eine Funktion. Betrachten Sie die folgenden Aussagen über [latex]f[/latex], beschreiben Sie ihre Bedeutung in Worten, und geben Sie einen Beweis von drei Ihrer Behauptungen.

  1. [latex]\forall x,y\in D: x
  2. [latex]\forall x,y\in D: x \leq y \iff f(x) \leq f(y)[/latex]
  3. [latex]\forall x,y,z\in D: x f(y)>f(z)\bigr )[/latex]
  4. [latex]\forall x,y,z\in D: x
  5. [latex]\forall x,y,z\in D: x \leq y\leq z \implies \bigl (f(x) f(y)>f(z)\bigr )[/latex]
  6. [latex]\forall x,y,z\in D: x \leq y\leq z \implies \bigl (f(x) \leq f(y)\leq f(z)\vee f(x)\geq f(y)\geq f(z)\bigr )[/latex]

Teillösung

Die Aussagen in (i) und (ii) beschreiben beide, dass [latex]f[/latex] streng monoton wachsend ist. Dies mag bei (ii) etwas überraschen und liegt daran, dass für eine Funktion [latex]f[/latex] mit der Eigenschaft in (ii) und für [latex]x,y\in D[/latex] mit [latex]f(x)=f(y)[/latex] sowohl [latex]x\leq y[/latex] als auch [latex]y\leq x[/latex] folgt.

Die Aussage in (iii) beschreibt, dass [latex]f[/latex] streng monoton ist. Für den Beweis, dass (iii) strenge Monotonie impliziert, wählen Sie am besten zuerst zwei feste Elemente [latex]x_0f(y_0)[/latex] gelten. Wir nehmen [latex]f(x_0)

Die Aussage in (iv) und auch in (vi) beschreibt Monotonie von [latex]f[/latex]. Die Aussage in (v) ist hingegen unsinnig und trifft auf keine Funktion zu, denn aus [latex]x=y=z[/latex] muss natürlich [latex]f(x)=f(y)=f(z)[/latex] folgen.

Übung 3.44: Monotonie unter Summen und Produkten

Sei [latex]D \subseteq \mathbb {R}[/latex] eine Teilmenge und seien [latex]f,f_1,f_2\in \mathcal {F}(D)[/latex] streng monoton wachsend. Zeigen Sie, dass [latex]f_1+f_2\in \mathcal {F}(D)[/latex] streng monoton wachsend ist und dass für [latex]a\in \mathbb {R}[/latex] die Funktion [latex]af\in \mathcal {F}(D)[/latex] streng monoton wachsend ist, falls [latex]a>0[/latex] und streng monoton fallend ist, falls [latex]a 0[/latex] für alle [latex]x\in D[/latex].

Applet 3.45: Monotonie von Einschränkungen

Bei vielen aber nicht allen Funktion [latex]f[/latex] (definiert auf Teilmengen von [latex]\mathbb {R}[/latex]) erhält man eine monotone Funktion mittels Einschränkung von [latex]f[/latex] auf kleinere Intervalle.

3.5 – Stetigkeit

Sei [latex]D\subseteq \mathbb {R}[/latex] eine nicht-leere Teilmenge.

Definition 3.46: Stetigkeit

Sei [latex]f:D \to \mathbb {R}[/latex] eine Funktion. Wir sagen, dass [latex]f[/latex] stetig bei einem Punkt [latex]x_0 \in D[/latex] ist, falls es für alle [latex]\varepsilon >0[/latex] ein [latex]\delta >0[/latex] gibt, so dass für alle [latex]x\in D[/latex] die Implikation

[latex]
\begin{aligned}[]|x-x_0|[/latex]

gilt. Die Funktion [latex]f[/latex] ist stetig, falls sie bei jedem Punkt in [latex]D[/latex] stetig ist. Formal ist Stetigkeit von [latex]f[/latex] also durch

[latex]
\begin{aligned}[]\forall x_0\in D: \forall \varepsilon >0\ \exists \delta >0\ \forall x \in D: |x-x_0|[/latex]

definiert.

Diese Definition ist vielleicht auf den ersten Blick überraschend, wird für uns aber sehr fundamental sein.[6] Wir wollen im Folgenden wieder einige Funktionen und deren Graphen untersuchen, damit wir ein Gespür für die Definition der Stetigkeit erhalten können.

image

Abbildung 3.4 – Bei dieser Funktion [latex]f[/latex] mit einem «kontinuierlichen» Graphen sehen wir, dass [latex]f[/latex] bei [latex]x_0[/latex] stetig ist. Egal wie klein man [latex]\varepsilon > 0[/latex] wählt, kann man sich gut vorstellen, dass für ein geeignetes [latex]\delta > 0[/latex] für alle [latex]x[/latex], die [latex]\delta[/latex]-nahe bei [latex]x_0[/latex] liegen, auch [latex]f(x)[/latex] [latex]\varepsilon[/latex]-nahe an [latex]f(x_0)[/latex] ist. Die Funktion ist sogar auf dem ganzen Definitionsbereich [latex][a,b]\cup [c,d]\cup \left \lbrace {e} \right \rbrace[/latex] stetig.

Applet 3.47: Stetigkeit

Wir betrachten eine Funktion, die an den meisten (aber nicht allen) Punkten des Definitionsbereichs stetig ist.

In den meisten Situationen wird [latex]D[/latex] für uns ein Intervall [latex]I[/latex] sein. Wir untersuchen nun ein paar konkrete Beispiele.

Beispiel 3.48

  • Die konstante Funktion [latex]x \in \mathbb {R}\mapsto c \in \mathbb {R}[/latex] für ein [latex]c \in \mathbb {R}[/latex] ist stetig. (Wieso?

    Man kann für jedes [latex]x_0[/latex] und [latex]\varepsilon >0[/latex] denselben Wert [latex]\delta =1[/latex] verwenden.

    ).

  • Die lineare Funktion [latex]x \in \mathbb {R} \mapsto ax \in \mathbb {R}[/latex] für ein [latex]a \in \mathbb {R}[/latex] ist stetig. Ist [latex]a=0[/latex], so ist die Funktion konstant und somit stetig. Sei also [latex]a\in \mathbb {R}^\times[/latex]. Ist [latex]x_0 \in \mathbb {R}[/latex] und [latex]\varepsilon > 0[/latex], dann gilt [latex]|ax-ax_0| = |a||x-x_0|[/latex] für alle [latex]x\in \mathbb {R}[/latex]. Betrachtet man also die Wahl [latex]\delta = \frac {\varepsilon }{|a|}[/latex] und ein [latex]x \in \mathbb {R}[/latex] mit [latex]|x-x_0|
  • Die Funktion [latex]x \in \mathbb {R} \mapsto |x|\in \mathbb {R}[/latex] ist stetig.
    image

    Ist [latex]x_0\in \mathbb {R}[/latex] und [latex]\varepsilon >0[/latex] beliebig, so gilt wegen der umgekehrten Dreiecksungleichung [latex]\bigl ||x|-|x_0|\bigr |\leq |x-x_0|[/latex] für alle [latex]x\in \mathbb {R}[/latex] . Damit kann man mit der Wahl [latex]\delta = \varepsilon[/latex] erreichen, dass wenn [latex]|x-x_0|

  • Die Funktion [latex]x \in \mathbb {R} \mapsto \lfloor {x} \rfloor \in \mathbb {R}[/latex] ist bei Punkten in [latex]\mathbb {Z}[/latex] nicht stetig.
    image

    Ist [latex]n \in \mathbb {Z}[/latex], dann gilt für jedes [latex]\delta >0[/latex], dass [latex]|(n-\tfrac {1}{2}\delta )-n|

    [latex]
    \begin{aligned}[]\big |\lfloor {n-\tfrac {1}{2}\delta } \rfloor -\lfloor {n} \rfloor \big | = \lfloor {n} \rfloor -\lfloor {n-\tfrac {1}{2}\delta } \rfloor \geq n-(n-1) = 1.\end{aligned}
    [/latex]

    Damit ist die Stetigkeitsbedingung bei [latex]n\in \mathbb {Z}[/latex] für [latex]\varepsilon

Wir möchten an dieser Stelle kurz anmerken, dass es im Beweis der Stetigkeit einer Funktion reicht, [latex]\varepsilon > 0[/latex] «klein genug» zu betrachten. Genauer können wir annehmen, dass [latex]\varepsilon \leq \varepsilon _0[/latex] für ein [latex]\varepsilon _0>0[/latex]. (Wieso?

Denn falls [latex]\varepsilon >\varepsilon _0[/latex] ist, so kann man ein [latex]\delta >0[/latex] zu [latex]\varepsilon _0[/latex] finden, was auch für [latex]\varepsilon[/latex] die gewünschte Aussage erfüllt.

)

Man könnte an dieser Stelle natürlich auch die Stetigkeit weiterer Funktionen beweisen, wie man in folgender Übung verifizieren kann.

Übung 3.49: Quadrat und Quadratwurzel

Zeigen Sie, dass die Funktionen [latex]x \in \mathbb {R} \mapsto x^2 \in \mathbb {R}[/latex] und [latex]x \in \mathbb {R}_{>0} \mapsto \sqrt {x} \in \mathbb {R}_{>0}[/latex] stetig sind.

Da wir jedoch nicht jedes Mal «von Hand» überprüfen möchten, ob eine Funktion stetig ist, wenden wir uns nun allgemeineren Aussagen zu. Eine erste solche wollen wir Ihnen als Übung überlassen.

Wichtige Übung 3.50: Einschränkung von stetigen Funktionen

Sei [latex]D \subseteq \mathbb {R}[/latex] ein Teilmenge und [latex]f:D \to \mathbb {R}[/latex] stetig. Sei [latex]D'[/latex] ein Teilmenge von [latex]D[/latex]. Zeigen Sie die Stetigkeit von [latex]f|_{D'}[/latex].

Hinweis.

Verwenden Sie die Definition von Stetigkeit.

Proposition 3.51: Stetigkeit unter Addition und Multiplikation von Funktionen

Sei [latex]D \subseteq \mathbb {R}[/latex]. Falls [latex]f_1,f_2: D \to \mathbb {R}[/latex] Funktionen sind, die bei einem Punkt [latex]x_0\in D[/latex] stetig sind, dann sind auch [latex]f_1+f_2,\ f_1\cdot f_2[/latex] und [latex]af_1[/latex] für [latex]a \in \mathbb {R}[/latex] stetig bei [latex]x_0[/latex]. Insbesondere bildet die Menge der stetigen Funktionen

[latex]
\begin{aligned}[]C(D) = \left \lbrace {f \in \mathcal {F}(D)} \mid {f \text { ist stetig}}\right \rbrace\end{aligned}
[/latex]

einen Unterraum des Vektorraums [latex]\mathcal {F}(D)[/latex].

Beweis

Angenommen [latex]f_1,f_2\in \mathcal {F}(D)[/latex] sind bei [latex]x_0 \in D[/latex] stetig und sei [latex]\varepsilon >0[/latex]. Dann existieren [latex]\delta _1, \delta _2 > 0[/latex], so dass für alle [latex]x\in D[/latex] gilt

[latex]
\begin{aligned}[]&|x-x_0| [/latex]

Wir setzen [latex]\delta = \min \left \lbrace {\delta _1,\delta _2} \right \rbrace >0[/latex] und erhalten

[latex]
\begin{aligned}[]|x-x_0|[/latex]

Da [latex]\varepsilon >0[/latex] beliebig war, erhalten wir, dass [latex]f_1+f_2[/latex] bei [latex]x_0\in D[/latex] stetig ist.

Das Argument für [latex]f_1f_2[/latex] ist ähnlich, aber etwas komplizierter. Wir beginnen mit der Abschätzung

[latex]
\begin{aligned}[]|f_1(x)f_2(x)-f_1(x_0)f_2(x_0)| &= |f_1(x)f_2(x)-f_1(x_0)f_2(x)+f_1(x_0)f_2(x) -f_1(x_0)f_2(x_0)|\\ &\leq |f_1(x)f_2(x)-f_1(x_0)f_2(x)|+ |f_1(x_0)f_2(x) -f_1(x_0)f_2(x_0)|\\ &= |f_1(x)-f_1(x_0)| |f_2(x)| + |f_1(x_0)| |f_2(x)-f_2(x_0)|\end{aligned}
[/latex]

für [latex]x\in D[/latex] unter Verwendung der Dreiecksungleichung. Sei [latex]\varepsilon > 0[/latex] und wähle [latex]\delta _1> 0[/latex] und [latex]\delta _2 > 0[/latex], so dass für [latex]x\in D[/latex]

[latex]
\begin{aligned}[]&|x-x_0| [/latex]

erfüllt sind. Dann gilt für ein [latex]x\in D[/latex] mit [latex]|x-x_0|

[latex]
\begin{aligned}[]|f_2(x)| = |f_2(x)-f_2(x_0)+f_2(x_0)| \leq |f_2(x)-f_2(x_0)|+|f_2(x_0)| [/latex]

und damit

[latex]
\begin{aligned}[]|f_1(x)-f_1(x_0)| |f_2(x)| [/latex]

Für das zweite Argument gilt ebenso

[latex]
\begin{aligned}[]|f_1(x_0)| |f_2(x)-f_2(x_0)| \leq |f_1(x_0)| \frac {\varepsilon }{2(|f_1(x_0)|+1)} [/latex]

Gemeinsam erhalten wir [latex]|f_1(x)f_2(x)-f_1(x_0)f_2(x_0)|

Wir präsentieren eine direkte Anwendung dieser Proposition.

Korollar 3.52

Polynome sind stetig, das heisst, [latex]\mathbb {R}[x] \subseteq C(\mathbb {R})[/latex].

Beweis

Wie wir in Beispiel 3.48 gesehen haben, ist die Funktion [latex]p(x) = x[/latex] stetig und konstante Funktionen sind stetig. Vollständige Induktion und Proposition 3.51 zeigen, dass jedes Polynom [latex]\sum _{k=0}^na_kx^k \in \mathbb {R}[x][/latex] stetig ist. ∎

Eine weitere Art und Weise, wie man zeigen kann, dass eine Funktion stetig ist, ist, dass man sie als Verknüpfung von stetigen Funktionen darstellt.

Proposition 3.53: Stetigkeit unter Verknüpfung

Seien [latex]D_1,D_2\subseteq \mathbb {R}[/latex] zwei Teilmengen und sei [latex]x_0 \in D_1[/latex]. Angenommen [latex]f:D_1 \to D_2[/latex] ist eine bei [latex]x_0[/latex] stetige Funktion und [latex]g: D_2 \to \mathbb {R}[/latex] ist eine bei [latex]f(x_0)[/latex] stetige Funktion. Dann ist [latex]g \circ f:D_1 \to \mathbb {R}[/latex] bei [latex]x_0[/latex] stetig. Insbesondere ist die Verknüpfung von stetigen Funktionen wieder stetig.

Es folgt damit, dass zum Beispiel die Abbildung [latex]x\in D\mapsto |f(x)|\in \mathbb {R}[/latex] für eine beliebige stetige Funktion [latex]f:D \to \mathbb {R}[/latex] stetig ist (nach Beispiel 3.48).

Beweis

Sei [latex]\varepsilon > 0[/latex]. Dann existiert wegen der Stetigkeit von [latex]g[/latex] bei [latex]f(x_0)[/latex] ein [latex]\eta >0[/latex], so dass für alle [latex]y\in D_2[/latex]

[latex]
\begin{aligned}[]|y-f(x_0)|[/latex]

Da [latex]\eta >0[/latex] ist und [latex]f[/latex] bei [latex]x_0[/latex] stetig ist, gibt es aber auch ein [latex]\delta >0[/latex], so dass für alle [latex]x\in D_1[/latex]

[latex]
\begin{aligned}[]|x-x_0| [/latex]

Zusammen ergibt sich (für [latex]y=f(x) \in f(D_1)\subseteq D_2[/latex]), dass für alle [latex]x\in D_1[/latex]

[latex]
\begin{aligned}[]|x-x_0| [/latex]

gilt. Dies beweist auch die letzte Aussage, da [latex]x_0[/latex] ein beliebiger Punkt in [latex]D_1[/latex] war. ∎

Übung 3.54: Stetigkeit von Quotienten

Zeigen Sie, dass die Funktion [latex]x \in \mathbb {R}^\times \mapsto \frac {1}{x} \in \mathbb {R}^\times[/latex] stetig ist. Schliessen Sie, dass Funktionen der Art [latex]x \in D \mapsto \frac {f(x)}{g(x)} \in \mathbb {R}[/latex] stetig sind, wenn [latex]D \subseteq \mathbb {R}[/latex] eine Teilmenge und [latex]f:D \to \mathbb {R},\ g:D \to \mathbb {R}^\times[/latex] stetige Funktionen sind. (Beachte, dass [latex]g[/latex] auf [latex]D[/latex] keine Nullstelle haben darf.)

Hinweis.

Der zweite Teil folgt aus dem ersten und den Propositionen 3.51 und 3.53. Für den ersten Teil versuchen sie zuerst [latex]|\frac 1x-\frac 1{x_0}|[/latex] umzuformen und abzuschätzen bevor Sie versuchen, das geeignete [latex]\delta >0[/latex] zu finden. Durch die geeignete Wahl von [latex]\delta[/latex] kann man auch verhindern, dass [latex]x[/latex] zu nahe an die [latex]0[/latex] gerät, was für die Abschätzung von Nachteil wäre.

Eine andere Art und Weise, wie man stetige Funktionen konstruieren kann, ist durch «zusammenkleben» , wie wir in folgender Übung diskutieren wollen.

Wichtige Übung 3.55: Stetige Funktionen durch Fallunterscheidung

Seien zwei Intervalle durch [latex]I_1= [a,b],\ I_2 =~[b,c]\subseteq \mathbb {R}[/latex] gegeben mit [latex]a

[latex]
\begin{aligned}[]f:[a,c] \to \mathbb {R},\ x \mapsto \left \lbrace \begin{array}{ll} f_1(x) & \text {falls } x\in [a,b) \\ f_2(x) & \text {falls } x\in [b,c]\end{array}\right .\end{aligned}
[/latex]

genau dann stetig ist, wenn [latex]f_1(b) = f_2(b)[/latex] gilt.

Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch folgende Charakterisierung von Stetigkeit, auf die wir später wieder zu sprechen kommen werden und die beispielsweise eine grundlegende Definition der Topologie-Vorlesung im vierten Semester des Mathematikstudums darstellt.

Übung 3.56: Stetigkeit über offene Mengen

Sei [latex]I\subseteq \mathbb {R}[/latex] ein offenes Intervall. Zeigen Sie, dass [latex]f[/latex] genau dann stetig ist, wenn für jede offene Menge [latex]U \subseteq \mathbb {R}[/latex] auch [latex]f^{-1}(U)[/latex] offen ist.

Ist eine Funktion [latex]f[/latex] stetig, so ist das Verhalten von [latex]f[/latex] in kleinen Umgebungen eines Punktes oft vorhersehbar.

Übung 3.57: Lokale Eigenschaften von stetigen Funktionen

Sei [latex]D \subseteq \mathbb {R}[/latex] eine Teilmenge und [latex]f: D \to \mathbb {R}[/latex] eine Funktion. Zeigen Sie die folgenden Aussagen.

  1. (Lokal beschränkt) Wenn [latex]f[/latex] bei [latex]x_0 \in D[/latex] stetig ist, dann gibt es eine [latex]\delta[/latex]-Umgebung [latex]U[/latex] von [latex]x_0[/latex] und ein [latex]M>0[/latex], so dass [latex]|f(x)|\leq M[/latex] für alle [latex]x\in D \cap U[/latex].
  2. (Lokal das gleiche Vorzeichen) Wenn [latex]f[/latex] bei [latex]x_0 \in D[/latex] stetig ist und [latex]f(x_0) \neq 0[/latex] ist, dann gibt es eine [latex]\varepsilon[/latex]-Umgebung [latex]U[/latex] von [latex]x_0[/latex], so dass [latex]f(x)f(x_0)>0[/latex] für alle [latex]x \in D \cap U[/latex] (das heisst, [latex]f(x)[/latex] und [latex]f(x_0)[/latex] haben dasselbe Vorzeichen).

Übung 3.58: Challenge — «Fast überall» Stetigkeit von monotonen Funktionen

In dieser Übung möchten wir zeigen, dass es zu einer monotonen Funktion [latex]f[/latex] auf einem Intervall [latex][a,b][/latex] mit [latex]a

  1. Sei [latex]x \in A[/latex]. Wir setzen
    [latex]
    \begin{aligned}[]f_-(x) = \sup \left \lbrace {f(x')} \mid {x'\in [a,b],\ x' {\; \; } x}\right \rbrace .\end{aligned}
    [/latex]

    Zeigen Sie, dass [latex]f_-(x)

  2. Zeigen Sie, dass [latex]g: x\in A \mapsto g(x)\in \mathbb {Q}[/latex] injektiv ist und schliessen Sie auf die Aussage.

3.5.1 – Komplex-wertige Funktionen

Für eine Menge [latex]D[/latex] können wir in Analogie zum reellen Vektorraum [latex]\mathcal {F}(D)[/latex] auch den komplexen Vektorraum

[latex]
\begin{aligned}[]\mathcal {F}_\mathbb {C}(D) = \left \lbrace {f} \mid {f:D \to \mathbb {C}}\right \rbrace\end{aligned}
[/latex]

der [latex]\mathbb {C}[/latex]-wertigen Funktionen oder komplex-wertigen Funktionen Funktionen auf [latex]D[/latex] definieren. Weiter sagen wir, dass eine Funktion [latex]f:D\to \mathbb {C}[/latex] beschränkt ist, falls die reellwertige Funktion [latex]x\in D\mapsto |f(x)|[/latex] beschränkt ist. Ein Punkt [latex]x\in D[/latex] ist eine Nullstelle einer Funktion [latex]f:D \to \mathbb {C}[/latex], falls [latex]f(x) = 0[/latex] gilt.

Dieser Abschnitt lässt sich ohne grosse Änderung auf [latex]\mathbb {C}[/latex]-wertige Funktionen auf einer Teilmenge [latex]D \subseteq \mathbb {C}[/latex] übertragen. Wir empfehlen Ihnen diesen Abschnitt nochmals zu lesen, aber diesmal komplex-wertige Funktionen auf Teilmengen [latex]D\subseteq \mathbb {C}[/latex] zu erlauben, wobei [latex]\varepsilon >0[/latex] und [latex]\delta >0[/latex] weiterhin reelle Zahlen darstellen. Wir werden später nochmals in grösserer Allgemeinheit auf den Begriff der Stetigkeit zu sprechen kommen. Wir bemerken noch, dass die Monotonieeigenschaften in Abschnitt 3.4.2 hingegen kein Analog für komplex-wertige Funktionen besitzen (da auf [latex]\mathbb {C}[/latex] keine natürliche Ordnung gegeben ist).

3.6 – Der Zwischenwertsatz

In diesem Abschnitt wollen wir einen fundamentalen Satz beweisen, der die Heuristik, dass der Graph einer stetigen Funktion auf einem Intervall «eine durchgehende Kurve» darstellt, formalisiert. Wir sagen, dass eine reelle Zahl [latex]c[/latex] zwischen zwei reellen Zahlen [latex]x_1,x_2[/latex] liegt, falls [latex]x_1\leq c\leq x_2[/latex] oder [latex]x_2 \leq c \leq x_1[/latex] gilt. Wir sagen [latex]c[/latex] liegt echt zwischen [latex]x_1[/latex] und [latex]x_2[/latex] falls [latex]x_1

Satz 3.59: Zwischenwertsatz

Sei [latex]I\subseteq \mathbb {R}[/latex] ein Intervall, [latex]f: I \to \mathbb {R}[/latex] eine stetige Funktion und [latex]a,b\in I[/latex]. Für jedes [latex]c\in \mathbb {R}[/latex] zwischen [latex]f(a)[/latex] und [latex]f(b)[/latex] gibt es ein [latex]x\in \mathbb {R}[/latex] zwischen [latex]a[/latex] und [latex]b[/latex], so dass [latex]f(x) = c[/latex] gilt.

image

Abbildung 3.5 – Der Graph einer stetigen Funktion kann keine Sprünge machen und die Funktion nimmt alle Werte zwischen [latex]f(a)[/latex] und [latex]f(b)[/latex] an.

Wie wir sehen werden, verwendet der Beweis die Existenz des Supremums (und damit das Vollständigkeitsaxiom).

Beweis

Wir nehmen ohne Beschränkung der Allgemeinheit an, dass [latex]a f(b)[/latex] ist, betrachtet man zuerst [latex]-f[/latex] und bemerkt, dass die Aussage des Satzes für [latex]-f[/latex] die Aussage des Satzes für [latex]f[/latex] impliziert).

Sei nun [latex]c\in [f(a),f(b)][/latex]. Falls [latex]c= f(a)[/latex] oder [latex]c=f(b)[/latex] gilt, sind wir fertig. Also angenommen [latex]c\in (f(a),f(b))[/latex]. Wir definieren

[latex]
\begin{aligned}[]X= \left \lbrace {x \in [a,b]} \mid {f(x) \leq c}\right \rbrace\end{aligned}
[/latex]

und bemerken, dass [latex]a\in X[/latex] und [latex]X \subseteq [a,b][/latex], wodurch [latex]X[/latex] nicht-leer und von oben beschränkt ist. Nach Satz 2.60 existiert daher [latex]x_0 = \sup (X) \in [a,b][/latex]. Wir werden nun die Stetigkeit von [latex]f[/latex] bei [latex]x_0[/latex] verwenden, um zu zeigen, dass [latex]f(x_0) = c[/latex].

Für jedes [latex]\varepsilon >0[/latex] gibt es ein [latex]\delta >0[/latex], so dass für alle [latex]x \in [a,b][/latex] gilt
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktRproofzwsatz} |x-x_0|[/latex]

Angenommen [latex]f(x_0) c[/latex] und [latex]x_0\in [a,b][/latex]. Wir wenden nun die Stetigkeit von [latex]f[/latex] bei [latex]x_0[/latex] an und finden für [latex]\varepsilon = c-f(x_0)> 0[/latex] ein [latex]\delta >0[/latex] wie in (3.6). Da [latex]x_0

[latex]
\begin{aligned}[]f(x) = f(x_0) + (f(x)-f(x_0)) [/latex]

Also muss [latex]x[/latex] in [latex]X[/latex] liegen, was aber [latex]\sup (X) = x_0

Angenommen [latex]f(x_0) > c[/latex]. Dann folgt [latex]x_0>a[/latex] wegen [latex]f(a)0[/latex] mit der Eigenschaft in (3.6). Für [latex]x \in (x_0-\delta ,x_0)\cap [a,b][/latex] gilt dadurch

[latex]
\begin{aligned}[]f(x) = f(x_0)+(f(x)-f(x_0))> f(x_0)-(f(x_0)-c) = c,\end{aligned}
[/latex]

wodurch [latex]x\notin X[/latex] und daher [latex](x_0-\delta ,x_0)\cap [a,b]\cap X = \emptyset[/latex]. Also ist [latex]x_0-\delta[/latex] eine obere Schranke von [latex]X[/latex], was aber [latex]x_0 = \sup (X)[/latex] widerspricht. Daher gilt [latex]f(x_0) = c[/latex] und der Satz folgt. ∎

Übung 3.60: Flugreise

In dieser Übung möchten wir eine Anwendung des Zwischenwertsatzes aus dem Alltag präsentieren. Angenommen Sie fliegen von Zürich nach Lima. Zeigen Sie, dass Sie dabei den Äquator überqueren müssen.

Hinweis.

Betrachten Sie Breitengrade.

Wir wenden uns nun formaleren Anwendungen des Zwischenwertsatzes zu. Der Zwischenwertsatz ist beispielsweise nützlich, wenn man versucht Nullstellen von stetigen Funktionen zu finden oder wenn man versucht, «Löcher» im Bild einer Funktion auszuschliessen.

Übung 3.61: Nullstellen von Polynomen

Zeigen Sie, dass jedes reelle Polynom von ungeradem Grad eine (reelle) Nullstelle besitzt. Gehen Sie dazu wie folgt vor: Sei [latex]f= \sum _{j=0}^n a_jx^j[/latex] in [latex]\mathbb {R}[x][/latex] mit [latex]a_n \neq 0[/latex] und [latex]n[/latex] ungerade.

Hinweis.

Verwenden Sie den Beweis von Proposition 3.15 und zeigen Sie, dass es Zahlen [latex]x,y\in \mathbb {R}[/latex] geben muss mit [latex]f(x)0[/latex].

Übung 3.62: Injektivität und Monotonie

Sei [latex]I[/latex] ein nicht-leeres Intervall und [latex]f: I \to \mathbb {R}[/latex] eine stetige, injektive Abbildung. Zeigen Sie, dass [latex]f[/latex] streng monoton ist.

Hinweis.

Betrachten Sie [latex]a,b \in I[/latex] mit [latex]a

In den folgenden zwei Übungen möchten wir auf einen weiteren Begriff hinweisen, der eng in Verbindung zum Zwischenwertsatz steht. Im zweiten Semester werden wir auf diesen Zusammenhang zurückkehren.

Übung 3.63: Zusammenhängende Teilmengen von [latex]\mathbb {R}[/latex]

Wir nennen eine Teilmenge [latex]M \subseteq \mathbb {R}[/latex] zusammenhängend, wenn es keine zwei offenen Mengen [latex]U,V \subseteq \mathbb {R}[/latex] mit
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-intcon1} (U\cap M) \sqcup (V\cap M) = M,\ U\cap M \neq \emptyset ,\ V\cap M \neq \emptyset\end{aligned}
[/latex]
gibt. Intuitiv ist die Menge [latex]M[/latex] also zusammenhängend, wenn sie sich nicht durch offene Mengen auseinanderreissen lässt. Ziel dieser Übung ist es zu zeigen, dass die zusammenhängenden Teilmengen von [latex]\mathbb {R}[/latex] gerade die Intervalle sind.

  1. Sei [latex]M \subseteq \mathbb {R}[/latex] eine Teilmenge, die nicht ein Intervall ist. Zeigen Sie unter Verwendung von Übung 2.80, dass [latex]M[/latex] nicht zusammenhängend ist.
  2. Sei nun [latex]I \subseteq \mathbb {R}[/latex] ein nicht-leeres Intervall und [latex]U,V \subseteq \mathbb {R}[/latex] offen wie in Gleichung (3.7) für [latex]M=I[/latex]. Seien [latex]u\in U \cap I[/latex] und [latex]v \in V \cap I[/latex] und ohne Beschränkung der Allgemeinheit [latex]u

Übung 3.64: Zwischenwertsatz via Zusammenhang

Zeigen Sie den Zwischenwertsatz in folgenden Schritten. Sei [latex]I=[a,b][/latex] ein Intervall und [latex]f:I \to \mathbb {R}[/latex] stetig.

  1. (Charakterisierung von Stetigkeit) Zeigen Sie für jede offene Menge [latex]U \subseteq \mathbb {R}[/latex], dass [latex]f^{-1}(U)[/latex] von der Form [latex]U' \cap I[/latex] für eine offene Menge [latex]U' \subseteq \mathbb {R}[/latex] ist.

    Hinweis.

    Vergleichen Sie mit Übung 3.56.

  2. Zeigen Sie, dass das Bild von [latex]f[/latex] zusammenhängend ist.

    Hinweis.

    Nehmen sie an, dass offene Teilmengen [latex]U,V \subseteq \mathbb {R}[/latex] wie in Gleichung (3.7) für [latex]M=f(I)[/latex] existieren und betrachten Sie deren Urbild unter [latex]f[/latex].

  3. Schliessen Sie auf den Zwischenwertsatz unter Verwendung von Übung 3.63 und (ii).

    Hinweis.

    [latex]f(I)[/latex] ist ein Intervall.

3.7 – Der Satz über die Umkehrabbildung

In diesem Teilabschnitt wollen wir nun zeigen, dass jede stetige, streng monotone Abbildung eine inverse Abbildung (mit denselben schönen Eigenschaften) besitzt.

Satz 3.65: Umkehrsatz

Sei [latex]I[/latex] ein Intervall und [latex]f:I \to \mathbb {R}[/latex] eine stetige, streng monotone Funktion. Dann ist [latex]f(I) \subseteq \mathbb {R}[/latex] wieder ein Intervall und die Abbildung [latex]f:I \to f(I)[/latex] hat eine stetige, streng monotone inverse Abbildung [latex]f^{-1}:f(I) \to I[/latex]. Falls [latex]I=[a,b][/latex] für reelle Zahlen [latex]a

Tatsächlich ist [latex]f^{-1}[/latex] streng monoton wachsend (respektive streng monoton fallend), wenn [latex]f[/latex] streng monoton wachsend (respektive streng monoton fallend) ist. (Wieso?

Dies folgt unmittelbar aus der Existenz der inversen Funktion und den Definitionen, siehe auch den Beweis weiter unten.

). Bevor wir uns dem Beweis zuwenden, wollen wir eine Anwendung dieses Satzes betrachten.

Beispiel 3.66: Existenz von Wurzeln höherer Ordnung

Sei [latex]n\in \mathbb {N}[/latex]. Dann ist die Funktion [latex]x~\in ~[0,\infty ) \mapsto x^n \in [0,\infty )[/latex] streng monoton wachsend und surjektiv. Um Surjektivität zu sehen betrachten wir ein beliebiges [latex]c \in [0,\infty )[/latex]. Nach der Bernoullischen Ungleichung (Lemma 3.5) gilt [latex](c+1)^n > nc \geq c[/latex], womit [latex]c[/latex] zwischen [latex]0 = 0^n[/latex] und [latex](c+1)^n[/latex] liegt. Aus dem Zwischenwertsatz (Satz 3.59) folgt nun, dass es ein [latex]x[/latex] zwischen [latex]0[/latex] und [latex]c+1[/latex] gibt, für das [latex]x^n = c[/latex] ist.

Nach dem Umkehrsatz (Satz 3.65) existiert eine stetige, streng monoton wachsende Umkehrabbildung

[latex]
\begin{aligned}[]x \in [0,\infty ) \mapsto \sqrt [n]{x} \in [0,\infty ),\end{aligned}
[/latex]

die die n-te Wurzel genannt wird. Des Weiteren definieren wir für [latex]x\in [0,\infty )[/latex] und [latex]m,n\in \mathbb {N}[/latex]

[latex]
\begin{aligned}[]x^{\frac {m}{n}} = \sqrt [n]{x^m}\end{aligned}
[/latex]

und für [latex]x\in (0,\infty )[/latex] und [latex]m,n\in \mathbb {N}[/latex] auch [latex]x^{-\frac {m}{n}} = (x^{\frac {m}{n}})^{-1}[/latex]

Wichtige Übung 3.67: Rechenregeln für rationale Potenzen

Zeigen Sie die Rechenregeln (in Analogie zu Übung 3.2)

[latex]
\begin{aligned}[](xy)^{\frac {m}n}=x^{\frac {m}{n}}y^{\frac {m}{n}},\quad x^{\frac {m_1}{n_1}+\frac {m_2}{n_2}}=x^{\frac {m_1}{n_1}}x^{\frac {m_2}{n_2}},\quad (x^{\frac {m_1}{n_1}})^{\frac {m_2}{n_2}} = x^{\frac {m_1}{n_1}\frac {m_2}{n_2}}\end{aligned}
[/latex]

für positive Basen [latex]x,y\in (0,\infty )[/latex] und rationale Exponenten [latex]\frac {m}{n},\frac {m_1}{n_1},\frac {m_2}{n_2}\in \mathbb {Q}[/latex].

Beweis von Satz 3.65

Ohne Beschränkung der Allgemeinheit können wir annehmen, dass [latex]f[/latex] streng monoton wachsend ist (sonst ersetzt man [latex]f[/latex] mit [latex]-f[/latex]). Wir bemerken zuerst, dass die Funktion [latex]f:I \to f(I)[/latex] bijektiv ist, da sie (per Definition) surjektiv ist und auf Grund der strengen Monotonie auch injektiv ist. Somit existiert eine (eindeutig bestimmte) Umkehrabbildung [latex]g = f^{-1}: f(I) \to I[/latex], welche auch streng monoton wachsend sein muss: Da [latex]f[/latex] streng monoton wachsend ist, gilt (siehe Übung 3.43)

[latex]
\begin{aligned}[]x_1 [/latex]

für alle [latex]x_1,x_2 \in I[/latex], was zu

[latex]
\begin{aligned}[]f^{-1}(y_1) [/latex]

für alle [latex]y_1,y_2 \in f(I)[/latex] äquivalent ist.

Wir möchten nun zeigen, dass [latex]f(I)[/latex] auch ein Intervall ist und nehmen dazu vorerst an, dass [latex]I = [a,b][/latex] ein abgeschlossenenes, beschränkten Intervall für zwei reelle Zahlen [latex]a3.59) ist auch [latex]f([a,b]) = [f(a),f(b)][/latex] und damit ist [latex]f(I)[/latex] insbesondere ein Intervall.

Sei nun [latex]I[/latex] ein beliebiges[7] Intervall in [latex]\mathbb {R}[/latex] mit Endpunkten [latex]a3.59) ist also [latex]y\in f(I)[/latex] und die Behauptung folgt. Wir haben damit insbesondere gezeigt, dass [latex]f(I)[/latex] ein Intervall ist.

Falls der linke Endpunkt [latex]a[/latex] von [latex]I[/latex] zu [latex]I[/latex] gehört, dann ist [latex]c= f(a)=\inf f(I)=\min f(I)[/latex]. Falls [latex]a[/latex] nicht zu [latex]I[/latex] gehört, dann gibt es zu jedem [latex]x\in I[/latex] ein Element [latex]x_-\in I[/latex] mit [latex]x_-

Wir wollen nun zeigen, dass [latex]g = f^{-1}[/latex] stetig ist. Sei also [latex]y_0 \in f(I)[/latex] und [latex]\varepsilon >0[/latex]. Wir definieren den Punkt [latex]x_0 = g(y_0)[/latex].

Falls [latex]y_0y_0[/latex] und erhalten für alle [latex]y\in f(I)[/latex]

[latex]
\begin{aligned}[]y_0 \leq y [/latex]

oder auch
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-proof umkehrsatz1} y_0 \leq y [/latex]
Falls [latex]a\in I[/latex] und [latex]y_0 = c=f(a)[/latex] gilt, ist dies bereits die Stetigkeitsbedingung bei [latex]y_0[/latex] für [latex]\varepsilon[/latex] und die Wahl [latex]\delta = y_+-y_0[/latex]. In der Tat falls [latex]y\in f(I)[/latex] und [latex]|y-y_0|

image

Falls [latex]y_0>c[/latex] und damit auch [latex]x_0>a[/latex] ist, dann gibt es einen Punkt [latex]x_- \in (x_0-\varepsilon ,x_0)[/latex] mit [latex]x_->a[/latex]. Wir definieren [latex]y_- =f(x_-)

[latex]
\begin{aligned}[]y_- [/latex]

oder auch
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-proof umkehrsatz2} y_- [/latex]
Falls [latex]b\in I[/latex] und [latex]y_0 = f(b)[/latex] ist dies wiederum die Stetigkeitsbedingung bei [latex]y_0[/latex] für [latex]\varepsilon[/latex] und [latex]\delta = y_0 -y_-[/latex].

Für einen beliebigen Punkt [latex]y_0 \in (a,b)[/latex] setzen wir [latex]\delta = \min \left \lbrace {y_+-y_0,y_0-y_-} \right \rbrace[/latex] und können die Gleichungen (3.8) und (3.9) kombinieren zu

[latex]
\begin{aligned}[]|y-y_0| [/latex]

für alle [latex]y\in f(I)[/latex], was zu beweisen war. ∎

3.7.1 – Wurzeln aus natürlichen Zahlen

Wir wollen hier nochmals betonen, dass wann immer wir das Supremum verwenden, wir implizit auch das Vollständigkeitsaxiom (Axiom () in Abschnitt 2.1) verwenden. Dies ist insbesondere für den Zwischenwertsatz (Satz 3.59) und damit auch für den Umkehrsatz (Satz 3.65) der Fall. Manifestieren tut sich diese Tatsache darin, dass Wurzeln eher selten rationale Zahlen liefern.

Lemma 3.68

Seien [latex]m,k \in \mathbb {N}[/latex]. Die [latex]m[/latex]-te Wurzel [latex]\sqrt [m]{k}[/latex] ist genau dann rational, wenn sie eine ganze Zahl ist.

Dieses Lemma vereinfacht unter anderem in konkreten Fällen die Verifikation, ob eine ganze Zahl eine rationale Wurzel hat oder nicht. Grund dafür ist beispielsweise, dass Primzahlen keine [latex]m[/latex]-te Wurzel in [latex]\mathbb {Z}[/latex] haben können. (Wieso?)

Beweis

Angenommen [latex]\sqrt [m]{k} = \frac {p}{q}\in \mathbb {Q}[/latex] für zwei natürliche Zahlen [latex]p,q\in \mathbb {N}[/latex]. Nach Kürzen mit dem grössten gemeinsamen Teiler können wir annehmen, dass [latex]\frac {p}{q}[/latex] durchgekürzt ist oder äquivalent dazu, dass [latex]p[/latex] und [latex]q[/latex] teilerfremd sind. Dann ist aber auch [latex]k =\big (\frac {p}{q}\big )^m = \frac {p^m}{q^m}[/latex] ein durchgekürzter Bruch, denn jeder Primfaktor von [latex]p^m[/latex] (resp. [latex]q^m[/latex]) ist ein Primfaktor von [latex]p[/latex] (resp. [latex]q[/latex]) und somit sind [latex]p^m[/latex] und [latex]q^m[/latex] teilerfremd. Nach Annahme ist aber [latex]\frac {p^m}{q^m} = k \in \mathbb {Z}[/latex], was [latex]q^m \mid p^m[/latex], [latex]q^m =1[/latex] und also [latex]q=1[/latex] impliziert. Dann ist [latex]k = p^m[/latex] und [latex]\sqrt [m]{k} = p \in \mathbb {Z}[/latex]. Die Umkehrung folgt aus [latex]\mathbb {Z} \subseteq \mathbb {Q}[/latex]. ∎

Wir sehen also, dass [latex]\sqrt {2},\sqrt {3},\sqrt {5},...,\sqrt [3]{2},\sqrt [3]{3},\sqrt [3]{4}, \sqrt [3]{5},\sqrt [3]{6},\sqrt [3]{7},\sqrt [3]{9},...[/latex] alles irrationale Zahlen sind, und haben somit eine Kollektion von (konkreten) irrationalen Zahlen zur Verfügung. Genauer gilt folgendes Kriterion.

Übung 3.69

Sei [latex]k\in \mathbb {N}[/latex] und [latex]m\in \mathbb {N}[/latex]. Zeigen Sie, dass [latex]\sqrt [m]{k}[/latex] genau dann rational ist, wenn jeder Primfaktor [latex]p[/latex] in der Primfaktorzerlegung von [latex]k[/latex] die Eigenschaft [latex]p^\ell |k[/latex] und [latex]p^{\ell +1}\nmid k[/latex] für eine durch [latex]m[/latex] teilbare natürliche Zahl [latex]\ell[/latex] hat.

3.8 – Stetige Funktionen auf kompakten Intervallen

In diesem Abschnitt möchten wir zeigen, dass stetige Funktionen auf beschränkten, abgeschlossenen Intervallen — sogenannten kompakten Intervallen — besondere Eigenschaften besitzen.

3.8.1 – Beschränktheit

Satz 3.70: Beschränktheit

Seien [latex]a,b \in \mathbb {R}[/latex] zwei reelle Zahlen mit [latex]a

Beweis

Wir definieren zuerst die Teilmenge

[latex]
\begin{aligned}[]X = \left \lbrace {t \in [a,b]} \mid {f|_{[a,t]} \text { ist beschränkt}}\right \rbrace .\end{aligned}
[/latex]

Da [latex][a,a] = \left \lbrace {a} \right \rbrace[/latex] gilt, liegt [latex]a \in X[/latex], womit [latex]X \subseteq [a,b][/latex] eine nicht-leere, beschränkte Teilmenge von [latex]\mathbb {R}[/latex] ist. Nach dem Satz über das Supremum (Satz 2.60) existiert daher das Supremum [latex]s_0 = \sup (X)[/latex] von [latex]X[/latex]. Des Weiteren muss [latex]s_0 \in [a,b][/latex] liegen, da zum einen [latex]a \in X[/latex] liegt und zum anderen [latex]X[/latex] in [latex][a,b][/latex] enthalten ist und somit [latex]b[/latex] eine obere Schranke ist.

Wir verwenden die Stetigkeit von [latex]f[/latex] bei [latex]s_0[/latex] für [latex]\varepsilon = 1[/latex], wonach es ein [latex]\delta > 0[/latex] gibt, so dass für alle [latex]x \in [a,b][/latex] die Implikation

[latex]
\begin{aligned}[]|x-s_0| [/latex]

gilt. Wir definieren [latex]t_0 = \max \left \lbrace {a,s_0-\delta } \right \rbrace[/latex] und [latex]t_1 = \min \left \lbrace {b,s_0+\delta } \right \rbrace[/latex], womit
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-boundedoncompacta} |f(x)| \leq |f(x)-f(s_0)| + |f(s_0)| [/latex]
für alle [latex]x \in (t_0,t_1)[/latex].

Da [latex]s_0-\delta[/latex] keine obere Schranke von [latex]X[/latex] ist, gibt es ein [latex]t \in X[/latex] mit [latex]t > s_0-\delta[/latex]. Daher ist [latex]f|_{[a,t]}[/latex] beschränkt und es existiert ein [latex]M_0>0[/latex] mit [latex]|f(x)| \leq M_0[/latex] für alle [latex]x \in [a,t][/latex].

Es gilt [latex]t \geq t_0 = \max \left \lbrace {a,s_0-\delta } \right \rbrace[/latex] und daher [latex][a,t] \cup (t_0,t_1) = [a,t_1)[/latex]. Auf Grund von Gleichung (3.10) und der Wahl von [latex]M_0[/latex] gilt somit

[latex]
\begin{aligned}[]|f(x)| \leq \max \left \lbrace {M_0,1+|f(s_0)|,|f(t_1)|} \right \rbrace\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]x \in [a,t_1][/latex]. Wir schliessen, dass [latex]t_1 \in X[/latex] liegt und [latex]t_1 \leq s_0[/latex] gilt. Da aber [latex]t_1 = \min \left \lbrace {b,s_0+\delta } \right \rbrace[/latex] per Definition, muss [latex]t_1 = b[/latex] sein. Also ist [latex]f[/latex] auf [latex][a,b][/latex] beschränkt. ∎

Es drängt sich bei obiger Beweismethode (die wir bereits das dritte Mal angewendet haben) der Vergleich mit einem Induktionsbeweis auf. Wir wollen dies kurz in Worte fassen auch wenn dies bloss eine Analogie darstellt und keineswegs formal als Ersatz von obiger Beweisführung angesehen werden kann. Wir beginnen das Argument damit zu zeigen, dass [latex]a\in X[/latex] ist, was dem Induktionsanfang entspricht. Danach zeigen wir für [latex]t\in X[/latex] mit [latex]t

Wichtige Übung 3.71: Gegenbeispiele

  1. Finden Sie eine unbeschränkte, stetige Funktion auf einem beschränkten Intervall.
  2. Finden Sie eine unbeschränkte, stetige Funktion auf einem abgeschlossenen Intervall.
  3. Finden Sie eine unbeschränkte Funktion auf einem kompakten Intervall, die nur in einem einzigen Punkt unstetig ist.

3.8.2 – Maximum und Minimum

Sei [latex]D \subseteq \mathbb {R}[/latex] eine Teilmenge und [latex]f\in \mathcal {F}(D)[/latex] eine reellwertige Funktion auf [latex]D[/latex]. Wir sagen, dass [latex]f[/latex] das Maximum in [latex]x_{\max }\in D[/latex] annimmt, falls [latex]f(x) \leq f(x_{\max })[/latex] für alle [latex]x\in D[/latex]. Analog nimmt [latex]f[/latex] ein Minimum in [latex]x_{\min } \in D[/latex] an, falls [latex]f(x) \geq f(x_{\min })[/latex] für alle [latex]x \in D[/latex]. Wir bezeichnen [latex]f(x_{\max })[/latex] als das Maximum von [latex]f[/latex] (auf [latex]D[/latex]) und [latex]f(x_{\min })[/latex] als das Minimum von [latex]f[/latex] (auf [latex]D[/latex]). Wir wollen nun zeigen, dass stetige Funktion auf einem kompaktem Intervall stets ihr Minimum und ihr Maximum annehmen.

Korollar 3.72: Annahme des Maximums und des Minimums

Seien [latex]a, b \in \mathbb {R}[/latex] zwei reelle Zahlen mit [latex]a

Beweis

Nach Satz 3.70 ist [latex]f[/latex] beschränkt, womit nach Satz 2.60 das Supremum [latex]S = \sup f([a,b])[/latex] existiert. Wir nehmen nun indirekt an, dass [latex]f(x)

[latex]
\begin{aligned}[]F:[a,b] \to (0,\infty ),\ x \mapsto \frac {1}{S-f(x)}\end{aligned}
[/latex]

eine wohldefinierte Funktion. Diese ist nach Proposition 3.53 stetig. Nach Satz 3.70 ist [latex]F[/latex] also beschränkt, womit ein [latex]M >0[/latex] mit

[latex]
\begin{aligned}[]\frac {1}{S-f(x)} = F(x) \leq M\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]x \in [a,b][/latex] existiert. Somit gilt

[latex]
\begin{aligned}[]\frac {1}{M} \leq S-f(x)\end{aligned}
[/latex]

oder anders ausgedrückt

[latex]
\begin{aligned}[]f(x) \leq S- \frac {1}{M}\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]x \in [a,b][/latex]. Letzteres widerspricht aber der Definition von [latex]S[/latex] als das Supremum von [latex]f([a,b])[/latex]. Daher existiert ein [latex]x_{\max } \in [a,b][/latex] mit [latex]f(x_{\max }) = \sup f([a,b]) = \max f([a,b])[/latex].

Durch Anwendung des obigen Arguments auf [latex]-f[/latex] ergibt sich ebenso, dass das Minimum von [latex]f[/latex] angenommen wird. ∎

Übung 3.73

Nimmt jede stetige Funktion [latex]f[/latex] auf dem offenen Intervall [latex](0,1)[/latex] ihr Maximum an?

3.8.3 – Gleichmässige Stetigkeit

Ein zweiter, grundlegender Satz über stetige Funktionen auf kompakten Intervallen verwendet folgende Verstärkung des Begriffs der [latex]\varepsilon[/latex]–[latex]\delta[/latex]-Stetigkeit von Definition 3.46.

Definition 3.74: Gleichmässige Stetigkeit

Eine reellwertige Funktion [latex]f[/latex] auf einer nicht-leeren Teilmenge [latex]D \subseteq \mathbb {R}[/latex] heisst gleichmässig stetig, falls es für alle [latex]\varepsilon >0[/latex] ein [latex]\delta >0[/latex] gibt, so dass für alle [latex]x,y\in D[/latex] gilt

[latex]
\begin{aligned}[]|x-y|[/latex]

In anderen Worten wollen wir genauso wie bei der Definition von Stetigkeit für jedes [latex]\varepsilon >0[/latex] ein [latex]\delta >0[/latex] finden. Diesmal soll jedoch das gewählte [latex]\delta >0[/latex] nur von [latex]\varepsilon[/latex] abhängen und nicht noch zusätzlich von [latex]x\in D[/latex]. Dies entspricht der Vertauschung eines Allquantors mit einem Existenzquantor. Wie wir in Abschnitt 1.3.2 besprochen haben, ergibt dies im Allgemeinen eine inäquivalente Aussage.

Applet 3.75: Gleichmässige Stetigkeit

Wir sehen eine gleichmässig stetige Funktion und können rechts durch getrennte Vergrösserung der Achsen (mit Shift und Maus oder mit zwei Fingern) sowohl [latex]\varepsilon >0[/latex] als auch [latex]\delta >0[/latex] verändern.

Übung 3.76

Zeigen Sie, dass das Polynom [latex]f(x) = x^2[/latex] stetig, aber nicht gleichmässig stetig ist auf [latex]\mathbb {R}[/latex]. Verifizieren Sie des Weiteren, dass die Einschränkung von [latex]f[/latex] auf [latex][0,1][/latex] gleichmässig stetig ist.

Applet 3.77: Keine gleichmässige Stetigkeit

Wir sehen zwei bekannte aber nicht gleichmässig stetige Funktionen und können rechts durch getrennte Vergrösserung der Achsen (mit Shift und Maus oder mit zwei Finger) sowohl [latex]\varepsilon >0[/latex] als auch [latex]\delta >0[/latex] verändern.

Betrachtet man aber nur stetige Funktionen auf kompakten Intervallen, wie wir es hier tun wollen, so befindet man sich in einer ganz anderen Situation.

Satz 3.78: Heine, gleichmässige Stetigkeit

Sei [latex][a,b][/latex] ein kompaktes Intervall für [latex]a

Wir verwenden im Beweis dieses Satzes nochmals dieselbe Methode wie schon in den Beweisen von dem Satz über die Existenz von Häufungspunkten (Satz 2.76), dem Zwischenwertsatz (Satz 3.59) und dem Satz über die Beschränktheit von stetigen Funktionen auf kompakten Intervallen (Satz 3.70).

Beweis

Sei [latex]\varepsilon >0[/latex]. Wir definieren die Teilmenge

[latex]
\begin{aligned}[]X = \Big \lbrace t \in [a,b]\ \Big | \ \exists \delta > 0\, \forall x_1,x_2 \in [a,t]: |x_1-x_2| [/latex]

von [latex][a,b][/latex]. In Worten ausgedrückt ist [latex]X[/latex] die Menge der Endpunkte [latex]t\in [a,b][/latex], für die ein uniformes [latex]\delta > 0[/latex] existiert für die Einschränkung [latex]f|_{[a,t]}[/latex]. Wir möchten also zeigen, dass [latex]b \in X[/latex] liegt.

Wir bemerken zuerst, dass [latex]a \in X[/latex] ist, da für [latex]x_1,x_2 \in [a,a] = \left \lbrace {a} \right \rbrace[/latex] sogar [latex]|f(x_1)-f(x_2)| = 0[/latex] gilt und somit jedes [latex]\delta > 0[/latex] gewählt werden kann. Also ist [latex]X[/latex] nicht-leer. Da [latex]X[/latex] in [latex][a,b][/latex] enthalten ist und somit beschränkt ist, existiert nach dem Satz über das Supremum (Satz 2.60) das Supremum [latex]s_0 = \sup (X)[/latex] von [latex]X[/latex]. Wir bemerken zuerst, dass [latex]t \in X[/latex] und [latex]t' \in [a,t][/latex] auch [latex]t' \in X[/latex] impliziert (das [latex]\delta[/latex] zu [latex]t[/latex] erfüllt auch die nötige Eigenschaft für [latex]t'[/latex]). Daher gelten die Inklusionen
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-proofunifcontoncomp.1} [a,s_0) \subseteq X \subseteq [a,s_0].\end{aligned}
[/latex]
Wir behaupten nun, dass [latex]s_0 = b \in X[/latex] gilt.

Nach Stetigkeit von [latex]f[/latex] bei [latex]s_0 \in [a,b][/latex] existiert ein [latex]\delta _1 >0[/latex], so dass für alle [latex]x\in [a,b][/latex] die Implikation

[latex]
\begin{aligned}[]|x-s_0| [/latex]

gilt. Für [latex]x_1,x_2 \in [a,b] \cap (s_0-\delta _1,s_0+\delta _1)[/latex] gilt damit nach der Dreiecksungleichung
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-proofunifcontoncomp.2} |f(x_1)-f(x_2)| \leq |f(x_1)-f(s_0)| + |f(s_0)-f(x_2)| [/latex]
Auf Grund von (3.11) liegt [latex]t_0 = \max \left \lbrace {a,s_0-\frac {1}{2} \delta _1} \right \rbrace[/latex] in [latex]X[/latex] und daher existiert ein [latex]\delta _0 > 0[/latex] mit
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-proofunifcontoncomp.3} \forall x_1,x_2 \in [a,t_0]: |x_1-x_2| [/latex]
Wir definieren [latex]t_1 = \min \left \lbrace {b,s_0+ \frac {1}{2} \delta _1} \right \rbrace[/latex] sowie [latex]\delta = \min \left \lbrace {\delta _0,\frac {1}{2} \delta _1} \right \rbrace[/latex] und behaupten, dass für diese Zahlen
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-proofunifcontoncomp.4} \forall x_1,x_2 \in [a,t_1]: |x_1-x_2| [/latex]
gilt.

Für den Beweis dieser Behauptung nehmen wir also Punkte [latex]x_1,x_2 \in [a,t_1][/latex] mit [latex]|x_1-x_2|

  • Angenommen [latex]|x_1-s_0| \leq \frac {1}{2}\delta _1[/latex] oder [latex]|x_2-s_0| \leq \frac {1}{2}\delta _1[/latex]. Wir gehen ohne Beschränkung der Allgemeinheit von ersterem aus. Dann gilt nach der Dreiecksungleichung
    [latex]
    \begin{aligned}[]|x_2-s_0| \leq |x_2-x_1| + |x_1-s_0| [/latex]

    und somit [latex]|f(x_1)-f(x_2)| 3.12).

  • Angenommen [latex]|x_1-s_0| > \frac {1}{2}\delta _1[/latex] und [latex]|x_2-s_0| > \frac {1}{2}\delta _1[/latex]. Da auch [latex]x_j \leq t_1 \leq s_0 + \frac {1}{2} \delta _1[/latex] für [latex]j \in \left \lbrace {1,2} \right \rbrace[/latex] gilt, folgt [latex]x_j \leq s_0 - \frac {1}{2} \delta _1 \leq t_0[/latex] für [latex]j \in \left \lbrace {1,2} \right \rbrace[/latex] und insbesondere [latex]x_1,x_2 \in [a,t_0][/latex]. Nach Gleichung (3.13) gilt also auch in diesem Fall [latex]|f(x_1)-f(x_2)|

Dies beweist die Behauptung, womit auch [latex]t_1 \in X[/latex] gilt. Da aber [latex]s_0[/latex] das Supremum von [latex]X[/latex] ist und kleiner gleich [latex]t_1 = \min \left \lbrace {b,s_0+ \frac {1}{2} \delta _1} \right \rbrace[/latex] ist, muss [latex]t_1 = s_0[/latex] sein. Dies ist per Definition von [latex]t_1[/latex] aber nur dann möglich, wenn [latex]s_0 = b[/latex] ist, womit wir [latex]b = s_0 = t_1 \in X[/latex] gezeigt haben. Das heisst, für [latex]\varepsilon > 0[/latex] existiert ein [latex]\delta > 0[/latex], welches für alle [latex]x_1,x_2 \in [a,b][/latex] die Implikation

[latex]
\begin{aligned}[]|x_1-x_2| [/latex]

erfüllt. Da [latex]\varepsilon > 0[/latex] beliebig war, beweist dies die gleichmässige Stetigkeit von [latex]f[/latex]. ∎

Übung 3.79

Gilt die Aussage von Satz 3.78 auch für stetige Funktionen auf dem offenen Intervall [latex](0,1)[/latex]?

Hinweis.

Betrachten Sie die Funktion [latex]x \in (0,1) \mapsto \frac {1}{x} \in \mathbb {R}[/latex].

Es gibt weitere, interessante Beweise von Satz 3.78. In der folgenden Übung möchten wir illustrieren, wie Satz 3.78 mit einer stetigen Wahl von [latex]\delta[/latex] zusammenhängen kann und dass eine solche Wahl (unabhängig vom Definitionsbereich in [latex]\mathbb {R}[/latex]) existiert.

Übung 3.80

Sei [latex]D \subseteq \mathbb {R}[/latex] eine Teilmenge und sei [latex]f: D \to \mathbb {R}[/latex] eine stetige Funktion. Sei [latex]\varepsilon > 0[/latex]. Nach Definition der Stetigkeit gibt es für jedes [latex]x_0 \in D[/latex] ein [latex]\delta _{x_0} >0[/latex], so dass
[latex]
\begin{aligned}[]\label{eq:FktR-stetigewahldelta} |x-x_0| [/latex]
für alle [latex]x \in D[/latex] gilt. Wir möchten nun eine Funktion [latex]\delta : D \to \mathbb {R}_{> 0}, x_0 \mapsto \delta _{x_0}[/latex] konstruieren, welche stetig ist. Für jeden Punkt [latex]x_0 \in D[/latex] definieren wir dazu

[latex]
\begin{aligned}[]\delta _{x_0} = \sup \left \lbrace {\delta ' \in (0,1]} \mid {\forall x,y \in (x_0-\delta ',x_0+\delta '): |f(x)-f(y)| [/latex]
  1. Zeigen Sie, dass die Menge rechts in obiger Gleichung nicht-leer ist und [latex]\delta _{x_0}[/latex] somit wohldefiniert ist.
  2. Zeigen Sie, dass die Abbildung [latex]x_0 \in D \mapsto \delta _{x_0} \in (0,1][/latex] stetig ist und dass für jedes [latex]x_0 \in D[/latex] die Zahl [latex]\delta _{x_0}[/latex] die Implikation (3.15) erfüllt.

Sei nun [latex]D= [a,b][/latex]. Verwenden Sie die oben konstruierte Funktion [latex]x_0 \in [a,b] \mapsto \delta _{x_0} \in (0,1][/latex] und Korollar 3.72, um Satz 3.78 zu beweisen.

Nach Satz 3.78 bildet jede stetige Funktion auf einem kompakten Intervall ein Beispiel einer gleichmässig stetigen Funktion. Weitere Beispiele (auch auf allgemeineren Teilmengen von [latex]\mathbb {R}[/latex]) kann man mittels folgendem Begriff finden.

Übung 3.81: Lipschitz-Stetigkeit

In dieser Übung möchten wir einen weiteren Stetigkeitsbegriff diskutieren.

  1. Sei [latex]D\subseteq \mathbb {R}[/latex] eine Teilmenge. Wir nennen eine reellwertige Funktion [latex]f[/latex] auf [latex]D[/latex] Lipschitz-stetig, falls ein [latex]L\geq 0[/latex] existiert mit [latex]|f(x)-f(y)|\leq L|x-y|[/latex] für alle [latex]x,y\in D[/latex]. Geben Sie ein, zwei Beispiele von Lipschitz-stetigen Funktionen und zeigen Sie, dass eine Lipschitz-stetige Funktion auch gleichmässig stetig ist.
  2. Zeigen Sie, dass die Wurzelfunktion [latex]x\in [0,2]\mapsto \sqrt {x}[/latex] zwar gleichmässig stetig, aber nicht Lipschitz-stetig ist.
  3. Zeigen Sie, dass die Wurzelfunktion [latex]x\in [1,\infty )\mapsto \sqrt {x}[/latex] Lipschitz-stetig und gleichmässig stetig ist.
  4. Folgern Sie, dass die Wurzelfunktion [latex]x\in [0,\infty )\mapsto \sqrt {x}[/latex] gleichmässig stetig ist.

3.9 – Weitere Lernmaterialien

3.9.1 – Verwendung des Kapitels

Wir werden die Notationen [latex]\sum _{k=m}^na_n[/latex] und [latex]\prod _{k=m}^na_n[/latex] und das Verhalten dieser, zum Beispiel unter Indexverschiebung, immer häufiger benötigen. Ebenso sind Polynome, die Fakultät, der Binomialsatz und die Begriffe der Monotonie und Stetigkeit für alles Weitere von fundamentaler Bedeutung, weswegen diese Begriffe und die ersten Resultate für diese Begriffe in Zukunft meist ohne Verweis auf die jeweiligen Definitionen oder Sätze verwendet werden.

Der Zwischenwertsatz (Satz 3.59) ist ein wichtiges Resultat. Vor allem aber ist er ein wichtiger Bestandteil unseres Beweises von dem Satz über den Umkehrsatz (Satz 3.65), welchen wir später für die korrekte Konstruktion vieler Funktionen verwenden werden. Insbesondere erlaubt uns letzterer die Funktionen [latex]x\in [0,\infty )\mapsto x^{\frac 1m}[/latex] für jedes [latex]m\in \mathbb {N}[/latex] und [latex]x\in (0,\infty )\mapsto x^r[/latex] für jedes [latex]r\in \mathbb {Q}[/latex] zu definieren. Wir werden diese und alle dazugehörigen Potenzregeln in Übung 3.67 in Zukunft ohne Verweis verwenden.

Die Resultate aus Abschnitt 3.8 (also der Satz über die Beschränktheit und die gleichmässige Stetigkeit) werden bereits im nächsten Kapitel Bedeutung erhalten. Wie wir später sehen werden, sind diese Resultate Spezialfälle von allgemeineren Aussage für stetige Funktionen auf sogenannten «kompakten metrischen Räumen» . Mittlerweile sollten Sie logisch geschult sein und den Unterschied (vergleiche Beispiele 1.6 und 1.7) in den Definitionen von Stetigkeit und gleichmässiger Stetigkeit klar erkennen, weswegen Sie auch den Satz über die gleichmässige Stetigkeit besonders schätzen sollten. Wir wollen noch betonen, dass diese Unterscheidung keine Spitzfindigkeit darstellt.

3.9.2 – Weitere Übungsaufgaben

Übung

Sei [latex]n \in \mathbb {N}[/latex] und seien [latex]v_1,\ldots ,v_n[/latex] Elemente eines komplexen Vektorraums [latex]V[/latex]. Finden Sie einen vereinfachten Ausdruck für die Doppelsumme

[latex]
\begin{aligned}[]\sum _{j=1}^n \sum _{k=j+1}^n (v_j-v_k).\end{aligned}
[/latex]

Übung: Formale Definition des Polynomrings

Das Ziel dieser Aufgabe ist, den Ring der Polynome über einem beliebigen Körper formal zu definieren. Im Folgenden ist [latex]\mathbb {K}[/latex] ein beliebiger Körper und [latex]\mathbb {K}[X][/latex] bezeichnet die Teilmenge der schliesslich verschwindenden Funktionen in [latex]\mathbb {N}_{0} \to \mathbb {K}[/latex], das heisst,

[latex]
\begin{aligned}[]\mathbb {K}[X]=\left \lbrace {f:\mathbb {N}_{0} \to \mathbb {K}} \mid {\exists N\in \mathbb {N}_{0}\ \forall n\in \mathbb {N}_{0}: n\geq N\implies f(n)=0}\right \rbrace .\end{aligned}
[/latex]

Des Weiteren definieren wir Operationen [latex]+[/latex] und [latex]\cdot[/latex] auf [latex]\mathbb {K}[X][/latex] durch

[latex]
\begin{aligned}[](f+g)(n) &= f(n)+g(n) \\ (f\cdot g)(n)&=\sum _{k=0}^{n}f(k)g(n-k).\end{aligned}
[/latex]

für alle [latex]n \in \mathbb {N}_0[/latex] und [latex]f,g \in \mathbb {K}[X][/latex].

  1. Zeigen Sie, dass [latex]\mathbb {K}[X][/latex] mit den oben definierten Operationen einen kommutativen Ring bildet.
  2. Wir fassen [latex]\mathbb {K}[/latex] als eine Teilmenge von [latex]\mathbb {K}[X][/latex] auf, indem wir [latex]a \in \mathbb {K}[/latex] mit der Funktion [latex]n \in \mathbb {N}_0 \mapsto a \mathds {1}_{\left \lbrace {0} \right \rbrace }(n)[/latex] identifizieren. Zeigen Sie, dass [latex]0 \in \mathbb {K}[/latex] eine Null und [latex]1 \in \mathbb {K}[/latex] eine Eins des Ringes [latex]\mathbb {K}[X][/latex] ist.
  3. Für alle [latex]k \in \mathbb {N}_0[/latex] sei [latex]X^{k}\in \mathbb {K}[X][/latex] die Abbildung gegeben durch
    [latex]
    \begin{aligned}[]X^{k}(n)= \begin{cases}1 & \text {falls }n=k\\ 0 & \text {sonst}\end{cases}\end{aligned}
    [/latex]

    für alle [latex]n \in \mathbb {N}_0[/latex]. Zeigen Sie, dass sich jedes Element [latex]f \in \mathbb {K}[X][/latex] als eindeutig bestimmten Ausdruck der Form

    [latex]
    \begin{aligned}[]f = \sum _{n=0}^N a_n X^n\end{aligned}
    [/latex]

    für ein [latex]N \in \mathbb {N}[/latex] und Zahlen [latex]a_0,\ldots ,a_n \in \mathbb {K}[/latex] mit [latex]a_N \neq 0[/latex] schreiben lässt.

  4. Vergleichen Sie die obigen Definitionen zur Definition des Polynomrings in Definition 3.13.

Übung: Ein Körper mit neun Elementen

Wir möchten in dieser Übung einen Körper mit neun Elementen konstruieren und folgen dabei der Bemerkung am Ende von Abschnitt 3.2.2.

  1. Zeigen Sie, dass das Polynom [latex]f(x) = x^2+x+2[/latex] über dem Körper [latex]\mathbb {F}_3[/latex] keine Nullstelle besitzt.

Wir betrachten nun den Polynomring [latex]\mathbb {F}_3[x][/latex] und die Relation [latex]g_1 \sim g_2 \iff f \text { teilt } (g_1-g_2)[/latex].

  1. Zeigen Sie, dass [latex]\sim[/latex] eine Äquivalenzrelation ist. Sei [latex]\mathbb {K} = \mathchoice {\text {\raise 0.4ex\hbox {${\mathbb {F}_3[x]}$}\big /\lower 0.4ex\hbox {${\sim }$}}} {{\mathbb {F}_3[x]}/\text {\hspace {-0.3ex}\vspace {-0.5ex}${\sim }$} } {{\mathbb {F}_3[x]}\, /{\sim } } {{\mathbb {F}_3[x]}\, /{\sim } }[/latex] der dazugehörige Quotientenraum.
  2. Zeigen Sie, dass die Operationen
    [latex]
    \begin{aligned}[][g_1]_\sim + [g_2]_\sim = [g_1+g_2]_\sim \\ [g_1]_\sim \cdot [g_2]_\sim = [g_1\cdot g_2]_\sim\end{aligned}
    [/latex]

    wohldefiniert sind und aus [latex]\mathbb {K}[/latex] einen Körper mit neun Elementen machen.

Übung: Zwei Identitäten für Binomialkoeffizienten

Seien [latex]k,n\in \mathbb {N}_0[/latex] mit [latex]1 \leq k \leq n[/latex]. Zeigen Sie die Identitäten

[latex]
\begin{aligned}[]\binom {n}{k} = \frac {n+1-k}{k}\binom {n}{k-1},\quad \binom {n-1}{k}-\binom {n-1}{k-1} = \frac {n-2k}{n} \binom {n}{k}.\end{aligned}
[/latex]

Übung: [latex]\mathbb {R}[/latex]-wertige Funktionen auf einer Zweipunktmenge

Sei [latex]D[/latex] eine Menge bestehend aus [latex]2[/latex] Elementen. Zeigen Sie, dass es einen Isomorphismus von Vektorräumen [latex]F(D)\cong \mathbb {R}^2[/latex] gibt. Induzieren Sie durch diese Bijektion eine Ordnung auf [latex]\mathbb {R}^2[/latex] und beschreiben Sie diese (beispielsweise duch Beschreibung welche Elemente grösser als [latex](0,0)[/latex] und welche kleiner als [latex](0,0)[/latex] sind).

Übung: Dimension von [latex]F(D)[/latex]

Sei [latex]D[/latex] eine nicht-leere Menge. Zeigen Sie, dass [latex]F(D)[/latex] genau dann endlich-dimensional ist, wenn [latex]D[/latex] endlich ist und dass in diesem Fall die Dimension gerade [latex]|D|[/latex] ist.

Hinweis.

Betrachten Sie für jedes [latex]x\in D[/latex] die Funktion

[latex]
\begin{aligned}[]f_x: D \to \mathbb {R},\ y \mapsto \left \lbrace \begin{array}{cl} 1 & \text {falls } y = x \\ 0 & \text {sonst}\end{array} \right .\end{aligned}
[/latex]

und zeigen Sie, dass [latex]\left \lbrace {f_x} \mid {x\in D}\right \rbrace[/latex] eine linear unabhängige Teilmenge von [latex]F(D)[/latex] ist. Falls [latex]|D|

Übung: Das Multinomialtheorem

In dieser Übung möchten wir in Analogie zum binomischen Lehrsatz (Satz 3.28) Ausdrücke der Form [latex](z_1+\ldots +z_d)^n[/latex] für komplexe Zahlen [latex]z_1,\ldots ,z_d[/latex] und [latex]n\in \mathbb {N}_0[/latex] untersuchen. Wir betrachten dazu sogenannte Multiindizes [latex]\boldsymbol {\alpha } \in \mathbb {N}_0^d[/latex]. Ist [latex]\boldsymbol {\alpha } = (\alpha _1,\ldots ,\alpha _d) \in \mathbb {N}_0^d[/latex] ein Multiindex, [latex]n = \sum _{k=1}^d\alpha _k[/latex] und [latex]\boldsymbol {z} = (z_1,\ldots ,z_d) \in \mathbb {C}^d[/latex], so definieren wir

[latex]
\begin{aligned}[]\binom {n}{\boldsymbol {\alpha }} = \frac {n!}{(\alpha _1!) \ldots (\alpha _n!)}\end{aligned}
[/latex]

sowie

[latex]
\begin{aligned}[]\boldsymbol {z}^{\boldsymbol {\alpha }} = z_1^{\alpha _1} \ldots z_d^{\alpha _d}.\end{aligned}
[/latex]

Zeigen Sie für alle [latex]\boldsymbol {z} = (z_1,\ldots ,z_d) \in \mathbb {C}^d[/latex] und [latex]n\in \mathbb {N}_0[/latex] das Multinomialgesetz

[latex]
\begin{aligned}[](z_1 + \ldots + z_d)^n = \sum _{\boldsymbol {\alpha } \in \mathbb {N}_0^d:\, \alpha _1 + \ldots + \alpha _d = n} \binom {n}{\boldsymbol {\alpha }}\boldsymbol {z}^{\boldsymbol {\alpha }}.\end{aligned}
[/latex]

Hinweis.

Verwenden Sie Induktion nach [latex]n[/latex] und gehen Sie dabei genauso vor wie im Beweis von Satz 3.28.

Übung: Eigenschaften komplexwertiger Funktionen

Sei [latex]D \subseteq \mathbb {C}[/latex] eine nicht-leere Teilmenge.

  1. Definieren Sie den Begriff der Stetigkeit (in einem Punkt in [latex]D[/latex]) für Funktionen [latex]D \to \mathbb {C}[/latex].
  2. Zeigen Sie, dass eine Funktion [latex]f:D \to \mathbb {C}[/latex] genau dann in [latex]x_0 \in D[/latex] stetig ist, wenn die Funktionen [latex]\operatorname {Re}(f): D \to \mathbb {R},\ x \mapsto \operatorname {Re}(f(x))[/latex] und [latex]\operatorname {Im}(f): D \to \mathbb {R},\ x \mapsto \operatorname {Im}(f(x))[/latex] in [latex]x_0[/latex] stetig sind.
  3. Formulieren Sie das Analogon von Proposition 3.51 für komplexwertige Funktionen und beweisen Sie es (zum Beispiel unter Verwendung von (ii) oder direkt).
  4. Formulieren und beweisen Sie Proposition 3.53 für komplexwertige Funktionen.

Übung: Formalisierung der Nicht-Stetigkeit

Sei [latex]I \subseteq \mathbb {R}[/latex] ein Intervall und [latex]f: I \to \mathbb {R}[/latex] eine Funktion. Drücken Sie die Aussagen «[latex]f[/latex] ist nicht stetig» und «[latex]f[/latex] ist nicht stetig bei einem Punkt [latex]x_0 \in I[/latex]» in Prädikatenlogik aus. Zeigen Sie damit, dass die Funktion

[latex]
\begin{aligned}[]\mathbb {R} \to \mathbb {R},\ x \mapsto \left \lbrace \begin{array}{ll} x+1 &\text {falls } x \geq 0 \\ x &\text {falls } x [/latex]

aus dem Teilabschnitt 3.4.2 nicht stetig ist.

Übung: Dirichlet-Funktion

Zeigen Sie, dass die charakteristische Funktion

[latex]
\begin{aligned}[]\mathds {1}_{\mathbb {Q} \cap [0,1]}: [0,1] \to [0,1],\ x \mapsto \left \lbrace \begin{array}{cc} 1 & \text {falls }x \in \mathbb {Q} \\ 0 & \text {falls }x \not \in \mathbb {Q}\end{array} \right .\end{aligned}
[/latex]

an keinem Punkt in [latex][0,1][/latex] stetig ist.

Übung: Lineare Abschätzung bei [latex]x_0[/latex]

Sei [latex]I \subseteq \mathbb {R}[/latex] ein Intervall und [latex]f:I \to \mathbb {R}[/latex] eine Funktion. Angenommen es existiert zu [latex]x_0 \in I[/latex] eine Konstante [latex]L_{x_0} \geq 0[/latex], so dass für alle [latex]x\in I[/latex] gilt [latex]|f(x)-f(x_0)| \leq L_{x_0} |x-x_0|[/latex]. Zeigen Sie, dass [latex]f[/latex] stetig bei [latex]x_0[/latex] ist.

Übung

Sei [latex]D \subseteq \mathbb {R}[/latex] eine Teilmenge und seien [latex]f_1,f_2 \in C(D)[/latex]. Zeigen Sie, dass dann auch die Funktionen

[latex]
\begin{aligned}[]\max (f_1,f_2): D &\to \mathbb {R},\ x \mapsto \max (f_1(x),f_2(x)) \\ \min (f_1,f_2): D &\to \mathbb {R},\ x \mapsto \min (f_1(x),f_2(x))\end{aligned}
[/latex]

stetig sind.

Übung: Kompakter Träger

Wir sagen, dass eine Funktion [latex]f: \mathbb {R} \to \mathbb {R}[/latex] einen kompakten Träger hat, falls ein [latex]M > 0[/latex] existiert mit [latex]f(x) = 0[/latex] für alle [latex]x \in \mathbb {R}[/latex] mit [latex]|x|> M[/latex]. Sei nun [latex]f:\mathbb {R}\to \mathbb {R}[/latex] eine stetige Funktion mit kompaktem Träger. Zeigen Sie, dass [latex]f[/latex] gleichmässig stetig und beschränkt ist.

Übung: Offene und abgeschlossene Intervalle

In dieser Übung möchten wir zeigen, dass sich das offene [latex](0,1)[/latex] Intervall vom abgeschlossenen [latex][0,1][/latex] Intervall zwar von der Kardinalität her nicht unterscheiden, aber von der Ordnung her sehr wohl.

  1. Finden Sie eine Bijektion [latex]f:[0,1] \to (0,1)[/latex].
  2. Zeigen Sie, dass keine stetige, bijektive Abbildung [latex][0,1] \to (0,1)[/latex] existieren kann.

Hinweis.

Entfernen Sie für (ii) einen Punkt aus [latex](0,1)[/latex].

Übung

Zeigen Sie, dass die Abbildung [latex]x\in \mathbb {R} \mapsto x^7+x^5+x^3+x\in \mathbb {R}[/latex] bijektiv ist (ohne zu versuchen, eine Formel für die inverse Abbildung anzugeben).

Übung

Beweisen Sie Satz 3.70 und Korollar 3.72 mit Hilfe des Intervallschachtelungsprinzips in Satz 2.78.

3.9.3 – Lernkarten

Sie können wiederum die Lernkarten oder den Graphen für Ihre Wiederholung der Themen des Kapitels verwenden.

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  1. Da [latex]z\in \mathbb {C}\mapsto z^0[/latex] die konstante Funktion mit Wert [latex]1[/latex] darstellt, wäre es sehr eigenartig (und im nächsten Abschnitt bei der Diskussion von Polynomen extrem störend), wenn wir diese Funktion für [latex]z=0[/latex] undefiniert lassen oder mit einem anderen Wert versehen. Trotzdem ist der Ausdruck [latex]0^0[/latex] undefiniert, wenn dieser losgelöst von der Diskussion der Potenzfunktion [latex]z\in \mathbb {C}\mapsto z^n[/latex] für [latex]n=0[/latex] auftritt.
  2. H. Schichl and Steinbauer, R.: Einführung in das mathematische Arbeiten (Springer Spektrum, 2012)
  3. H. Amann and Escher, J.: Analysis I (Birkhäuser Basel, 2006)
  4. Noch formaler ist für jedes [latex]n\in \mathbb {N}_0[/latex] ein Polynom [latex]f(T)=\sum _{k=0}^na_kT^k\in \mathbb {K}[T][/latex] mit der endlichen Liste von Koeffizienten [latex](a_0,\ldots ,a_n)\in \mathbb {K}^{n+1}[/latex] zu identifizieren, wobei des Weiteren die Identifikation [latex](a_0,\ldots ,a_n)=(a_0,\ldots ,a_n,0)[/latex] verwendet wird -- siehe die formale Konstruktion in einer Übung im Abschnitt 3.9. Die Schreibweise als Summe ist hübscher und bei weitem natürlicher für die Definition der Multiplikation in [latex]\mathbb {K}[T][/latex].
  5. J. L. Coolidge: The story of the binomial theorem (The American Mathematical Monthly, 1949)
  6. Das Wort "stetig" und daraus abgeleitete Wörter kommen in der vollständigen Version von diesem Skript über 850 mal vor, was die Wichtigkeit des Begriffs gewissermassen quantifiziert.
  7. Es gibt noch weitere 3 Fälle von beschränkten und weitere 5 Fälle von unbeschränkten Intervallen.

License

Analysis-Skript CHAB MATH PHYS: 18/19 Copyright © by Manfred Einsiedler and Andreas Wieser. All Rights Reserved.

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