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8 Die Ableitung und das Riemann-Integral

In diesem Kapitel wollen wir die zwei wichtigen Themen «Riemann-Integral» aus Kapitel 4 und «Ableitung» aus Kapitel 7 verknüpfen. Wie wir sehen werden, ist dieser Zusammenhang für Anwendungen und für die weitere Theorie von fundamentaler Bedeutung.

8.1 – Der Fundamentalsatz der Integral- und Differentialrechnung

Definition 8.1

Sei [a,b][a,b] ein kompaktes Intervall in RR und sei fR([a,b])fR([a,b]) eine auf [a,b][a,b] Riemann-integrierbare Funktion. Die Funktion

x[a,b]xaf(t)dtx[a,b]xaf(t)dt

nennt sich das Integral mit veränderlichen oberen Grenze oder das partikuläre Integral von ff.

Man beachte, dass für fR([a,b])fR([a,b]) und x[a,b]x[a,b] das Integral xaf(t)dtxaf(t)dt wohldefiniert ist (siehe Satz 4.26 über die Intervalladditivität des Riemann-Integrals). Wir erinnern daran, dass wir in Übung 4.28 bereits die Stetigkeit des partikulären Integrals gezeigt haben. Mit etwas stärkeren Annahmen ergibt sich nun folgender Satz von fundamentaler Bedeutung.

Theorem 8.2: Ableitung des Integrals

Sei [a,b][a,b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]a

Beweis

Sei ε>0ε>0. Dann existiert ein δ>0δ>0 mit

\begin{aligned}[]|f(x)-f(x_0)|\begin{aligned}[]|f(x)-f(x_0)|

für alle x(x0δ,x0+δ)[a,b]x(x0δ,x0+δ)[a,b]. Wir verwenden dies nun in Kombination mit der Dreiecks-Ungleichung für das Riemann-Integral (Satz 4.24) und der Intervalladditivität des Riemann-Integrals (Satz 4.26), um die Aussage zu zeigen. Für x(x0,x0+δ)[a,b]{x0}x(x0,x0+δ)[a,b]{x0} gilt

|F(x)F(x0)xx0f(x0)|=|1xx0(xaf(t)dtx0af(t)dt)f(x0)|=|1xx0xx0f(t)dtf(x0)|=|1xx0xx0f(t)dt1xx0xx0f(x0)dt|=|1xx0xx0(f(t)f(x0))dt|1xx0xx0|f(t)f(x0)|dt1xx0xx0εdt = ε.F(x)F(x0)xx0f(x0)=1xx0(xaf(t)dtx0af(t)dt)f(x0)=1xx0xx0f(t)dtf(x0)=1xx0xx0f(t)dt1xx0xx0f(x0)dt=1xx0xx0(f(t)f(x0))dt1xx0xx0|f(t)f(x0)|dt1xx0xx0εdt = ε.

Analog gilt für x(x0δ,x0)[a,b]{x0}x(x0δ,x0)[a,b]{x0}, dass

|F(x)F(x0)xx0f(x0)|=|F(x0)F(x)x0xf(x0)|=|1x0xx0x(f(t)f(x0))dt|1x0xx0x|f(t)f(x0)|dtε.F(x)F(x0)xx0f(x0)=F(x0)F(x)x0xf(x0)=1x0xx0x(f(t)f(x0))dt1x0xx0x|f(t)f(x0)|dtε.

Da ε>0ε>0 beliebig war, beweist dies limxx0F(x)F(x0)xx0=f(x0)limxx0F(x)F(x0)xx0=f(x0) und damit den Satz. ∎

image

Abbildung 8.1 – Illustration zum Beweis von Theorem 8.2. Der Wert F(x)F(x0)F(x)F(x0) lässt sich schreiben als f(x0)(xx0)f(x0)(xx0) plus die Fläche in Rot, die kleiner ist als ε(xx0)ε(xx0). Somit ist F(x)F(x0)xx0F(x)F(x0)xx0, bis auf einen Fehler kleiner als εε, durch f(x0)f(x0) gegeben.

Korollar 8.3: Ableitung des Integrals

Sei [a,b][a,b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]a F(x)=xaf(t)dt+CF(x)=xaf(t)dt+C
für alle x[a,b]x[a,b] und eine Konstante CRCR.

Beweis

Nach Satz 4.42 ist ff Riemann-integrierbar. Nach Theorem 8.2 ist

x[a,b]xaf(t)dtx[a,b]xaf(t)dt

differenzierbar und eine Stammfunktion von ff. Nach Lemma 7.59 unterscheidet sich jede weitere Stammfunktion nur um eine Konstante von dieser, was die Formel im Korollar beweist. ∎

Korollar 8.4: Berechnung des Integrals

Sei [a,b][a,b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]a

baf(t)dt=F(b)F(a).baf(t)dt=F(b)F(a).

Wir werden auch öfter die Abkürzung [F(x)]ba=[F(x)]x=bx=a=F(b)F(a)[F(x)]ba=[F(x)]x=bx=a=F(b)F(a) verwenden.

Beweis

Nach Korollar 8.3 gilt (8.1). Setzen wir x=ax=a erhalten wir für die Konstante C=F(a)C=F(a) und das Korollar folgt nun indem wir x=bx=b in (8.1) einsetzen. ∎

Korollar 8.5: Integral der Ableitung

Sei [a,b][a,b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]a

F(x)=F(a)+xaF(t)dtF(x)=F(a)+xaF(t)dt

für alle x[a,b]x[a,b].

Insbesondere kann der Wert von FF an jeder Stelle xx vollständig durch den Wert von FF bei der Stelle aa und die Werte der Funktion FF beschrieben werden.

Beweis

Die Funktion F0:x[a,b]xaF(t)dtF0:x[a,b]xaF(t)dt ist nach Korollar 8.3 ebenso wie FF eine Stammfunktion. Sei CRCR mit F(x)=F0(x)+CF(x)=F0(x)+C für alle x[a,b]x[a,b] nach Korollar 8.3. Setzen wir x=ax=a ein, so erhalten wir

F(a)=F0(a)+C=aaF(t)dt+C=C.F(a)=F0(a)+C=aaF(t)dt+C=C.

Somit ist

F(x)=F(a)+F0(x)=F(a)+xaF(t)dtF(x)=F(a)+F0(x)=F(a)+xaF(t)dt

für alle x[a,b]x[a,b], wie zu zeigen war. ∎

Die obigen Resultate sind auch als der Fundamentalsatz der Integral- und Differentialrechnung bekannt und gehen auf die Arbeiten von Leibniz, Newton und Barrow zurück, die weitgehend die Ausgangspunkte der Analysis darstellen. Zur Vereinfachung der Diskussion haben wir Stetigkeit von ff beziehungsweise FF angenommen. Diese Annahme lässt sich auf verschiedene Arten abschwächen.

Übung 8.6: Theorem 8.2 für «fast überall» stetige Funktionen

Sei [a,b][a,b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]a

Wichtige Übung 8.7: Fundamentalsatz für komplexe Funktionen

In obigem Satz und dessen Korollaren haben wir für die Aussagen eigentlich nicht wirklich verwendet, dass die betrachteten Funktionen reellwertig sind. Zeigen Sie deswegen, dass alle obigen Resultate für komplexwertige Funktionen zutreffen.

Hinweis.

Sie brauchen nicht nochmals die Beweise durchzuführen. Für eine Riemann-integrierbare Funktion g:[a,b]Cg:[a,b]C lässt sich das Riemann-Integral von gg in das Integral über den Realteil und das Integral über den Imaginärteil von gg zerlegen.

Zusammenfassend wollen wir noch betonen, dass auf Grund obiger Resultate die Berechnung von Riemann-Integralen und damit insbesondere von Flächeninhalten, Schwerpunkkoordinaten, Arbeitsberechnungen, Bogenlängen und Volumen von Rotationskörpern (siehe Abschnitt 8.3) auf die Berechnung von Stammfunktionen zurückgeführt werden kann.

Übung 8.8: Mittelwertsatz der Integralrechnung

Sei [a,b][a,b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]a

baf(x)dx=f(ξ)(ba).baf(x)dx=f(ξ)(ba).

Können Sie zwei verschiedene Beweise finden?

Hinweis.

Verwenden Sie entweder den Zwischenwertsatz für stetige Funktionen oder den Mittelwertsatz der Differentialrechnung.

Übung 8.9: Riemann-integrierbare Ableitung

Wir möchten hier eine etwas stärkere Version von Korollar 8.5 thematisieren. Sei [a,b][a,b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]a

Hinweis.

Betrachten Sie eine Zerlegung [latex]\mathfrak {Z} = \left \lbrace {a=x_0

Applet 8.10: Fundamentalsatz

Wir sehen hier nochmals die Idee des Beweises des Fundamentalsatzes der Integral- und Differentialrechnung (Theorem 8.2), wobei unten das partikuläre Integral der Funktion im oberen Fenster dargestellt wird.

8.1.1 – Differentiation von Potenzreihen

Wir wenden nun den Fundamentalsatz an, um zu zeigen, dass sich Potenzreihen nicht nur integrieren (siehe Satz 6.85), sondern auch differenzieren lassen.

Korollar 8.11: Differentiation von Potenzreihen

Sei f(x)=n=0cnxnf(x)=n=0cnxn eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R>0R>0. Dann ist f:(R,R)Rf:(R,R)R differenzierbar und es gilt

f(x)=n=1ncnxn1f(x)=n=1ncnxn1

für alle x(R,R)x(R,R), wobei die Potenzreihe rechts ebenfalls Konvergenzradius RR hat.

Beweis

Sei g(x)g(x) die Potenzreihe n=1ncnxn1=k=0(k+1)ck+1xkn=1ncnxn1=k=0(k+1)ck+1xk und sei SS der zugehörige Konvergenzradius. Nach Satz 6.56 ist gg auf (S,S)(S,S) stetig und nach Satz 6.85 darf g(x)g(x) gliedweise integriert werden. Genauer gesagt besagt Satz 6.85, dass G:(S,S)RG:(S,S)R gegeben durch

G(x)=x0g(t)dt=k=0(k+1)ck+1k+1xk+1=k=0ck+1xk+1G(x)=x0g(t)dt=k=0(k+1)ck+1k+1xk+1=k=0ck+1xk+1

wieder eine Potenzreihe mit Konvergenzradius SS darstellt. Nach Korollar 8.3 gilt weiters, dass GG eine Stammfunktion von g=Gg=G darstellt. Da dies aber abgesehen vom ersten Glied der Reihe genau die Potenzreihe ff ist, stimmen die Konvergenzradien R=SR=S überein, ff ist differenzierbar und f(x)=G(x)=g(x)=n=1ncnxn1f(x)=G(x)=g(x)=n=1ncnxn1 für alle x(R,R)x(R,R). ∎

Korollar 8.11 lässt sich leicht anpassen, um zu zeigen, dass durch Potenzreihen gegebene Funktionen glatt sind.

Übung 8.12: Verallgemeinerung von Korollar 8.11

Sei f(x)=n=0cnxnf(x)=n=0cnxn eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R>0R>0. Zeigen Sie, dass f:(R,R)Rf:(R,R)R glatt ist und finden Sie eine Darstellung von f(n)f(n) durch eine Potenzreihe für jedes nNnN.

Übung 8.13: Koeffizientenvergleich für Potenzreihen

Seien f(x)=n=0cnxnf(x)=n=0cnxn und g(x)=n=0dnxng(x)=n=0dnxn Potenzreihen mit reellen Koeffizienten und positiven Konvergenzradien Rf,RgRf,Rg. Sei R=min{Rf,Rg}R=min{Rf,Rg} und angenommen f(x)=g(x)f(x)=g(x) für alle x(R,R)x(R,R). Zeigen Sie, dass dann cn=dncn=dn für alle nN0nN0 und damit Rf=RgRf=Rg gilt.

Hinweis.

Verwenden Sie Korollar 8.11 und Übung 8.12.

Übung 8.14: Potenzreihenentwicklung für Wurzeln

Sei αCαC. Wir wollen hier zeigen, dass

(1+x)α=n=0(αn)xn(1+x)α=n=0(αn)xn

für alle x(1,1)x(1,1), wobei die verallgemeinerten Binomialkoeffizienten für nN0nN0 durch

(αn)=n1j=0(αj)n!=α(α1)(αn+1)n!(αn)=n1j=0(αj)n!=α(α1)(αn+1)n!

definiert sind.

  1. Zeigen Sie, dass für αN0αN0 die Potenzreihe
    g(x)=n=0(αn)xng(x)=n=0(αn)xn

    Konvergenzradius 11 hat.

  2. Berechnen Sie die Ableitung von gg und zeigen Sie, dass f(x)=(1+x)αf(x)=(1+x)α und g(x)g(x) die Differentialgleichung
    y=αy1+xy=αy1+x

    erfüllen.

  3. Berechnen Sie die Ableitung von g(x)f(x)g(x)f(x) und schliessen Sie die Behauptung.

Hinweis.

Für (b) müssen Sie die Gleichung

(n+1)(αn+1)+n(αn)=α(αn)(n+1)(αn+1)+n(αn)=α(αn)

zeigen (was mit der richtigen Interpretation des Produkts n1j=0(αj)n1j=0(αj) auch für n=0n=0 gilt).

8.1.2 – Die alternierende harmonische Reihe

Wir haben bereits in Beispiel 6.20 gesehen, dass die alternierende harmonische Reihe n=1(1)n+1nn=1(1)n+1n konvergiert, was auch aus dem Leibniz-Kriterium (Proposition 6.25) folgt. Mit den Resultaten von Kapitel 6 konnten wir den Wert der Reihe aber nicht bestimmen. Nun können wir mit Hilfe des Fundamentalsatzes der Integral- und Differentialrechnung die Identität

n=1(1)n+1n=log(2)n=1(1)n+1n=log(2)

beweisen.

Es ist in diesem Fall (vielleicht überraschenderweise) einfacher, eine allgemeinere Aussage zu zeigen. Wir beginnen hierfür mit

(log(1+x))=11+x=11(x)=n=0(1)nxn(log(1+x))=11+x=11(x)=n=0(1)nxn

für alle x(1,1), wobei die Reihe rechts Konvergenzradius 1 hat (und an den Endpunkten divergiert). Nach Korollar 8.5 und Satz 6.85 folgt daraus, dass

log(1+x)=log(1)+x011+tdt=n=0(1)nn+1xn+1=k=1(1)k+1kxk

für alle x(1,1). Da die Potenzreihe rechts auch für x=1 konvergiert, ist die Funktion

f:x(1,1]k=1(1)k+1kxk

nach dem Abelschen Grenzwertsatz (Satz 6.65) auch bei x=1 stetig. Da die Funktion mit Definitionsbereich (1,1] definiert durch log(1+x) für x(1,1] ebenfalls stetig ist und für x(1,1) mit f(x) übereinstimmt, ist

log(2)=limx1log(1+x)=limx1f(x)=n=1(1)n+1n.

8.1.3 – Die Leibniz-Reihe

Wir verwenden obige Methode nochmals, um
n=0(1)n2n+1=π4
zu beweisen.

Nach dem Leibniz-Kriterium (Satz 6.25) ist die Reihe n=0(1)n2n+1 konvergent. Wir beginnen die Berechnung ihres Wertes mit

arctan(x)=11+x2=n=0(1)nx2n.

für x(1,1). Nach Korollar 8.5 gilt

arctan(x)=arctan(0)+x011+t2dt=n=0(1)n2n+1x2n+1

Stetigkeit des Arkustangens bei x=1, der Abelsche Grenzwertsatz (Satz 6.65) und die Identität arctan(1)=π4 beweisen nun (8.2).

8.2 – Integrationsmethoden

Wir erinnern daran, dass das unbestimmte Integral einer Funktion f in der Variablen x der Ausdruck

f(x)dx=F(x)+C

ist, wobei F eine Stammfunktion von f ist. In den Abschnitten 7.5.2 und 7.4 haben wir bereits einige Regeln zur Berechnung konkreter unbestimmter Integrale kennengelernt: Für sR (oder sogar sC) ist

xsdx={1s+1xs+1+Cfalls s1log|x|+Cfalls s=1

und

exp(x)dx=exp(x)+Ccos(x)dx=sin(x)+Csin(x)dx=cos(x)+Csinh(x)dx=cosh(x)+Ccosh(x)dx=sinh(x)+C11x2dx=arcsin(x)+C11+x2dx=arctan(x)+C11+x2dx=arsinh(x)+C1x21dx=arcosh(x)+C.

Des Weiteren gilt für Funktionen f1,f2 in der Variable x und Zahlen α1,α2R

α1f1(x)+α2f2(x)dx=α1f1(x)dx+α2f2(x)dx.

Denn falls F1 eine Stammfunktion von f1 ist und F2 eine Stammfunktion von f2 ist, so muss die Funktion α1F1+α2F2 auf Grund der Linearität der Ableitung (Proposition 7.5) eine Stammfunktion von α1f1+α2f2 sein.

Auf ähnliche Weise lassen sich die anderen Regeln der Differentiation als Identitäten für unbestimmte Integrale auffassen, wie wir nun ausführen wollen.

8.2.1 – Partielle Integration

Die Produktregel in Proposition 7.5

(uv)=uv+uv

für zwei differenzierbare Funktionen u,v führt ebenso zu einer Integrationsregel, nämlich der partiellen Integration
uv+C=(uv+uv)dxuvdx=uvuvdx+C.
In der Leibniz-Notation ist v=dvdx und u=dudx. Deswegen schreibt man die partielle Integration oft auch als

udv=uvvdu+C,

was formal bloss als Kurzform der Formel in (8.3) verstanden werden sollte. Die Regel der partiellen Integration ist bereits ein Beispiel, wo eine einfache Regel des Differenzierens eine komplexere Regel des Integrierens als Entsprechung hat. Die Produktregel erlaubt uns, die Ableitung jedes Produkts mittels der Ableitung dessen Faktoren auszudrücken. Die partielle Integration hingegen erlaubt uns, das unbestimmte Integral eines Produkts mittels dem Integral eines Faktors und eines weiteren Integrals auszudrücken. Mit etwas Glück (und Geschick) ist das zweite Integral einfacher und kann anschliessend berechnet werden. Wir demonstrieren dies anhand zweier Beispiele.

Beispiel 8.15: Beispiele partieller Integration

  1. Wir berechnen das unbestimmte Integral xexp(x)dx. Dafür setzen wir u(x)=x und v(x)=exp(x). Eine Stammfunktion von v ist v(x)=exp(x). Damit erhalten wir
    xexp(x)dx=xexp(x)1exp(x)dx+C=xexp(x)exp(x)+C.

    Wir bemerken, dass es genügt, in solchen Berechnungen immer bloss eine unbekannte Integrationskonstante C zu verwenden, da mehrere solche einfach zusammengefasst werden können. (Kontrollieren Sie diese Rechnung durch Ableiten.) Dieselbe Berechnungsmethode führt auch für unbestimmte Integrale der Form xnexp(x)dx, xnsin(x)dx und xncos(x)dx für nN zum Erfolg.

  2. Wir wollen das unbestimmte Integral log(x)dx berechnen. Es mag zuerst etwas überra­schend sein, dass wir dazu partielle Integration verwenden wollen. Sei u(x)=log(x) und v=1. Dann ist v(x)=x eine Stammfunktion von v, womit
    log(x)dx=log(x)1dx=log(x)x1xxdx+C=xlog(x)1dx+C=xlog(x)x+C.

    Dies kann man wiederum durch Ableiten verifizieren (was nicht notwendig ist, aber einen sehr einfachen Test darstellt).

Übung 8.16

  1. Berechnen Sie x2sin(x)dx.
  2. Geben Sie eine rekursive Formel zur Berechnung von xnexp(x)dx, xnsin(x)dx und xncos(x)dx für nN an.
  3. Berechnen Sie xslog(x)dx für jedes sR. Beachten Sie hierbei, dass der Fall s=1 getrennt zu behandeln ist.
  4. Berechnen Sie das unbestimmte Integral eaxsin(bx)dx für a,bR{0}.

    Hinweis.

    Bei (iv) ergibt sich nach zweifacher partieller Integration ein Gleichungssystem.

8.2.2 – Substitution

Falls eine Funktion g auf einem Intervall Iu das unbestimmte Integral g(u)du=G(u)+C besitzt und f:IxIu eine stetig differenzierbare Abbildung auf dem Intervall Ix ist, dann gilt

(gf)(x)f(x)dx=(Gf)(x)+C

auf Ix. Dies folgt unmittelbar aus der Kettenregel in Satz 7.8 und wird oft auch geschrieben als
(gf)(x)f(x)dx=g(u)du
für die «neue Variable» u=f(x). Alternativ werden wir die obige Substitutionsregel gemeinsam mit der Leibniz-Notation auch in folgender informellen Schreibweise

(gf)(x)f(x)dx=(gf)(x)dudxdx=g(u)du=G(u)+C=G(f(x))+C,

verwenden, wobei u=f(x) und du=f(x)dx.

Beispiel 8.17

  1. Es gilt
    x1+x2dx=11+x2=1uxdx=12du=121udu=12log|u|=12log(1+x2)+C,

    wobei u=1+x2 gesetzt wurde, womit du=2xdx.

  2. Es gilt
    1sin(x)dx=12sin(x2)cos(x2)dx=1tan(u)cos2(u)du=1vdv=log|v|+C=log|tan(x2)|+C,

    wobei u=x2, du=12dx, und v=tan(u), dv=1cos2(u)du.

Wie bereits erwähnt, benötigt die Integration mehr Übung und Vorraussicht als die Differentiation. Obige Substitutionen benötigen zum Beispiel den Blick ob gewisse Faktoren vielleicht die gewünschte Ableitung f einer inneren Funktionen f darstellen könnte. Manchmal ist dies naheliegend wie in Beispiel 8.17(i), doch manchmal erfordert dies Erfahrung und eine längere Suche wie in Beispiel 8.17(ii).

8.2.3 – Integration rationaler Funktionen

Wir erinnern daran, dass eine rationale Funktion eine Funktion der Form xp(x)q(x) für Polynome p(t),q(t)R[t] und q(t)0 ist, wobei der Definitionsbereich R ohne die Nullstellen von q(t) ist. Wir wollen hier ein Verfahren zur Berechnung des unbestimmten Integrals einer rationalen Funktion besprechen. Nach Division mit Rest für Polynome (siehe Übung 3.17) können wir als erstes ein Polynom abspalten, so dass die verbleibende rationale Funktion von der Form p1(x)q(x) für [latex]\deg (p_1)

Da Polynome mittels der Formel xndx=1n+1xn+1+C integriert werden können, nehmen wir nun an, dass der Grad von p kleiner als der Grad von q ist. Wir betrachten zuerst einige Spezialfälle.

Beispiel 8.18: Integration von elementaren rationalen Funktionen

Sei aR beliebig und n2 eine natürliche Zahl.

  1. Es gilt
    1xadx=1udu=log|u|+C=log|xa|+C,

    wobei u=xa gesetzt wurde und du=dx ist.

  2. Für n2 gilt
    1(xa)ndx=undu=1n+1un+1+C=1n+1(xa)n+1+C,

    wobei wieder u=xa gesetzt wurde und du=dx ist.

  3. Falls a0 ist, so gilt
    1a2+x2dx=1a211+(xa)2dx=1a11+u2du=1aarctan(u)+C=1aarctan(xa)+C,

    wobei u=xa gesetzt wurde und du=1adx ist.

  4. Es gilt
    xa2+x2dx=121udu=12log|u|+C=12log(a2+x2)+C,

    wobei u=a2+x2 und du=2xdx.

  5. Für n2 gilt
    x(a2+x2)ndx=121undu=12(1n)u1n+C=12(1n)(a2+x2)1n+C,

    wobei u=a2+x2 und du=2xdx.

Im Allgemeinen verwenden wir die sogenannte Partialbruchzerlegung von p(x)q(x), um die Integration rationaler Funktionen auf obige Beispiele zurückzuführen. In der Tat lässt sich p(x)q(x) als Linearkombination von einfacheren rationalen Funktionen darstellen. Diese sind von der Form

1(xa),1(xa)2,,1(xa)k,

oder von der Form

A1x+B1(xλ)(x¯λ),,Ax+B((xλ)(x¯λ)),

wobei aR eine Nullstelle von q mit Vielfachheit k und λCR eine Nullstelle von q mit Vielfachheit N ist und A1,B1,,A,BR.

Beispiel 8.19: Integration rationaler Funktionen und die Partialbruchzerlegung

  1. Wir wollen das unbestimmte Integral x4+1x2(x+1)dx bestimmen. Als erstes führen wir Division mit Rest
    (x4+1):(x3+x2)=x1x4x3_x3+1x3+x2_ x2+1Rest

    durch, womit

    x4+1x2(x+1)dx=(x1+x2+1x2(x+1))dx=x22x+x2+1x2(x+1)dx.

    Um die Partialbruchzerlegung von x2+1x2(x+1) zu erhalten, setzen wir

    x2+1x2(x+1)=Ax2+Bx+Cx+1

    für noch unbekannte Zahlen A,B,CR, multiplizieren mit x2(x+1) und erhalten

    x2+1=A(x+1)+Bx(x+1)+Cx2.

    Nun setzen wir in diesem x=0 um A=1 zu erhalten und x=1, um C=2 zu erhalten. Für x=1 ergibt sich nun 2=12+B2+21 und somit B=1. (Alternativ kann man auch beide Seiten ausmultiplizieren, die Koeffizienten links und rechts vergleichen, und auf diese Weise drei Gleichungen in den unbekannten Variablen A,B,C erhalten.) Daher ist

    x2+1x2(x+1)dx=1x2dx1xdx+21x+1dx=1xlog|x|+2log|x+1|+D
  2. Wir berechnen das unbestimmte Integral 1x(x2+2x+2)dx. Man beachte dabei, dass das Polynom x2+2x+2 keine reellen Nullstellen hat. Für die Partialbruchzerlegung machen wir den Ansatz
    1x(x2+2x+2)=Ax+Bx+Cx2+2x+2.

    Nun multiplizieren wir mit x(x2+2x+2) und erhalten

    1=A(x2+2x+2)+(Bx+C)x.

    Für x=0 ergibt sich A=12. Daher ist

    1=(12+B)x2+(1+C)x+1

    und B=12 und C=1. Es folgt

    1x(x2+2x+2)dx=121xdx12x+2x2+2x+2dx=12log|x|12x+2(x+1)2+1dx=12log|x|12u+1u2+1dx=12log|x|14log|u2+1|12arctan(u)+D=12log|x|14log((x+1)2+1)12arctan(x+1)+D,

    wobei wir u=x+1 gesetzt haben und Beispiele 8.18 (c) und (d) verwendet haben.

In manchen Fällen kann obiges Verfahren auch auf das Integral 1(a2+x2)ndx für ein aR und n2 führen, was wir mit der trigonometrischen Substitution tan(u)=xa (siehe unten) behandeln können. Eine andere, allgemeinere Herangehensweise möchten wir in folgender Bemerkung für Interessierte behandeln.

Bemerkung: Integration rationaler Funktionen mit mehrfachen komplexen Nullstellen

Wie oben schon bemerkt, kann man nach der Partialbruchzerlegung ein Integral einer rationalen Funktion auf die Integration von Ausdrücken der Form 1(xa)k oder von Ax+B(x2+bx+c)k für kN und für Konstanten a,A,B,b,cR zurückführen, wobei die Polynome der Form x2+bx+c keine rellen Nullstellen haben. Für die Berechnung eines Integrals des zweiten Typs mit k>1 möchten wir hier einen Algorithmus erläutern, wobei wir uns auf den Fall x2+bx+c=x2+1 beschränken (auf welchen man den allgemeinen Fall mit quadratischem Ergänzen zurückführen kann).

Seien also k>1 und ein Polynom q von Grad kleiner als 2k gegeben. Dann ist das unbestimmte Integral q(x)(x2+1)kdx immer von der Form
p(x)(x2+1)k1+αarctan(x)+βlog(x2+1)+C.
für ein Polynom p von Grad kleiner 2k2 und Konstanten α,β. Durch Ableiten, auf den gemeinsamen Nenner bringen und Vergleich der Koeffizienten lässt sich somit die Stammfunktion ermitteln.

Übung 8.20

Wir möchten in dieser Übung den oben erklärten Algorithmus genauer erklären und beginnen mit einem konkreten Beispiel.

  1. Berechnen Sie das Integral 1(x2+1)2dx.

Sei nun k>1 und q ein Polynom von Grad kleiner als 2k.

  1. Zeigen Sie, dass die Ableitung von p(x)(x2+1)k1 für ein beliebiges Polynom p von Grad kleiner als 2k2 durch
    (x2+1)p(x)2(k1)xp(x)(x2+1)k

    gegeben ist.

  2. Berechnen Sie die Matrixdarstellung M der Abbildung
    ϕ:p(x)(x2+1)p(x)2(k1)xp(x)

    bezüglich der Basis der Monome.

  3. Schliessen Sie auf die Darstellung in (8.5), indem Sie zeigen, dass das Bild von ϕ zusammen mit (x2+1)k1 und 2x(x2+1)k1 den Vektorraum der Polynome von Grad kleiner gleich 2k1 aufspannt.

8.2.4 – Trigonometrische Substitution

In allen bisherigen Beispielen der Substitutionsregel in Abschnitt 8.2.2 hatten wir das Glück, dass das vorhandene Integral (vielleicht nach etwas Arbeit) bereits die richtige Struktur besass. Man verwendet die Substitutionsregel aber oft auch bevor wir noch wissen welches Integral sich eigentlich nach der Substitution ergibt, wobei es gewisse Funktionentypen gibt bei denen eine gewisse Substitution erfahrungsgemäss erfolgreich sein könnte. Wir wenden uns nun einem konkreten Beispiel dessen zu.

Beispiel 8.21: Kreisfläche

Wir möchten für r>0 das unbestimmte Integral r2x2dx berechnen. Auf Grund der trigonometrischen Identitäten r2r2sin2(θ)=rcos(θ) bietet es sich nun an, die Funktion

f:Iθ=(π2,π2)Ix=(r,r), θx=rsin(θ)

für die Substitution zu verwenden. Denn mit dieser Substitution haben wir die Hoffnung, die Wurzel in einen anderen Ausdruck zu verwandeln.

Allerdings ist dies umgekehrt zu der Substitution in Abschnitt 8.2.2, da wir hier die «neue Variable»  θ verwenden um die «alte Variable»  x=rsin(θ) auszudrücken. (Anstatt wie in Abschnitt 8.2.2 wo wir die neue Variable u=f(x) als Funktion der alten Variable x gesehen haben). Da f bijektiv ist, ist dies kein Problem: denn x=rsin(θ)(r,r) ist zu θ=arcsin(xr)(π2,π2) äquivalent. Weiters ist die Ableitung von f=dxdθ gleich rcosθ und damit auf ganz (π2,π2) ungleich 0. Gemeinsam mit dem Satz über die Ableitung der inversen Funktion (Satz 7.14) erhalten wir daher

r2x2dx=rcos(θ)(dxdθ)(dθdx)dx=r2cos2(θ)dθ=r21+cos(2θ)2dθ=r22(θ+12sin(2θ))+C=r22arcsin(xr)+12xr2x2+C,

wobei wir eben x=rsin(θ), r2x2=rcos(θ), dx=rcos(θ)dθ und die trigonometrischen Identitäten

cos(2θ)=cos2(θ)sin2(θ)=2cos2(θ)1cos2(θ)=cos(2θ)+12sin(2θ)=2sin(θ)cos(θ)

für θ(π2,π2) verwendet haben.

Veranschaulichen Sie sich die Substitution und die wichtigsten der obigen Identitäten in einem rechtwinkeligen Dreieck. Geben Sie weiters eine geometrische Interpretation der beiden Terme des unbestimmten Integrals bei der Berechnung des bestimmten Integrals b0r2x2dx für [latex]0

Dies zeigt, dass

G0:x(r,r)12r2arcsin(xr)+12xr2x2

eine Stammfunktion von g0:x(r,r)r2x2 ist (was wie immer viel einfacher zu überprüfen ist). Da aber sogar die Funktion g:x[r,r]r2x2 stetig ist, besitzt g nach Korollar 8.3 auch auf ganz [r,r] eine Stammfunktion G1, welche auf (r,r) mit G0+C übereinstimmt. Da aber

G:x[r,r]12r2arcsin(xr)+12xr2x2

auch eine auf ganz [r,r] stetige Funktion definiert, folgt aus Stetigkeit von G und G1, dass G1=G+C und damit ist G auf ganz [r,r] eine Stammfunktion von g. Wir bemerken allerdings, dass arcsin(xr) keine Ableitung in den Punkten r und r besitzt. (Wieso ist dies kein Widerspruch zu obiger Diskussion?)

Substitutionen wie obige nennen sich vielfach trigonometrische Substitutionen. Wir werden bei diesen Berechnungen nicht immer so sorgfältig argumentieren und vielmehr der Leibniz Notation vertrauen, doch muss immer Invertierbarkeit der Funktion gegeben sein wenn wir die alte Variable durch die neue Variable ausdrücken. Für die folgende Auflistung der trigonometrischen Substitutionen sei nZ.

  • In Ausdrücken der Form (a2x2)n2 für a>0 führt wie bereits im obigen Beispiel oft die Substitution x=asin(θ) mit θ(π2,π2) zum Ziel, wobei sich damit dx=acos(θ)dθ und (a2x2)12=acos(θ) ergibt.
  • In Ausdrücken der Form (a2+x2)n2 für a>0 führt oft die Substitution x=atan(θ) mit θ(π2,π2) zum Ziel, wobei sich damit dx=acos2(θ)dθ und (a2+x2)12=acos(θ) ergibt.
  • Obwohl dies keine trigonometrische Substitution darstellt, bemerken wir noch Folgendes. Falls ein «einzelnes» x vor dem Ausdruck (a2x2)n2 oder dem Ausdruck (a2+x2)n2 steht, ist die Substitution u=a2x2 respektive u=a2+x2 teilweise viel einfacher.

Als Merkhilfe kann es helfen für die beiden trigonometrischen Substitution ein rechtwinkeliges Dreieck zu skizzieren und abhängig von der Substitution die Seiten mit Hilfe von Pythagoras entsprechend zu beschriften.

Beispiel 8.22: Trigonometrische Substitution

  1. Es gilt für a>0
    1(a2+x2)32dx=cos3(θ)a3a1cos2(θ)dθ=1a2cos(θ)dθ=1a2sin(θ)+C=xa2a2+x2+C,

    wobei wir x=atan(θ), a2+x2=a1cos(θ), dx=a1cos2(θ)dθ verwendet haben. (Veranschaulichen Sie sich die Substitution und obige Identitäten in einem Bild.)

  2. Es ist
    x1x2dx=12u12du=1223u32+C=13(1x2)32+C,

    wobei u=1x2, du=2xdx.

8.2.5 – Weitere Integrationsmethoden

Es gibt viele weitere Methoden zur Integration; viele davon beruhen auf spezielle Substitutionen.

Beispielsweise lassen sich gewisse unbestimmte Integrale mit hyperbolischen Substitutionen berechnen. Sei n1. In Ausdrücken der Form (x2a2)n2 für aR führt oft die Substitution x=acosh(u) zum Ziel, wobei sich damit dx=asinh(u)du und (x2a2)12=asinh(u) ergibt.

Beispiel 8.23

Wir berechnen

x21dx=sinh2(u)du=cosh(u)sinh(u)cosh2(u)du=cosh(u)sinh(u)sinh2(u)+1du+C=cosh(u)sinh(u)usinh2(u)du+C,

wobei x=cosh(u) und dx=sinh(u)du. Nach Auflösen ergibt sich somit

x21dx=sinh2(u)du=cosh(u)sinh(u)u2+C=xx21arcosh(x)2+C.

Eine andere Methode, die wir hier kurz erwähnen möchten, ist die sogenannte Halbwinkelmethode (oder auch Weierstrass-Substitution). Diese ist dann nützlich, wenn man das Integral einer rationalen Funktion in cos(x) und sin(x) wie zum Beispiel cos2(x)sin(x)+2017 in die Integration einer rationalen Funktion in u=tan(x2) umwandeln möchte (siehe auch Beispiel 8.17 (b)).

Übung 8.24: Halbwinkelmethode

Wir möchten das unbestimmte Integral cos(x)2+sin(x)dx mit der Substitution u=tan(x2) berechnen. Zeigen Sie dafür zuerst die Identitäten

sin(x)=2u1+u2,cos(x)=1u21+u2.

Zeigen Sie anschliessend, dass das obige Integral nach Substitution zu einem Integral einer rationalen Funktion in u wird und berechnen Sie es.

Manchmal führt man auch die eine oder die andere Substitution durch, weil in der zu integrierenden Funktion eine verschachtelte Funktion vorliegt und man einfach keine andere Methode zur Verfügung hat. Zum Beispiel bei dem Integral sin(x)dx steht keine der erwähnten Methoden zur Verfügung, doch ist man versucht u=x zu setzen um zu sehen was sich daraus ergibt. Dies führt in der Tat zum Erfolg (wieso?). Ebenso in dem Integral der Form 11+exp(x)dx führt der Ansatz u=exp(x) zu einem unbestimmten Integral einer rationalen Funktion (wieso?).

8.2.6 – Neue Funktionen

Manchmal führen obige Methoden zur Bestimmung eines unbestimmten Integrals einer Funktion zu keinem Ergebnis. Dies kann daran liegen, dass die gesuchte Stammfunktion sich nicht mit den bisher bekannten Funktionen ausdrücken lässt.

Beispiel 8.25: Integralsinus

Der Integralsinus ist die Stammfunktion Si:RR der stetigen Funktion

xR{sin(x)xfalls x01falls x=0

mit der Normalisierung Si(0)=0. Er lässt sich als Potenzreihe schreiben, denn nach Satz 6.85 gilt

Si(x)=x0sin(t)tdt=x0n=0(1)n(2n+1)!t2ndt=n=0(1)n(2n+1)!(2n+1)x2n+1

für alle xR.

Beispiel 8.26: Integralkosinus

Der Integralkosinus Ci:(0,)R ist definiert als die Stammfunktion von x(0,)cos(x)xR mit der Normalisierung limxCi(x)=0.

Dabei möchten wir auf folgende Übung verweisen, die zeigt, dass der Integralkosinus so wohldefiniert ist.

Übung 8.27

Sei F eine Stammfunktion von x(0,)cos(x)xR. Zeigen Sie, dass der Grenzwert limxF(x) existiert. Drücken Sie Ci als Summe einer Konstanten (der sogenannten Euler-Mascheroni Konstanten), der Logarithmusfunktion und einer Potenzreihe aus.

Unter Verwendung uneigentlicher Integrale werden wir später weitere wichtige Funktionen kennenlernen, die sich nicht in Termen bekannter Funktionen ausdrücken lassen — siehe zum Beispiel 8.45.

8.2.7 – Das bestimmte Integral

Alle obigen Regeln zur Berechnung des unbestimmten Integrals lassen sich nach dem Fundamentalsatz der Integral- und Differentialrechnung eins zu eins auch für das Riemann-Integral, welches im Gegensatz zum unbestimmten Integral auch das bestimmte Integral genannt wird, anwenden. Dabei haben wir zwei Möglichkeiten.

  • Eine erste Möglichkeit ist mit obigen Methoden zuerst das unbestimmte Integral zu berechnen und dann Korollar 8.4 zur Berechnung des Riemann-Integrals zu verwenden.
  • Falls wir aber nur an einem einzigen Riemann-Integral interessiert sind, ist es oft einfacher, die Ausdrücke ausserhalb des Integrals so früh wie möglich zu berechnen. Wir erklären dies im Folgenden für die partielle Integration und die Substitution.

Sind u,v zwei stetig differenzierbare Funktionen auf einem kompakten Intervall [a,b] mit Endpunkten [latex]a

bauvdx=[uv]babauvdx.

Denn falls F eine Stammfunktion von uv und G eine Stammfunktion von uv ist, dann gilt für alle x[a,b]

F(x)+C1=uvdx=u(x)v(x)uvdx+C2=u(x)v(x)G(x)+C3

für gewisse Integrationskonstanten C1,C2,C3. Somit ist nach Korollar 8.4

bauvdx=[F(x)]ba=F(b)F(a)=u(b)v(b)G(b)(u(a)v(a)G(a))=[u(x)v(x)]ba[G(x)]ba=[u(x)v(x)]babauvdx.

Ebenso können wir bei einer Substitution in Abschnitt 8.2.2 die Grenzen für ein Riemann-Integral enstsprechend der Substitution neu berechnen. Sei Ix ein Intervall mit Endpunkten [latex]a_x

bagf(x)f(x)dx=f(b)f(a)g(u)du.

In der Tat, wenn G eine Stammfunktion von g auf Iu ist, dann ist nach der Kettenregel Gf eine Stammfunktion von xIxgf(x)f(x). Nach Korollar 8.4 gilt also

bagf(x)f(x)dx=[Gf]ba=G(f(b))G(f(a))=[G]f(b)f(a)=f(b)f(a)g(u)du.

Die Annahme der Stetigkeit an g kann abgeschwächt werden — siehe die entsprechende Übung im Abschnitt 8.8.2.

8.2.8 – Leibniz-Notation

Wir werden die Leibniz-Notation in der Berechnung von unbestimmten und bestimmten Integralen wie bereits oben im Folgenden immer wieder verwenden. Diese Notation verpackt in einem natürlichen Formalismus die partielle Integration

udv=uvvdu+C

und die Substitutionsregeln

g(u(x))dudxdx=g(u)dug(u(x))dx=g(u)dxdu(u)du,

wobei wir in der zweiten Formulierung der Substitution vorraussetzen, dass u:IxIu bijektiv mit nicht verschwindender Ableitung ist und dadurch im linken Integral mit 1=dxdududx multiplizieren konnten und die erste Formulierung der Substitutionsregel anwenden konnten. Wie wir gesehen haben, sind diese Regeln Umformulierungen der Produktregel für die Ableitung und der Kettenregel für die Ableitung (gemeinsam mit der Ableitungsregel für die inverse Abbildung).

Bei konkreten Integralberechnungen verwenden wir mitunter auch Gleichungen, die dx und du miteinander verbinden. Zum Beispiel bei der trigonometrischen Substitution x=asinθ (für x(a,a) und θ(π2,π2)) verwenden wir auch die Formel dx=acosθdθ, die formal gesehen keine Bedeutung hat (und deswegen auf keinen Fall in dieser Form in Beweisen auftreten sollte), doch eben im Zuge der Substitution in der Formulierung der Leibniz-Notation einen bequemen Zwischenschritt darstellt.

Informell taucht in Anwendungen das Symbol dx auch oft in Diskussionen auf, die zu einem Riemann-Integral führen, wobei dx dann für ein (sehr) kleines Δx stehen sollte. In Anwendungen werden häufig die Begriffe der Riemann-Summe oder der additiven Intervallfunktion vermieden, wobei es genau diese Begriffe sind, die diese Verwendung von dx genau und formal korrekt machen würden (siehe Abschnitte 4.4 und 5.5). Auf jeden Fall hat in diesem Zusammenhang eine Formel der Gestalt dx=acosθdθ auch eine Interpretation: Da Δx die Länge eines kleinen Teilintervalls von (a,a) angibt und Δθ die Länge des entsprechenden Teilintervalls in (π2,π2) so gibt die Ableitung acosθ (bis auf einen kleinen und wie sich herausstellt vernachlässigbaren Fehler) den Grössenunterschied ΔxΔθ an, der bei Betrachtung von etwaigen Riemann-Summen in der Variable x und der Variable θ als zusätzlicher Faktor auftreten würde. Wir müssen dies nicht genauer ausführen oder die Substitution auf diese Art und Weise beweisen, da wir ja mittels der Kettenregel und dem Fundamentalsatz der Integral- und Differentialrechnung bereits die Substitutionsregel für Riemann-Integrale bewiesen haben und obiger Formalismus diese nur auf eine andere Art präsentiert. Dieser Beweis über den Fundamentalsatz verwendet allerdings etwas stärkere Annahmen als notwendig (siehe folgende Übung für den direkten Beweis mit schwächeren Annahmen).

Übung 8.28: Substitution für Riemann-integrierbare Funktionen

Sei [a,b] ein kompaktes Intervall in R mit Endpunkten [latex]a

bagf(t)f(t)dt=f(b)f(a)g(x)dx.

8.3 – Anwendungen

8.3.1 – Flächeninhalte

Wir wollen hier nochmals Beispiele für Flächenberechnungen besprechen, welche unter anderem den Namen der Umkehrfunktionen der hyperbolischen Funktionen erklären.

Beispiel 8.29

Wir berechnen den Flächeninhalt des Kreises mit Radius r>0. Dieser ist durch 2rrr2x2dx definiert (wieso?), und gemeinsam mit Bespiel 8.21 ergibt sich daraus

2rrr2x2dx=2[12r2arcsin(xr)+12xr2x2]rr=r2π

Beispiel 8.30: Hyperbolische Umkehrfunktionen

Wir verwenden die Funktion
tR(x,y)=(cosh(t),sinh(t))R2
um die «positive Hälfte» der Hyperbel {(x,y)x2y2=1} zu parametrisieren. Wir stellen uns den Parameter tR vorerst als Zeit vor. In diesem Sinne beschreibt (8.6) eine Bewegung im R2. Wir wollen den Flächeninhalt des folgenden Gebietes in Rosa zwischen dem Ursprung und einem Teil der Hyperbel berechnen.

image

Dieser ist der Flächeninhalt 12x0y0=12cosh(t0)sinh(t0) des eingezeichneten Dreiecks minus dem Flächeninhalt unterhalb der Hyperbel zwischen der 1 und x0=cosh(t0) in Blau. Letztere Fläche ist durch x01x21dx gegeben. Um dieses Integral zu berechnen, verwenden wir die hyperbolische Substitution x=cosh(t), dx=sinh(t)dt und erhalten

x01x21dx=t00sinh2(t)dt=t00e2t2+e2t4dt=[e2te2t812t]t00=[14sinh(2t)12t]t00=12x0y012t0.

Somit ist der Flächeninhalt des gesuchten Gebiets

12t0=12arcosh(x0)=12arsinh(y0).

Dies erklärt die Namen «Areasinus Hyperbolicus» und «Areakosinus Hyperbolicus» der Umkehrfunktionen der hyperbolischen Funktionen (wieso?).

8.3.2 – Bogenlänge

Im Folgenden möchten wir einen stetige Funktion γ:[a,b]Rd für d2, auch Weg oder Kurve von γ(a) nach γ(b) genannt, betrachten. Dabei fassen wir t[a,b] als Zeitparameter und γ(t) als die Position zum Zeitpunkt t auf.

Falls alle Komponenten γ1,,γd von γ=(γ1,,γd)t stetig differenzierbar sind, interpretieren wir für einen Zeitpunkt t[a,b] den Ausdruck ˙γ(t)2=˙γ1(t)2++˙γd(t)2 als die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t[a,b].

Wir möchten nun die Bogenlänge des Weges γ als die gesamte Strecke, die zwischen den Zeiten a und b zurückgelegt wurde, definieren. Dabei soll gelten, dass die zurückgelegte Strecke zwischen gleichen Zeiten α und α Null ist und dass sich Strecken additiv verhalten, also dass die zwischen den Zeiten α4.29istdiezurückgelegteStreckealsoeineadditiveIntervallfunktionauf[latex][a,b].

Des Weiteren möchten wir natürlich verlangen, dass die in einem Teilintervall [α,β][a,b] mit [latex]\alpha 4.30 ist daher die einzig vernünftige Definition der Bogenlänge des Weges γ der Ausdruck

L(γ)=ba˙γ(t)2dt=ba˙γ1(t)2++˙γd(t)2dt.

Anders formuliert ist also die Länge des zurückgelegten Weges das Integral über die Geschwindigkeitsfunktion.

Beispiel 8.31: Umfang des Kreises

Wir betrachten den Weg

γ:t[0,2π](cos(t),sin(t))tR2.

Wegen γ(0)=γ(2π)=(1,0)t sind der Start- und der Endpunkt von γ gleich (wir sagen auch, dass der Weg γ geschlossen ist). Auch gilt für die Geschwindigkeit zu jedem Zeitpunkt t[0,2π]

˙γ(t)2=˙γ1(t)2+˙γ2(t)2=sin2(t)+cos2(t)=1.

Der Weg (oder die Kurve) γ durchläuft (wegen cos2(t)+sin2(t)=1 für alle tR) den Einheitskreis also mit konstanter Geschwindigkeit Eins. Deswegen gilt

L(γ)=2π0˙γ1(t)2+˙γ2(t)2dt=2π01dt=2π.

Des Weiteren besucht γ jeden Punkt (bis auf den Endpunkt) genau einmal (siehe auch Abschnitt 6.6.4). Einen solchen Weg nennen wir auch einfach. Deswegen lässt sich die Bogenlänge von γ auch als den Umfang des Einheitskreises auffassen, der somit 2π ist. Dies gilt analog für Teilstrecken und definiert den Begriff Winkel als Bogenlänge am Einheitskreis.

Sei γ:[a,b]Rd ein stetig differenzierbarer Weg ausgehend von einem Intervall [a,b] mit Endpunkten aReparametrisierungvon[latex]γ ist ein Weg der Form γψ:[˜a,˜b]Rd, wobei [˜a,˜b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]\tilde {a}

Intuitiv ausgedrückt ist eine Reparametrisierung eines Weges also ein Weg mit denselben Endpunkten (da ψ(˜a)=a und ψ(˜b)=b) und der immer in dieselbe Richtung geht (wegen Monotonie). Anschaulich kann man deswegen erwarten, dass jede Reparametrisierung eines Weges dieselbe Bogenlänge hat. Auch wollen wir zeigen, dass ein nie anhaltender Weg so reparametrisiert werden kann, dass der neue Weg Einheitsgeschwindigkeit hat. Falls γ:[a,b]Rd nie anhält oder genauer falls ˙γ(t)2>0 für alle t[a,b], so nennen wir γ regulär.

Lemma 8.32: Reparametrisierungen eines Weges

Sei γ:[a,b]Rd ein stetig differenzierbarer Weg für [latex]a Parametrisierung nach Bogenlänge genannt wird.

In Beispiel 8.31 ist der betrachtete Weg bereits nach Bogenlänge parametrisiert.

Beweis

Sei [˜a,˜b] ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]\tilde {a}

L(γψ)=˜b˜a(γ1ψ)(s)2++(γdψ)(s)2ds=˜b˜a˙γ1(ψ(s))2ψ(s)2++˙γd(ψ(s))2ψ(s)2ds=˜b˜a˙γ1(ψ(s))2++˙γd(ψ(s))2ψ(s)ds=ba˙γ1(t)2++˙γd(t)2dt=L(γ).

Für die zweite Aussage konstruieren wir nun eine geeignete Funktion ψ wie oben. Sei

ϕ:[a,b][0,L(γ)], tta˙γ1(s)2++˙γd(s)2ds.

Wegen ˙ϕ(t)=˙γ1(t)2++˙γd(t)2>0 für alle t[a,b] sowie ϕ(a)=0 und ϕ(b)=L(γ) ist ϕ:[a,b][0,L(γ)] eine streng monoton wachsende, stetig differenzierbare Bijektion. Insbesondere ist ψ=ϕ1:[0,L(γ)][a,b] ebenfalls streng monoton wachsend und stetig differenzierbar. Zur Zeit s[0,L(γ)] berechnen wir nun die Geschwindigkeit von γψ. Ist t=ψ(s), so gilt wegen ψ(s)>0 auch

(γ1ψ)(s)2++(γdψ)(s)2=˙γ1(t)2ψ(s)2++˙γd(t)2ψ(s)2=ψ(s)˙γ1(t)2++˙γd(t)2=1˙ϕ(t)˙γ1(t)2++˙γd(t)2=1.

Somit hat die Reparametrisierung γψ die gewünschte Eigenschaft. ∎

Übung 8.33: Eindeutigkeit der Parametrisierung

In Lemma 8.32 wird bereits von der Parametrisierung nach Bogenlänge gesprochen. Wir wollen dies hier begründen. Sei γ:[a,b]Rd ein stetig differenzierbarer, regulärer Weg. Nach Lemma 8.32 dürfen wir annehmen, dass γ Einheitsgeschwindigkeit hat. Zeigen Sie, dass es keine weitere Reparametrisierung von γ mit Einheitsgeschwindigkeit gibt.

Übung 8.34: Totale Variation des Weges

In dieser Übung wollen wir noch eine weitere Begründung für die Definition der Bogenlänge eines Weges γ:[a,b]Rd geben. Hierfür interpretieren wir d(v,w)=vw2 als den Abstand zweier Punkte v,wRd. Die totale Variation von γ:[a,b]Rd ist definiert als

V(γ)=supZnk=1γ(xk)γ(xk1),

wobei das Supremum über alle Zerlegungen [latex]\mathfrak {Z}=\left \lbrace {x_0=a

Hinweis.

Verwenden Sie den Mittelwertsatz für jede Komponente von γj in jedem Intervall [xk1,xk] für j=1,,d und k=1,,n gemeinsam mit gleichmässiger Stetigkeit der Funktion t[a,b](γ1(t),,γd(t))t.

Für einen Weg γ:[a,b]Rd und eine stetige Funktion f:RdR kann ein Integral der Form

baf(γ(t))˙γ(t)2dt

auch physikalische Bedeutung haben. Zum Beispiel kann der Weg einen verbogenen Draht (mit konstanter Dichte 1kg/m) beschreiben. In diesem Fall gibt

1L(γ)baγj(t)˙γ(t)2dt

die j-te Koordinate des Schwerpunktes des Drahtes an, wobei j{1,,d}.

8.3.3 – Wegintegrale von Vektorfeldern

Wir kommen nun zu einem weiteren Typ von Wegintegralen, der sowohl für die Physik als auch für die weitere Analysis wichtig sein wird. Hierfür betrachten wir nochmals reelle Zahlen [latex]a

Sei f:RdRd eine stetige Funktion (siehe Definition 5.96), welche wir als ein Kraftfeld interpretieren und bei jedem Punkt vRd die Richtung und Stärke einer Krafteinwirkung zum Beispiel auf Grund von Wind angibt (mit jeder Koordinate in N). Wir nennen in diesem Zusammenhang f auch ein Vektorfeld und visualisieren für d=2 (und etwas schwieriger auch für d=3) dieses durch eine Ansammlung von Vektoren bei mehreren Punkten im Definitionsbereich, siehe folgendes Bild.

image

Das innere Produkt f(γ(t)),˙γ(t) gibt damit die Leistung (in W=Nm/s) an, die bei Bewegung mit vorgeschriebener Geschwindigkeit von der Krafteinwirkung zum Zeitpunkt t geleistet wird. Hierbei kann es vorkommen, dass Krafteinwirkung und Geschwindigkeit ähnliche Richtungen haben und das innere Produkt positiv ist. Ebenso kann es aber vorkommen, dass Krafteinwirkung und Geschwindigkeit entgegengesetzt sind und das innere Produkt negativ ist. In diesem Sinne (siehe auch Abschnitt 4.4.4) berechnet das sogenannte Wegintegral

γfds=baf(γ(t)),˙γ(t)dt

die Arbeit, die von der Krafteinwirkung insgesamt geleistet wurde.

Wir werden im zweiten Semester derartige Integrale nochmals genauer untersuchen und dann zum Beispiel folgende Frage beantworten können: Wie kann man einem Kraftfeld f ansehen, ob das Wegintegral nur von Anfangspunkt γ(a) und Endpunkt γ(b) abhängt und nicht von der Wahl des konkreten Weges von γ(a) nach γ(b)?

Beispiel 8.35: Abhängigkeit von der Wahl des Weges

Sei f:R2R2 definiert durch f(x,y)=(\arraycolsep=0.3\arraycolsep\ensuremathyx2). Wir betrachten den Weg γ:[0,1]R2 definiert durch γ(t)=(\arraycolsep=0.3\arraycolsep\ensuremathtt2) für t[0,1]. Dann ist das Wegintegral von f über den Weg γ von γ(0)=(\arraycolsep=0.3\arraycolsep\ensuremath00) nach γ(1)=(\arraycolsep=0.3\arraycolsep\ensuremath11) durch

10(t2t2),(12t)dt=10(t2+2t3)dt=13+24=56

gegeben. Verwenden wir allerdings den Weg η:[0,1]R2 definert durch η(t)=(\arraycolsep=0.3\arraycolsep\ensurematht2t) für t[0,1], so sind zwar Anfangs- und Endpunkte unverändert, doch ist das Wegintegral durch

10(tt4),(2t1)dt=10(2t2+t4)dt=23+15=1315

gegeben.

Applet 8.36: Wegintegral

Wir stellen sowohl das Vektorfeld f, einen verschiebbaren Weg γ mit animiertem Punkt γ(t), die Ableitung γ(t) und darunter den Graph der Funktion t[0,1]f(γ(t)),γ(t) dar.

8.3.4 – Volumen von Rotationskörpern

Sei [a,b]R ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]a

G={(x,y)R2axb, 0yf(x)}

und den zugehörigen Körper

K={(x,y,z)R3axb, 0y2+z2f(x)},

der sich aus Rotation von G um die x-Achse ergibt. Sind die beiden Zylinder Z1,Z2 mit Radius minx[a,b]f(x) respektive maxx[a,b]f(x) um die x-Achse gegeben, so will man wegen den Enthaltungen Z1KZ2, dass das Volumen von K zwischen π(minx[a,b]f(x))2(ba) und π(maxx[a,b]f(x))2(ba) liegt. Wir halten dies in folgendem Bild fest, wo gemeinsam mit dem Rotationskörper eine von vielen «Scheiben» , die zusammen den Körper approximieren, dargestellt werden.

image

Deswegen (siehe auch Übung 8.38) definieren wir das Volumen des Rotationskörpers K durch
πbaf(x)2dx.

Beispiel 8.37: Volumen der Kugel

Sei K={(x,y,z)R3x2+y2+z2r2} für r>0 die Kugel mit Radius r. Die Kugel K lässt sich auch als Rotationskörper mittels der Funktion f:x[r,r]r2x2 auffassen. Ihr Volumen ist deswegen durch

πrr(r2x2)2dx=πrr(r2x2)dx=π[r2xx33]rr=π(r3r33+r3r33)=4π3r3

gegeben.

Übung 8.38

Motivieren Sie die Definition des Volumen eines Rotationskörpers mit mehr Details in Analogie zu Abschnitt 8.3.2 unter Verwendung von Proposition 4.30.

8.3.5 – Oberflächen von Rotationskörpern

Obwohl Proposition 4.30 oft ein guter Wegweiser für das Auffinden einer geeigneten Definition darstellt, müssen oder können wir diese nicht immer als Grundlage wählen. Manchmal begnügen wir uns mit geometrischer Intuition als Motivation der Definition.[1]

Wir betrachten [latex]a

K={(x,y,z)R3axb, 0y2+z2f(x)}

wie im letzten Abschnitt.

image

In einem kleinen Teilintervall [xk1,xk][a,b] der Länge xk ist die Funktion y=f(x) der Tangente yf(ξ)=f(ξ)(xξ) für ein ξ[xk1,xk] sehr nahe. Ausserdem wird die Oberfläche des Anteils von K, der dem Intervall [xk1,xk] entspricht, sehr gut durch die Aussenoberfläche des Kegelstumpfs beschrieben, der entsteht, wenn man obiges Tangentenstück zwischen xk1 und xk um die x-Achse rotiert. Die Aussenoberfläche eines Kegelstumpfs ist näherungsweise U, wobei die Länge der Aussenkante des Kegelstumpfs und U der Umfang einer der beiden Kreise darstellt (wieso?).

Die Oberfläche sollte also näherungsweise durch

nk=1(xk)2+(yk)22πf(xk)=2πnk=11+(ykxk)2f(xk)xk=2πnk=11+f(ξk)2f(xk)(xkxk1)

gegeben sein, wobei ξk[xk1,xk] für jedes k{1,,n} einen Zwischenpunkt darstellt. Deswegen definieren wir nun die Oberfläche des Rotationskörpers K als

2πba1+f(x)2 f(x)dx.

Beispiel 8.39: Kugeloberfläche

Wie in Beispiel 8.37 betrachten wir zu r>0 die Funktion x[r,r]r2x2, deren Rotationskörper gerade die Kugel von Radius r ist. Für alle x[r,r] ist

f(x)=xr2x2.

Damit ist die Kugeloberfläche gleich

2πrr1+x2r2x2r2x2dx=2πrrr2dx=2πr[x]rr=4πr2.

8.4 – Das uneigentliche Integral

Wir wollen nun den Begriff des Riemann-Integrals auf mehrere Arten erweitern.

8.4.1 – Uneigentliche Integrationsgrenzen

Für aR und eine komplexwertige Funktion f:[a,)C mit f|[a,b]R([a,b]) für alle b>a definieren wir das uneigentliche Integral

af(x)dx=limbbaf(x)dx,

falls der Grenzwert existiert. Weiter sagen wir, dass das uneigentliche Integral konvergiert, falls der obige Grenzwert in C existiert. Ansonsten nennen wir das uneigentliche Integral af(x)dx divergent.

Beispiel 8.40

Es gilt

011+x2dx=limbb011+x2dx=limbarctan(b)=π2.

Beispiel 8.41

Es gilt für αR

1xαdx={1α1falls α>1+falls α1.

Insbesondere ist das obige uneigentliche Integral genau dann konvergent, wenn α>1.

In der Tat ist

b1xαdx={[1α+1xα+1]b1=1α+1bα+11α+1falls α1[log(x)]b1=log(b)falls α=1

und

limb1α+1bα+1={+falls α1limblog(b)=+.

Übung 8.42

Berechnen Sie 1xαdx auch für αC.

Uneigentliche Integrale der Form bf(x)dx sind ähnlich definiert. Ebenso definieren wir für eine komplexwertige Funktion f:RC mit f|[a,b]R([a,b]) für alle [latex]a

f(x)dx=0f(x)dx+0f(x)dx=lima0af(x)dx+limbb0f(x)dx,

falls beide Grenzwerte existieren. Wir möchten dazu anmerken, dass man sich bewusst dazu entscheidet, die Bewegungen gegen respektive + komplett getrennt zu behandeln. Alles andere würde zu komischen Phänomenen führen, wie folgendes Beispiel zeigt.

Beispiel 8.43

Das uneigentliche Integral xdx existiert nicht, da 0xdx sowie 0xdx nicht existieren. Wir bemerken aber, dass der Grenzwert limcccxdx=limc0=0 existieren würde aber limcc+1cxdx=limc12((c+1)2c2)= wäre.

Wie wir nun besprechen wollen, haben uneigentlichen Integrale oft sehr enge Beziehungen zu Reihen. Genau wie bei Folgen und Reihen (siehe Satz 5.34 und Proposition 6.11) ist es bei uneigentlichen Integralen nicht-negativer Funktionen einfacher über Konvergenz zu entscheiden.

Lemma 8.44

Sei aR und f:[a,)R0 eine nicht-negative Funktion mit fR([a,b]) für alle b>a. Entweder konvergiert das uneigentliche Integral über f oder es divergiert gegen Unendlich. In beiden Fällen gilt

af(x)dx=sup{baf(x)dxb>a}.
Beweis

Die Funktion b[a,)baf(x)dx ist monoton wachsend. Wenn das Supremum S=sup{baf(x)dxb>a} Unendlich ist, dann divergiert das uneigentliche Integral auf Grund der Monotonie gegen Unendlich. Wenn S0 ein B>a mit

SεBaf(x)dxS

Insbesondere gilt für b>B auf Grund der Monotonie und der Definition von S dieselbe Ungleichung auch für baf(x)dx. Dies beweist die Konvergenz des uneigentlichen Integrals. ∎

Beispiel 8.45: Gaussche Glockenkurve

Wir wollen das uneigentliche Integral

ex2dx=1ex2dx+11ex2dx+1ex2dx

besprechen, wobei die Funktion xRex2 die Gaussche Glockenkurve genannt wird. Auf Grund von Lemma 8.44 reicht es aus eine «Majorantenfunktion» zu finden, die ein konvergentes uneigentliches Integral definiert. Für x[1,) gilt zum Beispiel x2x und daher ex2ex, woraus

\begin{aligned}[]\int _1^\infty \mathrm {e}^{-x^2}\thinspace {\rm {d}} x\leq \int _1^\infty \mathrm {e}^{-x}\thinspace {\rm {d}} x

folgt. Dies zeigt die Konvergenz des zweiten uneigentlichen Integrals, auf Grund der Symmetrie der Funktion ist daher auch ex2dx konvergent. Wir werden den Wert I dieses Integral erst im zweiten Semester berechnen können. Doch wollen wir noch erwähnen, dass die streng monoton wachsende Funktion

Φ:xRI1xet2dt

die Verteilungsfunktion der Normalverteilung mit Erwartungswert 0 und Standardabweichung 12 genannt wird. Diese Funktion lässt sich ebenso wie die Funktionen aus Abschnitt 8.2.6 nicht durch die sonst üblichen Funktionen ausdrücken und ist in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Statstik und in vielen Anwendungen von fundamentaler Bedeutung.

Der folgende Satz charakterisiert nun Konvergenz uneigentlicher Integrale wie in obigem Lemma durch Konvergenz von Reihen (auf hinreichende und notwendige Weise).

Satz 8.46: Integraltest für Reihen

Sei f:[1,)R0 eine monoton fallende Funktion. Dann gilt

n=2f(n)1f(x)dxn=1f(n).

Insbesondere konvergiert die Reihe n=1f(n) genau dann, wenn das uneigentliche Integral 1f(x)dx konvergiert. Dies gilt analog für Integrale der Form Nf(x)dx für NN.

Wir bemerken, dass auf Grund der Monotonieannahme an f in obigem Satz die Eigenschaft f|[1,b]R([1,b]) für alle b>1 erfüllt ist nach Satz 4.31.

Beweis

Für nN und einen beliebigen Zwischenpunkt x[n,n+1] gilt nach Monotonie von f die Ungleichung f(n+1)f(x)f(n) und somit

f(n+1)n+1nf(x)dxf(n),

was auch in folgendem Bild ersichtlich ist.

image

Nach Summation von 1 bis n erhält man mit Intervalladditivität des Riemann-Integrals

n+1=2f()=nk=1f(k+1)n+11f(x)dxnk=1f(k).

Falls das uneigentliche Integral 1f(x)dx existiert, dann folgt

n+1=2f()n+11f(x)dx1f(x)dx.

Daher ist die monoton wachsende Folge (n+1=2f())n nach oben beschränkt und konvergiert somit nach Satz 5.34. Insbesondere gilt auch =2f()1f(x)dx.

Falls k=1f(k) konvergiert, dann ist für b>1 und n=b

b1f(x)dxn+11f(x)dxk=1f(k).

Nach Lemma 8.44 ist somit das uneigentliche Integral 1f(x)dx konvergent und durch die Zahl k=1f(k) beschränkt. ∎

Übung 8.47: Divergenzrate der harmonischen Reihe

Verwenden Sie obigen Satz, um den p-Test in Beispiel 6.17 zu erhalten. Imitieren Sie des Weiteren die Methodik im obigen Beweis von Satz 8.46, um die Divergenzrate

Nn=11n=log(N)+O(1)

für N für die harmonische Reihe zu beweisen.

Übung 8.48: Eine lange Nadel

Berechnen Sie das Volumen und die Oberfläche des «un­eig­ent­lichen Rotations­körpers» , der entsteht, wenn man das Gebiet unter dem Graphen der Funktion x[1,)1x um die x-Achse rotiert.

Übung 8.49: Ein oszillierendes Integral

Entscheiden Sie für welche pR0 das uneigentliche Integral 0xsin(xp)dx konvergiert.

Hinweis.

Für p>0 verwenden Sie am besten die Substitution u=xp für das Integral b1xsin(xp)dx und b>1 und ziehen je nach Fall auf geeignete Weise das Leibniz-Kriterium hinzu.

8.4.2 – Das Integral über unbeschränkte Funktionen

Für [latex]a uneigentliche Integral

Baf(x)dx=limbBbaf(x)dx,

falls der Grenzwert existiert.

Wie folgende Übung zeigt, steht diese Notation nicht im Widerspruch zum Riemann-Integral.

Übung 8.50: Kompatibilität

Sei f:[a,B)C wie oben. Angenommen f ist beschränkt. Zeigen Sie, dass das uneigentliche Integral Baf(x)dx existiert und gleich dem Riemann-Integral Baf(x)dx ist, wobei man f auf beliebige Weise auf den Punkt B erweitert.

Für [latex]A

bAf(x)dx=limaAbaf(x)dx.

Beispiel 8.51

Wir berechnen 10log(x)dx mittels

10log(x)dx=lima01alog(x)dx=lima0[xlog(x)x]1a=lima0(log(1)1alog(a)+a)=1

nach Beispiel 8.15 und Beispiel 5.76.

Weitere uneigentliche Integrale führen wir mittels Intervalladditivität auf obige uneigentliche Integrale zurück. Wir überlassen es Interessierten, sich hier einige Möglichkeiten auszudenken, und führen stattdessen ein Beispiel vor.

Beispiel 8.52

Wir betrachten das Integral 111xdx. Dieses ist uneigentlich, da x1x auf jeder Umgebung von 0 unbeschränkt ist. Es gilt daher auf Grund der Definition in diesem Fall, dass

111xdx=011xdx+101xdx,

wobei beide Integrale rechts uneigentlich sind und das uneigentliche Integral 111xdx per Definition genau dann existiert, wenn die beiden Integrale rechts existieren. Des Weiteren gilt

011xdx=limb0b11xdx=limb0log|b|log|1|=limb0log|b|=101xdx=lima01a1xdx=lima0log(1)log(a)=+,

wodurch 111xdx nicht existiert (und wir diesem auch nicht das Symbol oder zuweisen).

Beispiel 8.53: Bogenlänge des Kreises

Wir wollen nochmals die Bogenlänge des Kreises berechnen. Doch verwenden wir diesmal die Gleichung y=f(x)=1x2 als Definition des oberen Halbkreises. Die Bogenlänge des Kreises ist demnach gegeben durch das Integral

2111+f(x)2dx=4101+x21x2dx=4limb1b011x2dx=4limb1arcsin(b)0=4π2=2π.

Übung 8.54

Berechnen Sie 101xdx und π20tan(x)dx.

Übung 8.55: Absolute Konvergenz

Sei aR und f:[a,)C eine komplexwertige Funktion mit fR([a,b]) für alle b>a. Wir nennen das uneigentliche Integral af(x)dx absolut konvergent, falls a|f(x)|dx konvergent ist. Zeigen Sie, dass absolute Konvergenz des uneigentlichen Integrals af(x)dx auch die Konvergenz dieses Integrals impliziert.

Bemerkung

Zusammenfassend haben wir bei den Definitionen in diesem Abschnitt bei jedem Problempunkt eines möglichen Riemann-Integrals einen Grenzwert verwendet, um den Integralbegriff zu erweiteren. Dies wirft nochmals die Frage auf, ob es nicht vielleicht einen Integralbegriff gibt, der diese und auch andere bereits erwähnte Probleme des Riemann-Integrals auf natürliche Art und Weise löst. Diese Frage wird im zweiten Studienjahr des Mathematikstudiums mit der Theorie des Lebesgue-Integrals in der Vorlesung «Mass und Integral» positiv beantwortet.

8.4.3 – Die Gamma-Funktion*

Die Gamma-Funktion Γ ist bei s(0,) durch das konvergente uneigentliche Integral
Γ(s)=0xs1exdx
definiert. Für s(0,1) ist dies aus zwei Gründen ein uneigentliches Integral und wir müssen die Integrationsgrenzen A=0 und B= getrennt untersuchen. Für a>0 und b>a gilt jedoch

baxs1exdx=1s[xsex]ba+1sbaxsexdx.

Wir setzen b=1 und erhalten

10xs1exdx=lima0(1s[xsex]1a+1s1axsexdx)=1se+1s10xsexdx,

wobei das Integral rechts (für alle s(0,)) ein eigentliches Riemann-Integral darstellt. Für a=1 erhalten wir

1xs1exdx=limb(1s[xsex]b1+1sb1xsexdx)=1se+1s1xsexdx.

Um die Konvergenz von 1xsexdx zu zeigen, wollen wir den Integraltest für Reihen in Satz 8.46 verwenden. Die erste Vorraussetzung des Integraltests ist erfüllt, da die Funktion f(x)=xsex nichtnegativ ist. Die zweite Vorraussetzung ist, dass f(x) monoton abnehmend sein soll. Wir berechnen daher die Ableitung und sehen, dass

f(x)=sxs1exxsex.

Da f(x)s, sehen wir, dass diese Vorraussetzung zumindest für xN=s+1 erfüllt ist. Es folgt daher, dass das Integral Nxsexdx genau dann konvergiert wenn

\begin{aligned}[]\sum _{n=N}^\infty n^{s}\mathrm {e}^{-n}

konvergiert, was aber nach dem Quotientenkriterium in Korollar 6.32 (oder dem Wurzelkriterium in Korollar 6.30) für Reihen in der Tat zutrifft.

Addieren wir die beiden Integrale wieder und verwenden wir die Definition in (8.8) so erhalten wir, dass Γ(s) für alle s(0,) wohldefiniert ist und
Γ(s+1)=sΓ(s)
erfüllt.

Oft wird die Gamma-Funktion als eine Erweiterung der Fakultätsfunktion auf N bezeichnet. In der Tat gilt für alle nN

Γ(n+1)=n! ,

was wir hier noch beweisen möchten. Für n=0 gilt

Γ(1)=0exdx=limb[ex]b0=1

und somit folgt nach (8.9) und Induktion

Γ(n+1)=nΓ(n)=n(n1)Γ(n1)==n! Γ(1)=n! .

Wir werden in der Fortsetzung dieser Vorlesung weitere Eigenschaften der Gamma-Funktion nachweisen können. Beispielsweise stellt sich heraus, dass die Gamma-Funktion glatt ist. Wir können dies hier aber nicht zeigen, da Γ in (8.8) durch ein sogenanntes Parameterintegral definiert ist. Auch können wir den Wert

Γ(12)=01xexdx=limε0limbbε1xexdx=limε0limb2bεeu2du=20eu2du=eu2du

mit den uns bis jetzt bekannten Integrationsmethoden nicht berechnen, werden jedoch später mittels einem zweidimensionalen Integral sehen, dass dieser π ist.

Die Gamma-Funktion enthüllt ihre wahre Schönheit erst wenn man komplexe Parameter zC{0,1,2,} erlaubt. Wir laden Interessierte ein, diese Funktion in folgender Übung zu konstruieren.

Übung 8.56: Challenge

Für zC mit (z)>0 definiert man
Γ(z)=0xz1exdx.

(a) Zeigen Sie, dass 10xz1exdx für alle zC mit (z)>0 konvergiert.

(b) Zeigen Sie, dass 1xz1exdx für alle zC mit (z)>0 konvergiert.

(c) Zeigen Sie (8.9) für alle zC mit (z)>0.

(d) Verwenden Sie (8.9) um rekursiv Γ(z) für zC{0,1,2,} mit (z)>1, oder (z)>2, …, zu definieren, so dass anschliessend Γ(z) für alle zC{0,1,2,} definiert ist und (8.9) auf dem ganzen Definitionsbereich erfüllt.

Hinweis: Sie können in (a) und (b) Übung 8.55 verwenden.

Hilbert (1862–1943) verwendete in seinem Artikel [2]von 1893 uneigentliche Integrale im Stile der Gamma-Funktion, um zu beweisen, dass e (wie erstmals von Hermite in 1873 bewiesen) und π (wie erstmals von Lindemann 1882 bewiesen) transzendent sind. Wir bemerken dabei, dass sich die blosse Irrationalität dieser Zahlen deutlich einfacher beweisen lässt — für e gibt es hierzu eine Übung in Abschnitt 6.9.2 und für π eine Übung in Abschnitt 8.8.2. Transzendenzbeweise sind jedoch im Allgemeinen deutlich schwieriger. Wie schwierige derartige Aussagen tatsächlich sind, illustriert vielleicht die Tatsache, dass immer noch nicht bekannt ist, ob e+π eine transzendente Zahl ist oder nicht. Hilbert’s Beweis der Transzendenz von e und π ist mit den uns bisher bekannten Hilfsmitteln allerdings gut lesbar, weswegen wir Ihnen einen Blick auf diese Lektüre und die damit verbundene Zeitreise empfehlen möchten.

8.5 – Taylor Approximation

Wir erinnern daran, dass die Ableitung f(x0) einer reellwertigen differenzierbaren Funktion f auf einem Intervall die Steigung der Tangente

y(x)=f(x0)+f(x0)(xx0)

des Graphen von f bei x0 angibt, wobei die Tangente den Graphen gut approximiert (im Sinne von f(x)=y(x)+o(xx0) für xx0). Wir wollen hier die Güte der Approximation erhöhen indem wir statt linearen Approximationen auch noch höhere polynomiale Approximationen erlauben.

Sei also f:(a,b)C eine n-mal differenzierbare Funktion auf einem offenen, nicht-leeren (möglicherweise unbeschränkten) Intervall (a,b)R. Die n-te Taylor-Approximation von f um einen Punkt x0(a,b) ist das Polynom

Pfx0,n(x)=nk=0f(k)(x0)k!(xx0)k.

Die Koeffizienten wurden dabei so gewählt, dass Pfx0,n(x0)=f(x0) und allgemeiner

(Pfx0,n)(k)(x0)=f(k)(x0)

für k{0,,n} gilt (wieso?). Die vielleicht naive Hoffnung ist hierbei, dass die Taylor-Approximation, wie der Name sagt, die Funktion f approximiert. Falls f glatt ist, dann ist die Taylorreihe von f um x0(a,b) definiert als die Potenzreihe

Tfx0(x)=k=0f(k)(x0)k!(xx0)k.

Damit wir hier von einer Potenzreihe sprechen dürfen, erweitern wir die Definition 6.54 wie folgt. Eine Potenzreihe um einen Punkt z0C in der Variable zC ist ein formaler Ausdruck der Form n=0an(zz0)n, wobei anC für alle nN die Koeffizienten der Potenzreihe sind. Der Konvergenzradius

R=(lim supnn|an|)1

ist wie in Abschnitt 6.4.1 definiert und die Potenzreihe n=0an(zz0)n konvergiert für alle zC mit Abstand kleiner R von z0 und divergiert für alle zC mit |zz0|>R (was aus Satz 6.56 folgt, wie?).

Soweit ist nicht klar, was der Konvergenzradius der Taylor-Reihe einer glatten Funktion f um einen Punkt x0 im Definitionsbereich ist und ob er positiv ist. Die naive Hoffnung ist, dass die Taylor-Reihe, wo definiert, gleich der Funktion f ist, da die Taylorreihe bei x0 die gleichen Ableitungen wie f hat. Dies ist in der Tat für viele Funktionen der Fall, doch, wie folgendes Beispiel zeigt, nicht immer.

Beispiel 8.57: Verschwindende Taylorreihe

Wir betrachten die Funktion

ψ:xR{exp(1x)falls x>00falls x0,

die nach Beispiel 7.23 glatt ist und ψ(n)(0)=0 für alle nN0 erfüllt. Wir zeigen, dass sich ψ nicht durch eine Potenzreihe um 0 darstellen lässt.

Wir nehmen also indirekt an, dass es eine Potenzreihe f(x)=n=0cnxn mit reellen Koeffizienten und Konvergenzradius R>0 gibt, so dass f(x)=ψ(x) für alle x(R,R). Nach Korollar 8.11 (oder genauer Übung 8.12) ist f(n)(0)=cnn!. Aber da f(x)=ψ(x) für alle x(R,R) angenommen wurde und da Ableiten eine lokale Operation ist, schliessen wir, dass f(n)(0)=0 und somit cn=0 für alle nN0. Dies widerspricht jedoch ψ(x)>0 für alle x>0. Also kann ψ in keiner Umgebung von 0 durch eine Potenzreihe dargestellt werden.

Folgender Satz liefert nun einen direkten Vergleich zwischen einer Funktion und ihrer Taylor-Approximationen. Er impliziert für viele Funktionen, dass sie mit ihrer Taylorreihe übereinstimmen.

Theorem 8.58: Taylor-Approximation

Sei (a,b)R ein offenes, nicht-leeres Intervall und sei f:(a,b)C eine (n+1)-mal stetig differenzierbare Funktion. Sei x0(a,b). Dann gilt für alle x(a,b)

f(x)=Pfx0,n(x)+Rfx0,n(x),

wobei Pfx0,n die n-te Taylor-Approximation ist und wir den Fehlerterm Rfx0,n durch das sogenannte Integral-Restglied

x(a,b)Rfx0,n(x)=xx0f(n+1)(t)(xt)nn!dt

darstellen können. Dies gilt auch für Funktionen auf [x0,b) und Punkte x[x0,b) (beziehungsweise (a,x0] und x(a,x0]).

Die Annahme im Theorem, dass f eine (n+1)-mal stetig differenzierbare Funktion ist, ist essentiell für obige Formulierung. In der Tat ist damit f(n+1) eine stetige Funktion und das Integral der stetigen Funktion tf(n+1)(t)(xt)nn! im Integral-Restglied existiert.

Beweis von Satz 8.58

Das Theorem ergibt sich mit Induktion über n und partieller Integration (die ebenso für komplexwertige Funktionen auf (a,b) gilt, wieso?). Ist n=0 und f:(a,b)R stetig differenzierbar, so gilt nach dem Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung (genauer Korollar 8.5)

f(x)=f(x0)+xx0f(t)dt=Pfx0,0(x)+Rfx0,0(x).

Ist f nun zweimal stetig differenzierbar (also n=1), so können wir auf obiges Integral partielle Integration mit u(t)=f(t) und v(t)=tx anwenden und erhalten

f(x)=f(x0)+[f(t)(tx)]t=xt=x0xx0f(t)(tx)dt=f(x0)+f(x0)(xx0)+xx0f(t)(xt)11!dt=Pfx0,1(x)+Rfx0,1(x).

Wir sehen also wie sich ausgehend vom Fundamentalsatz mittels partieller Integration der nächste Fall des Satzes ergibt.

Angenommen die Aussage des Satzes stimmt für n10 und sei f:(a,b)R eine (n+1)-mal stetig differenzierbare Funktion. Dann gilt auf Grund der Induktionsvorraussetzung

f(x)=n1k=0f(k)(x0)k!(xx0)k+xx0f(n)(t)(xt)n1(n1)!dt

für alle x(a,b).

Wir setzen u(t)=f(n)(t) und v(t)=(xt)nn!, bemerken v(t)=(xt)n1(n1)! und wenden partielle Integration an, um

f(x)=n1k=0f(k)(x0)k!(xx0)k[f(n)(t)(xt)nn!]t=xt=x0+xx0f(n+1)(t)(xt)nn!dt=nk=0f(k)(x0)k!(xx0)k+xx0f(n+1)(t)(xt)nn!dt

zu erhalten. Dies beweist den Induktionsschritt und damit den Satz. ∎

Oft werden wir das Theorem von Taylor (Theorem 8.58) in folgender Form verwenden.

Korollar 8.59: Taylor-Abschätzung

Sei (a,b)R ein offenes, nicht-leeres Intervall, sei f:(a,b)C eine (n+1)-mal stetig differenzierbare Funktion und seien x0,x(a,b) zwei Punkte. Wir setzen Mn+1=max{|f(n+1)(t)|t zwischen x0 und x}. Dann gilt

|f(x)Pfx0,n(x)|=|Rfx0,n(x)|Mn+1|xx0|n+1(n+1)!.

Insbesondere ist f(x)=Pfx0,n(x)+O((xx0)n+1) für xx0.

Beweis

Angenommen xx0. Dann gilt

|Rfx0,n(x)|xx0|f(n+1)(t)|(xt)nn!dtMn+1n!xx0(xt)ndt=Mn+1n![1n+1(xt)n+1]xx0=Mn+1(xx0)n+1(n+1)!.

Der Beweis für [latex]x

|Rfx0,n(x)|=|xx0f(n+1)(t)(xt)nn!dt|x0x|f(n+1)(t)|(tx)nn!dt.

Bemerkung

Wir hätten andere Versionen des obigen Satz zu Taylor-Approximationen bereits in Abschnitt 7.2 für reellwertige Funktionen beweisen können. Dies sogar unter der etwas schwächeren Annahme an die (n+1)-te Ableitung, dass diese bloss zwischen x0 und x existieren soll und nicht unbedingt stetig sein muss. Unter dieser Voraussetzung gibt es ein ξC zwischen x0 und x, so dass das sogenannte Restglied nach Cauchy durch

Rfx0,n(x)=1n!f(n+1)(ξC)(xξC)n(xx0)

gegeben ist. Es gibt unter denselben Voraussetzungen auch ein ξL zwischen x0 und x, so dass das Restglied nach Lagrange durch

Rfx0,n(x)=1(n+1)!f(n+1)(ξL)(xx0)n+1

gegeben ist. Wir verweisen dafür auf folgende Übung.

Übung 8.60: Andere Formeln für das Restglied

Gegeben sei ein nicht-leeres Intervall (a,b)R, Zahlen x,x0(a,b) und eine (n+1)-mal differenzierbare Funktion f:(a,b)R.

  1. Zeigen Sie, dass die Ableitung der Funktion
    F:t(a,b)nk=0f(k)(t)k!(xt)k,

    durch t(a,b)f(n+1)(t)n!(xt)n gegeben ist.

  2. Wenden Sie den Mittelwertsatz (Theorem 7.29) auf die obige Funktion F an, um die Formel Rfx0,n(x)=1n!f(n+1)(ξC)(xξC)n(xx0) für das Restglied nach Cauchy zu beweisen.
  3. Verwenden Sie den verallgemeinerten Mittelwertsatz (Satz 7.48) für obiges F und die Funktion g:t(xt)n+1, um die Formel Rfx0,n(x)=1(n+1)!f(n+1)(ξL)(xx0)n+1 für das Restglied nach Lagrange zu beweisen.

Beispiel 8.61: Extremwerte

Wir wollen die Taylor-Approximation verwenden um die Diskussion in Abschnitt 7.1.3 und Korollar 7.37 zu verfeinern. Sei (a,b)R ein offenes, nicht-leeres Intervall und sei f:(a,b)C eine n-mal stetig differenzierbare Funktion. Angenommen x0(a,b) erfüllt

f(x0)==f(n1)(x0)=0.

Dann gelten folgende Implikationen.

  • Falls [latex]f^{(n)}(x_0)
  • Falls f(n)(x0)>0 ist und n gerade ist, so nimmt f in x0 ein lokales Minimum an.
  • Falls f(n)(x0)0 und n ungerade ist, so ist x0 kein lokales Extremum von f.

Alle drei Aussagen folgen aus der Taylor-Approximation in Theorem 8.58, die in diesem Fall für x(a,b) die Form

f(x)=f(x0)+xx0f(n)(t)(xt)n1(n1)!dt

annimmt. Falls f(n)(x0)>0 ist, existiert ein δ>0 mit f(n)(t)>0 für alle t(x0δ,x0+δ). Wir betrachten nun mehrere Fälle. Ist x(x0,x0+δ), so ist obiges Integral positiv und damit f(x)>f(x0). Ist x(x0δ,x0) und n1 gerade, so ist obiges Integral (auf Grund der umgekehrten Reihenfolge der Integrationsgrenzen) negativ, womit [latex]f(x)f(x_0)[/latex], womit f ein lokales Minimum in x0 annimmt. Für [latex]f^{(n)}(x_0)

8.5.1 – Analytische Funktionen

Applet 8.62: Taylor-Approximationen

Wir stellen einige Taylor-Approximationen bei verschiebbaren Fusspunkten zu bekannten Funktionen dar.

Betrachtet man eine glatte Funktion f in Theorem 8.58, für die der Wert der Ableitung von f nicht zu wild wird für hohe Ableitungen, dann geht das Restglied zu einem fest gewählten x für n gegen Null und die Funktion f wird durch ihre Taylorreihe beschrieben. Wie bereits gesehen, muss dies jedoch nicht unbedingt der Fall sein. Eine mögliche Abschätzung, die ausreichen würde, ist

maxt[x0,x]|f(n+1)(t)|cAn

für alle nN und zwei Konstanten c,A1. Eine Abschätzung dieser Art findet man beispielsweise für exp,sin,cos und Kombinationen dieser Funktionen.

Übung 8.63

Sei [a,b]R ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]a

  1. Sei f:[a,b]R ein Polynom oder eine der Funktionen exp,sin,cos. Zeigen Sie, dass Konstanten c,A1 mit
    maxt[a,b]|f(n+1)(t)|cAn
    existieren.
  2. Zeigen Sie, dass falls f,g:[a,b]R Funktionen mit der Eigenschaft (8.11) auch f+g und fg diese Eigenschaften besitzen.

Eine Funktion, die sich um jeden Punkt im Definitionsbereich als Potenzreihe darstellen lässt, nennen wir analytisch. Genauer sei (a,b)R ein offenes, nicht-leeres Intervall und f:(a,b)C eine glatte Funktion. Die Funktion f heisst analytisch, falls die Taylorreihe von f um jeden Punkt in x0(a,b) positiven Konvergenzradius R hat und auf (x0R,x0+R)(a,b) mit f übereinstimmt.

Wir wollen ein weiteres Beispiel, wo sich eine glatte Funktion mit ihrer Taylorreihe vergleichen lässt, Interessierten als Übung überlassen (vergleichen Sie dies mit Übung 8.14).

Übung 8.64

Sei αC. Zeigen Sie, dass

(1+x)α=n=0(αn)xn

für alle x(1,1), wobei für nN0

(αn)=1n!n1k=0(αk)=α(α1)(αn+1)n!.

Hinweis.

Sei f:x(1,1)(1+x)α. Berechnen Sie zuerst f(n) für alle nN und geben Sie die Taylorreihe von f um Null an. Zeigen Sie dann, dass das Restglied «klein» wird.

Bemerkung

Analytische Funktionen haben im Zusammenhang mit «holomorphen Funktionen» auf offenen Teilmengen von C nach C eine schöne, geschlossene Behandlung, die in der Vorlesung «Funktionentheorie» im zweiten Studienjahr thematisiert wird. Der komplexe Blickwinkel erklärt zum Beispiel, warum die analytische Funktion xR11+x2 bei x0=0 eine Taylorreihe mit Konvergenzradius 1 besitzt, obwohl die Funktion auf ganz R definiert ist.

8.5.2 – Konvergenzgeschwindigkeit des Newton-Verfahrens*

Als Anwendung des Satzes von Taylor (Theorem 8.58) möchten wir in diesem Teilabschnitt das Newton-Verfahren zur approximativen Berechnung einer Nullstelle einer gegebenen Funktion diskutieren. Weitere Anwendung werden in den nächsten Abschnitten dieses Kapitels folgen.

Beispiel 8.65

Sei [a,b]R ein kompaktes Intervall mit Endpunkten [latex]a0[/latex] für alle x[a,b]. (Wir erinnern daran, dass dies im Allgemeinen nicht dasselbe wie strenge Monotonie von f ist, aber strenge Monotonie impliziert.) Angenommen es gilt f(a)0. Dann gibt es auf Grund des Zwischenwertsatzes (Satz 3.59) ein z[a,b] mit f(z)=0, das wegen der strengen Monotonie von f eindeutig bestimmt ist. Beginnend mit einem gewählten Punkt x0[a,b] definieren wir rekursiv
xn+1=xnf(xn)f(xn)
für alle nN0 (falls xn[a,b]). Die Idee hinter diesem Verfahren möchten wir in folgendem Bild erklären.

image

Abbildung 8.2 – In einem ersten Schritt approximiert man f mit der Tangenten g0:tf(x0)+f(x0)(tx0) bei x0. Von dieser berechnet man nun die eindeutige Nullstelle x1=x0f(x0)f(x0). In einem zweiten Schritt verwendet man nun diesen neuen Punkt x1 und berechnet die eindeutige Nullstelle x2 der Tangenten g1 bei x1. Dies führt man iterativ so fort.

Falls die Folge (xn)n definiert ist (das heisst, xn[a,b] für alle nN) und konvergiert, dann ist ihr Grenzwert eine Nullstelle von f und somit unter unseren Annahmen gleich der Nullstelle z. In der Tat gilt für z=limnxn

z=limnxn=limnxn+1=limn(xnf(xn)f(xn))=zf(z)f(z)

und somit f(z)=0 und z=z.

Das Konvergenzverhalten der Folge (xn)n ist im Allgemeinen «sehr chaotisch» . Unter etwas stärkeren Annahmen möchten wir nun aber zeigen, dass die Folge (xn)n konvergiert und die Konvergenzgeschwindigkeit untersuchen.

Wir nehmen zusätzlich an, dass f zweimal stetig differenzierbar ist und definieren

M=max{|f(t)|t[a,b]}m=min{|f(t)|t[a,b]}.

Nun wenden wir Korollar 8.59 an, um den Fehlerterm Rfx0,1 bei der Approximation von f durch die Tangente um x0 abzuschätzen. Bei der Nullstelle z ergibt dies
|Rfx0,1(z)|M|zx0|22
Des Weiteren gilt per Definition
0=f(z)=f(x0)+f(x0)(zx0)+Rfx0,1(z).
Wir dividieren Gleichung (8.14) durch f(x0) und erhalten

0=z(x0f(x0)f(x0))=x1+Rfx0,1(z)f(x0).

Mit der Abschätzung (8.13) ergibt dies
|x1z|=|Rfx0,1(z)f(x0)|M2m|x0z|2
Falls nun ε(0,mM) klein genug ist, so dass Bε(z)[a,b] gilt, und falls x0Bε(z) ist, dann folgt aus (8.15), dass

\begin{aligned}[]|x_1-z| \leq \tfrac {M}{2m}\,  |x_0-z|^2 \leq \tfrac {M}{2m}\,  |x_0-z|\varepsilon \leq \tfrac {1}{2} |x_0-z|

Daher liegt x1 auch in [a,b] und ist bereits näher an z als x0. Komplett analog beweist man, dass für alle nN0

|xn+1z|12|xnz|

gilt, was mit vollständiger Induktion auch

|xnz|2n|x0z|

für alle nN0 zeigt. Insbesondere konvergiert die Folge (xn)n und wir können das Newton-Verfahren (unter geeigneter Wahl eines Startpunktes x0) verwenden, um die Nullstelle mit hoher Genauigkeit zu approximieren. Die Konvergenz ist noch schneller als diese Abschätzung beweist; man spricht von quadratischer Konvergenz.

Übung 8.66: Quadratische Konvergenz

Wir möchten die Konvergenzgeschwindigkeit des Newton-Verfahrens hier genauer analysieren. In obigem Beispiel wurde gezeigt, dass sich der Fehler in jedem Schritt mindestens halbiert. Wir betrachten nun das Argument etwas genauer (und behalten dementsprechend die Notation). Sei β=M2m. Zeigen Sie für den mit β gewichteten Abstand β|xnz| die Abschätzung

β|xnz|(β|x0z|)2n

für jedes nN gilt.

Übung 8.67

Verwenden Sie das Newton-Verfahren, um 2 (oder alternativ eine andere irrationale, reelle algebraische Zahl) auf drei Dezimalstellen genau zu berechnen. Für die genaue, numerische Berechnung des Resultats dürfen Sie einen Rechner oder ein Computer-Programm benutzen.

8.6 – Numerische Integration

Wie bereits erwähnt wurde, gibt es Integrale, die sich nicht in Ausdrücken der üblichen (den uns bisher bekannten) Funktionen darstellen lassen. Besonderes in diesen Fällen sind folgende Abschätzungen zur approximativen Berechnung von Integralen sehr nützlich. Im nächsten Abschnitt werden wir weitere Beispiele sehen, die die zugrundeliegende Idee des folgenden Satzes in anderen Überlegungen gewinnbringend einsetzen.

Satz 8.68

Seien [latex]a

  1. (Rechtecksregel*) Falls f stetig differenzierbar ist, dann gilt
    baf(x)dx=h(f(x0)++f(xn1))+F1,

    wobei der Fehler F1 durch |F1|(ba)22nmaxx[a,b]|f(x)| beschränkt ist.

  2. (Sehnentrapezregel) Falls f zweimal stetig differenzierbar ist, dann gilt
    baf(x)dx=h(f(x0)+f(x1)2++f(xn1)+f(xn)2)+F2=h2(f(x0)+2f(x1)++2f(xn1)+f(xn))+F2,

    wobei der Fehler F2 durch |F2|(ba)36n2maxx[a,b]|f(x)| beschränkt ist.

  3. (Simpson-Regel*) Falls f viermal stetig differenzierbar ist und n gerade ist, dann gilt
    baf(x)dx=h3(f(x0)+4f(x1)+2f(x2)+4f(x3)+2f(x4)++2f(xn2)+4f(xn1)+f(xn))+F3,

    wobei der Fehler F3 durch |F3|(ba)545n4maxx[a,b]|f(4)(x)| beschränkt ist.

*Wir haben zwar die Simpson-Regel ausführlicher besprochen. Doch in Hinblick auf eine mögliche Testfrage eignet sich die Sehnentrapezregel, wo bereits alle Ideen im Beweis auftauchen, besser.

Insbesondere verhält sich der Fehler für das Rechtecksverfahren wie Of(n1) für n, für das Sehnentrapezverfahren wie Of(n2) für n und für das Simpson-Verfahren wie Of(n4) für n.

Wir möchten anmerken, dass die Konstanten in obigen Abschätzungen nicht optimal sind. Alle drei obigen Approximationsverfahren sind sogenannte Newton-Cotes-Verfahren. Die wesentliche Idee eines solchen Verfahrens ist die folgende: zuerst schreibt man nach Intervalladditivität

baf(x)=n1=0x+1xf(x)dx.

Nun approximiert man jedes obige Integralstück x+1xf(x)dx durch einen Ausdruck der Form Kk=1wkf(zk) für Gewichte w1,,wK(0,1) mit Kk=1wk=1 und Stützpunkte z1,,zK[x,x+1]. Beispielsweise nimmt man für die Sehnentrapezregel zwei Stützpunkte (K=2), nämlich die beiden Endpunkte des Intervalls [x,x+1], mit den Gewichten w1=w2=12.

Die Summe der Fehler, die auf den Stücken x+1xf(x)dx zustandekommen, ergeben dann den Gesamtfehler der Approximation. Obiger Satz gibt demnach an, wie dieser Fehler kontrolliert werden kann.

Vor dem Beweis des obigen Satzes möchten wir kurz erklären, wie sich die Simpson-Regel als Newton-Cotes-Verfahren auffassen lässt. Für die äquidistante Zerlegung des Intervalles [a,b] mit den Punkten y=a+bam für =0,,m betrachtet man auf [y,y+1] die Gewichte w1=16, w2=46 und w3=16 und die Stützpunkte y, y+y+12 und y+1. Das dazugehörige Newton-Cotes-Verfahren ist genau das Simpson-Verfahren (wieso?). Wir wenden uns nun dem Beweis des obigen Satzes zu.

Beweis

Für (a) verwenden wir den Mittelwertsatz, wonach es zu {0,,n1} und x[x,x+1] ein ξx(x,x+1) gibt mit f(x)f(x)=f(ξx)(xx). Insbesondere gilt

|f(x)f(x)|=|f(ξx)|(xx)(xx)maxt[a,b]|f(t)|.

Damit erhalten wir

|x+1xf(x)dxf(x)h|x+1x|f(x)f(x)|dxmaxt[a,b]|f(t)|x+1x(xx)dxh22maxt[a,b]|f(t)|.

Durch Summation, Intervalladditivität des Integrals und die Dreiecksungleichung erhalten wir

|baf(x)dxn1=0f(x)h|nh22maxt[a,b]|f(t)|=(ba)22nmaxt[a,b]|f(t)|.

Für (b) betrachten wir zuerst zu {0,,n1} die Endpunkte x=x und x+=x+1 und den Mittelpunkt ˜x=x+x+2 des Intervalls [x,x+]. Des Weiteren definieren wir den Wert M2=maxx[a,b]|f(x)|. Nach Korollar 8.59 gilt für die Approximation durch das erste Taylor-Polynom um ˜x

|f(t)(f(˜x)+f(˜x)(t˜x))|M22! |t˜x|2M22(h2)2M28h2

für alle t[x,x+]. Wir verwenden dies für die Endpunkte t=x und t=x+ des Intervalls [x,x+] und erhalten aus der Dreiecksungleichung

|f(x)+f(x+)2f(˜x)|=12|(f(x)f(˜x)f(˜x)(x˜x))+(f(x+)f(˜x)f(˜x)(x+˜x))|M2h28,

da sich der lineare Term wegen x˜x=(x+˜x) aufhebt.

Aus demselben Grund erhalten wir

|x+xf(t)dtf(˜x)h|=|x+x(f(t)f(˜x))dt|=|x+x(f(t)(f(˜x)+f(˜x)(t˜x)))dt|M22x+x(t˜x)2dt=M22h2h2s2ds=M2h338

Zusammenfassend gilt also für {0,,n1} und ˜x=x+x+12
|f(˜x)f(x1)+f(x)2|M2h28|xx1f(t)dtf(˜x)h|M2h338
Wir multiplizieren (8.16) mit h und summieren sowohl (8.16) als auch () über in {1,,n}. Daraus folgt mit Intervalladditivität des Riemann-Integrals

|baf(x)dxhn=1f(x1)+f(x)2|n(M2h38+M2h338)=(ba)3M26n2.

Für (c) betrachten wir wieder zuerst zu k{0,,n21} die Endpunkte x=x2k und x+=x2k+2 und den Mittelpunkt ˜x=x2k+1 des Intervalls [x,x+] und verwenden Korollar 8.59 bei ˜x. Dies ergibt für t[x,x+]
|f(t)(f(˜x)+f(˜x)(t˜x)+f(˜x)2(t˜x)2+f(˜x)6(t˜x)3)|M4(t˜x)44!M4h44!,
wobei M4=maxx[a,b]|f(4)(x)|. Durch Integration über [x,x+] erhalten wir

|x+xf(t)dt(2hf(˜x)+f(˜x)2hhs2ds)|M44!hhs4ds

oder auch

|x+xf(t)dt(2hf(˜x)+f(˜x)3h3)|M4h560

Setzen wir t=x und t=x+ in Gleichung (8.17), so erhalten wir

h3|(f(x)+f(x+))(2f(˜x)+f(˜x)h2)|h2M4h4324=M4h536,

da sich die linearen und kubischen Terme gegenseitig aufheben. Daher gilt

|x+xf(t)dth3(f(x)+4f(˜x)+f(x+))|=|x+xf(t)dth3(6f(˜x)+f(˜x)h2)+h3(2f(˜x)+f(˜x)h2)h3(f(x)+f(x+))|160M4h5+136M4h5=245M4h5.

Nach Summation über k{0,,n21} ergibt sich die Folge 1,4,2,4,2,,2,4,1 der Gewichte für die Funktionswerte in der Simpson-Regel wie im Satz und die Abschätzung genau wie im Beweis von (b) oben. ∎

Übung 8.69

Erklären Sie unter Verwendung der Simpson-Regel, wie man π=41011+x2dx auf beliebig viele Dezimalstellen genau bestimmen kann.

8.6.1 – Landau-Notation II

Wie in obigem Beweis der Simpson-Regel ersichtlich wurde, ist das genaue Buchführen der Konstanten relativ anstrengend und der eigentliche Wert, den man zum Schluss erhält, steckt nicht so sehr in der konkreten Konstante sondern in den anderen Ausdrücken. Wir möchten nun deswegen ein weiteres Stück Notation einführen, welche uns erlaubt bei Abschätzungen unsere Denkleistung auf das Wesentliche zu fokussieren.

Sei X eine Menge und seien f,g:XC zwei Funktion. Wir schreiben

f(x)=O(g(x))für xX,

falls eine Konstante C>0 existiert mit |f(x)|C|g(x)| für alle xX.

Die obige Notation kann leicht mit der Landau-Notation aus Abschnitt 5.6 verwirrt werden, weswegen wir uns Mühe geben werden, den Zusatz «für xX» auch immer anzugeben. In einem gewissen Sinne ist die Aussage f(x)=O(g(x)) für x[a,) eine «globale Aussage» , da alle Zahlen x in [a,) betroffen sind. Hingegen ist f(x)=O(g(x)) für x eine «lokale Aussage» , da nur Zahlen x[a,) betroffen sind, die gross genug sind (das heisst nahe genug bei unendlich sind, siehe Abschnitt 5.6).

In gewissen Situation bedeutet die Notation aber dasselbe, wie folgende Übung zeigt.

Übung 8.70

Sei aR und seien f,g:[a,)R zwei stetige Funktionen mit g(x)>0 für alle x[a,). Zeigen Sie, dass die Aussagen

f(x)=O(g(x))für x[a,)f(x)=O(g(x))für x

äquivalent sind.

Die Gross-O-Notation ist per Definition also insbesondere dann nützlich, wenn wir Konstanten «verstecken» wollen. Beispielsweise ist 100!=O(1). Damit die Notation auch in Rechnungen nützlich ist, erlauben wir auch arithmetische Operationen mit ihr (vergleiche auch Abschnitt 5.6): Ist X eine Menge und sind f1,f2,g:XC drei Funktionen, dann bedeutet

f1(x)=f2(x)+O(g(x))für xX,

dass f1(x)f2(x)=O(g(x)) für xX oder intuitiv ausgedrückt, dass die Differenz von f1 und f2 durch g kontrolliert ist. Des Weiteren folgt aus f1=O(g) für xX, auch f1f2=O(gf2) für xX.

Die Gross-O-Notation wird auch dazu verwendet, Unabhängigkeiten von gewissen Parametern zum Ausdruck zu bringen. Wir möchten dies an einem Beispiel illustrieren.

Beispiel 8.71: Parameterabhängigkeit bei Landau-Notation

Sei kN und α(,2].

  1. Nach Taylorapproximation im Sinne von Korollar 8.59 gilt
    |x32(k32+32k12(xk))|12maxt[1,)|34t12|(xk)2=38(xk)2

    für x[1,) . Insbesondere gilt

    x32=k32+32k12(xk)+O((xk)2)für x[1,),

    wobei die in O() versteckte implizite Konstante also nicht vom Parameter k abhängt.

  2. Hängt die implizite Konstante, nicht wie in (a) oben, vom Parameter ab, so indizieren wir den Parameter bei O(). Ein konkretes Beispiel: Wenn α(,2], dann gilt
    xα=1+α(x1)+Oα((x1)2)

    für x[12,) auf Grund der Taylorapproximation in Korollar 8.59.

  3. Auch eine Abhängigkeit des Definitionsbereichs vom Parameter ist denkbar und oft nützlich. Für alle Zahlen t[k12,k+12] gilt (log)(t)=1t2=O(1k2) und daher
    log(t)=log(k)+1k(tk)+O((tk)2k2)=log(k)+1k(tk)+O(1k2)

    auf Grund der Taylorapproximation in Korollar 8.59.

Im Allgemeinen sollte man die Landau-Notation sorgfältig verwenden, da sich hier oft Fehler einschleichen insbesondere bei der Frage der Abhängigkeit der impliziten Konstanten.

8.7 – Drei asymptotische Formeln

8.7.1 – Das Wallissche Produkt

Die Formel
π=limn1n(2nn!)4((2n)!)2
nach John Wallis (1616-1703) wird das Wallissche Produkt genannt.

Um Gleichung (8.18) zu beweisen, wollen wir zuerst für jedes kN0 das Integral

Ik=π0sink(x)dx

mit vollständiger Induktion berechnen.

Für k=0 gilt I0=π und für k=1 gilt I1=π0sin(x)dx=2. Mit partieller Integration erhalten wir für alle k2

Ik=π0sink(x)dx=π0sink1(x)sin(x)dx=[sink1(x)(cos(x))]π0+π0(k1)sink2(x)cos2(x)dx=(k1)π0sink2(x)(1sin2(x))dx=(k1)(Ik2Ik),

woraus sich die Rekursionsformel
Ik=k1kIk2
für jedes ganze k2 ergibt.

Somit ist für nN

I2n=2n12nI2n2=2n12n2n32n212I0=(2n)(2n1)(2n2)1((2n)(2n2)2)2I0=(2n)!(2nn!)2π,

wobei wir den Bruch mit 2n(2n2)2 erweitert haben um im Zähler (2n)! zu erhalten. Auf dieselbe Weise ergibt sich

I2n+1=2n2n+12n22n123I1=((2n)(2n2)2)2(2n+1)(2n)12=(2nn!)2(2n+1)!2.

Die Folge (In)n erfüllt noch eine weitere Eigenschaft: Denn für x[0,π] ist sin(x)[0,1] und somit

sin2n+2(x)sin2n+1(x)sin2n(x)

für alle x[0,π] and nN. Durch Integration folgt die Monotonieungleichung

I2n+2=π0sin2n+2(x)dxI2n+1=π0sin2n+1(x)dxI2n=π0sin2n(x)dx

und mittels (8.19) auch

I2n+2=2n+12n+2(2n)!(2nn!)2πI2n(2nn!)2(2n+1)!2I2n=(2n)!(2nn!)2π.

Wir multiplizieren diese Ungleichungskette mit (2nn!)2(2n)!2n+12n und erhalten

(2n+1)22n(2n+2)π1n(2nn!)4((2n)!)22n+12nπ.

Dies beweist die Formel (8.18) nach Wallis unter Anwendung des Sandwich-Lemmas (Lemma 5.31).

8.7.2 – Stirling-Formel

Wir verwenden nun das Wallissche Produkt und Taylor-Approximationen, um das asymptotische Verhalten von n! zu bestimmen. Genauer formuliert wollen wir die Stirling-Formel
limnn!2πn(ne)n=1
beweisen. Diese ist nach James Stirling (1692-1770) benannt und wird auch als n!2πn(ne)n geschrieben.

Der Grundgedanke für den Beweis von (8.20) ist die Gleichung

log(n!)=log(1)+log(2)++log(n)

für nN genauer zu betrachten, wobei wir die Summe aber durch das Integral n+1212log(x)dx ersetzen wollen, da dieses einfacher zu berechnen ist.

Für kN und t[k12,k+12] gilt nach Beispiel 8.71

log(t)=log(k)+1k(tk)+O(1k2).

Wir erhalten

k+12k12log(t)dt=log(k)+O(1k2)

für alle kN, da sich der lineare Term bei der Integration weglöscht.

Für ein festes nN und die Summe über k{1,,n} folgt daraus

log(n!)=nk=1log(k)=nk=1k+12k12log(t)dt+nk=1O(1k2)=n+1212log(t)dt+nk=1O(1k2)=(n+12)log(n+12)(n+12)c+nk=1O(1k2),

wobei sich die Konstante cR durch Auswerten der Stammfunktion bei der unteren Grenze 12 ergibt. Wiederum nach Taylorapproximation gilt log(n+12)=log(n)+1n12+O(1n2). Wir multiplizieren diese Approximation mit (n+12) und erhalten (mit (n+12)O(1n2)=O(1n)) somit

log(n!)=(n+12)(log(n)+12n+O(1n2))(n+12)c+nk=1O(1k2)=(n+12)log(n)+12+O(1n)n12c+nk=1O(1k2)=12log(n)+nlog(n)n+an

für eine konvergente Folge (an)n in R (wobei wir Proposition 6.28 verwendet haben um die absolut konvergenten Fehlerterme εn=O(1n2) aufzusummieren). Wenden wir die Exponential­abbildung an, so erhalten wir für alle nN
n!=nnnenbn,
wobei bn=exp(an) ist. Da (an)n konvergent ist, ist auch (bn)n konvergent und der Grenzwert B=limnexp(an)=exp(limnan) ist positiv.

Um B zu berechnen, verwenden wir (8.21) gemeinsam mit dem Wallisschen Produkt (8.18). Es gilt

π=limn1n(2nn!)4((2n)!)2=limn1n(2nnnnenbn)4(2n(2n)2ne2nb2n)2=limnb4n2b22n,

da die Potenzen von 2, von n und von e sich jeweils direkt kürzen, und die Wurzelterme gemeinsam mit dem 1n vor dem Bruch sich zu einem 12 vereinfachen. Daraus folgt

π=B42B2=12B2

und somit muss B=2π gelten. Aus Gleichung (8.21) erhalten wir

limnn!n(ne)n=limnbn=2π,

was zur Stirling-Formel (8.20) äquivalent ist.

Auf Grund der Bedeutung von der Fakultätsfunktion, zum Beispiel in kombinatorischen Überlegungen, ist es nicht verwunderlich, dass die Sterling-Formel vielfache Anwendungen besitzt. In den folgenden Übungen wollen wir einige wenige solcher Anwendungen präsentieren.

Übung 8.72: Besuche bei der Irrfahrt auf Z

Wir betrachten eine (diskrete) zufällige Bewegung auf den ganzen Zahlen ausgehend von Null. Also beginnen wir zur Zeit t=0 im Ursprung, hüpfen dann mit Wahrscheinlichkeit 12 entweder nach links auf die Position 1 oder nach rechts auf die Position 1. Bezeichnet im Allgemeinen xtZ die Position zur Zeit tN, so bewegen wir uns auf die Zeit t+1 hin wieder entweder links oder rechts mit gleicher Wahrscheinlichkeit von 12.

Berechnen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass man sich zur Zeit tN bei Null befindet und approximieren Sie diese mit der Stirling-Formel.

Übung 8.73

Eine Münze wird n-mal geworfen. Sei ε>0. Zeigen Sie, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze höchstens (12ε)n-mal auf Kopf fällt, für n gegen Null geht.

Hinweis: Sie dürfen dabei annehmen, dass 2n(nk) die Wahrscheinlichkeit ist, dass bei n-maligem Wurf die Münze k-mal auf Kopf fällt. Zeigen Sie auch, dass die Funktion x(0,1)xlog(x)+(1x)log(1x) ein striktes lokales Maximum bei x=12 hat.

Übung 8.74: Ein Ausblick auf Algorithmik

In dieser Übung wollen wir die worst case Geschwindigkeit eines Sortieralgorithmus abschätzen. Sei also gegeben ein Algorithmus, der zu einem Datensatz a1,,anZ diesen umordnet, das heisst, eine Abbildung j:{1,,n}{1,,n} findet, so dass aj(1)aj(n). Wir interessieren uns nun für die Zahl W(n) der Anzahl Vergleiche zweier Zahlen des Datensatzes, die der Algorithmus schlimmstenfalls durchführen muss, um den Datensatz zu sortieren. Zeigen Sie, dass eine von n unabhängige Konstante C>0 existiert, so dass W(n)Cnlog(n).

Hinweis.

Zählen Sie die Anzahl Datensätze, die mit A Umsortierungen aus einem fixen Datensatz konstruiert werden können.

8.7.3 – Asymptotik der harmonischen Reihe*

Für den Beweis der Stirling-Formel wurde eine Kombination von Taylor-Approximation und Integration verwendet, um das asymptotische Verhalten der Reihe log(n!)=nk=1log(k) zu bestimmen. Diese Methode kann auch allgemeiner zur Untersuchung des Divergenzverhaltens von Reihen eingesetzt werden. Zum Beispiel gilt die «asymptotische Entwicklung»
nk=11k=log(n)+γ+12n+O(1n2)
für n, wobei

γ=1(1x1x)dx=0.577215664901532

die Euler-Mascheroni-Konstante genannt wird.

Übung 8.75

Wir wollen die Asymptotik (8.22) in dieser Übung beweisen.

  1. Beweisen Sie, dass das Integral in der Definition von γ konvergiert und dass die Gleichung
    nk=11k=log(n)+γ+1nn(1x1x)dx

    für alle nN gilt.

  2. Verwenden Sie Taylor-Approximation, um
    • log(m+1)=log(m)+1m12m2+O(1m3)
    • 1mm+1m1tdt=12m2+O(1m3)=12m+1mt2dt+O(1m3)

    für mN zu beweisen.

  3. Verwenden Sie das Integralkriterium (Satz 8.46) um zu zeigen, dass
    m=n1m3=O(1n2)

    für n.

  4. Verbinden Sie die obigen Aussagen zu einem Beweis von (8.22).
  5. Wiederholen Sie Beispiel 6.5 und approximieren Sie mit der Formel (8.22) die notwendige Anzahl Bausteine n für einen Sprungturm, der 10m in den See hinreicht. Vergleichen Sie dies dann zum exakten Resultat n=12367.

8.8 – Weitere Lernmaterialien

8.8.1 – Verwendung des Kapitels

Dieses Kapitel verbindet mit Hilfe des Fundamentalsatz der Analysis die zentralen Begriffe der Ableitung und des Riemann-Integrals. Damit haben wir das vollständige Arsenal an Ableitungsregeln auch für die Berechnung von Integralen verwenden können, womit die Berechnung von Integralen mitunter deutlich einfacher wurde — auch wenn dies zusätzliche Übung erfordert. Umgekehrt haben wir aber auch mit dem Integralrestglied im Satz zur Taylor-Approximation gesehen, dass das Riemann-Integral nützlich sein kann um den Zusammenhang zwischen den Ableitungen und der ursprünglichen Funktion besser zu verstehen. Falls die symbolische Integration sich als nicht machbar erweist, so ist wiederum die Taylor-Approximation nützlich um das Riemann-Integral numerisch — zum Beispiel mit der Simpson-Methode — mit überraschend hoher Genauigkeit zu berechnen. Ebenso ist aber der Satz zur Taylor-Approximation auch von theoretischer Wichtigkeit, da wir mit diesen asymptotische Formeln wie zum Beispiel die Sterling-Formel beweisen können.

Zusammenfassend können wir also sagen, dass dieses Kapitel den Aufbau der eindimensionalen Analysis vollendet. Die Inhalte dieses Kapitels bilden einen zentralen Bestandteil der Analysis I/II Vorlesung und ihrer Anwendungen.

8.8.2 – Übungen

Da die Schwierigkeit beim Integrieren vor allem in der Auswahl der richtigen Methode liegt, wollen wir in folgender Übung noch einige weitere Aufgaben ohne Angabe der richtigen Technik auflisten. Dazu wollen wir noch erwähnen, dass es oft auch mehr als eine Methode gibt, die zum Erfolg führen kann.

Übung

Berechnen Sie die unbestimmten Integrale

1x2+20172dx,1x1+x2dx,exp(3x)dx,11+exp(x)dx,x1+xdx,cos5(x)sin3(x)dx,cos2(x)sin2(x)dx,1cos2(x)sin2(x)dx,log(x)+sin(log(x))x2x3dx,1cos(x)dx

Übung

Zeigen Sie, dass jede stetig differenzierbare Funktion f:[a,b]R auf einem kompakten Intervall [a,b] mit Endpunkten [latex]a 4.8.2) hat und dass V(f)(x)=xa|f(t)|dt gilt für alle x[a,b].

Hinweis.

Gegeben eine Zerlegung [latex]\mathfrak {Z} = \left \lbrace {a = x_0

Übung: Abel-Summation und Partielle Integration

Wir wollen in dieser Übung den Zusammenhang zwischen der Abel-Summation und der partiellen Integration erklären. Sei also [latex]a3.3, um die partielle Integration bauvdx=[uv]babauvdx zu beweisen.

Hinweis.

Erklären Sie zuerst, wieso Sie ohne Beschränkung der Allgemeinheit u(b)=v(a)=0 annehmen können. Sei [latex]\mathfrak {Z} = \left \lbrace {a= x_0

nk=1u(xk)(v(xk)v(xk1))

mit ak=(v(xk)v(xk1)) und bk=u(xk). Verwenden Sie anschliessend den Mittelwertsatz auf v(xk)v(xk1) an und vergleichen Sie die resultierende Summen mit der Riemann-Summen für das Integral bauvdx.

Übung: Ein alternativer Beweis von Proposition 4.30

Wir möchten hier einen Beweis von Proposition 4.30 unter der Annahme, dass f stetig ist, durchführen. Gehen Sie wie folgt vor:

  1. Zeigen Sie, dass die Abbildung F:x[a,b]I(a,x) differenzierbar ist und dass F=f.
  2. Verwenden Sie nun den Fundamentalsatz der Integral- und Differentialrechnung, um auf Proposition 4.30 zu schliessen.

Übung: Volumen einer Vase

Berechnen Sie das Volumen der Vase

{(x,y,z)R3x[π,2π], 0y2+z2sin(x)+2}.

Übung: Gleichmässige Konvergenz der Ableitungen

Sei (fn)n eine Folge stetig differenzierbarer reellwertiger Funktionen auf einem kompakten Intervall [a,b] mit Endpunkten [latex]a

Übung

Wir verwenden obige Übung, um eine glatte Funktion zu konstruieren, deren Taylorreihe um einen Punkt Konvergenzradius Null hat.

  1. Zeigen Sie, dass die Reihe n=0encos(n2x) für alle xR absolut konvergiert.
  2. Nach (i) definieren wir die Funktion
    f:xRn=0encos(n2x).

    Zeigen Sie, dass f glatt ist.

  3. Berechnen Sie die Taylorreihe von f um Null und deren Konvergenzradius.

Übung: Krümmung ebener Kurven

In dieser Übung möchten wir die Krümmung ebener Kurven betrachten. Alle Kurven, die wir dabei betrachten wollen, sollen zweimal differenzierbar, regulär und einfach sein, hier der Einfachheit vorerst inklusive den Endpunkten. Für eine solche Kurve γ:[a,b]R2 und ein pR2 auf der Kurve sei t[a,b] der eindeutige Zeitpunkt mit γ(t)=p. Dann ist die Krümmung von γ bei p definiert als

κγ(p)=˙γ(t),R¨γ(t)˙γ(t)3,

wobei R=(\arraycolsep=0.3\arraycolsep\ensuremath0110). Ist γ einfach, aber erfüllt γ(a)=γ(b), so reicht es anzunehmen, dass ˙γ(a)=˙γ(b) und ¨γ(a)=¨γ(b) gilt, damit obiger Ausdruck für die Krümmung Sinn ergibt.

  1. Berechnen Sie die Krümmung der Kurven t(cos(t),sin(t)) und t(cosh(t),sinh(t)) (definiert auf geeigneten Intervallen).
  2. Zeigen Sie, dass die Krümmung unabhängig ist von der Parametrisierung, das heisst, dass für jede Reparametrisierung γψ einer Kurve γ wie oben gilt κγψ(p)=κγ(p) für alle Punkte p auf der Kurve.

Übung: Existenz von Kurven vorgegebener Krümmung

Wie in vorheriger Übung möchten wir hier die Krümmung ebener Kurven betrachten, aber dabei zulassen, dass die betrachteten Kurven nicht einfach sind, womit für eine reguläre Kurve γ:[a,b]R2 die Krümmung κγ definiert ist als Funktion auf [a,b] via κγ(t)=˙γ(t),R¨γ(t)˙γ(t)3.

Sei nun κ:[a,b]R eine beliebige stetige Funktion auf einem Intervall [a,b] mit Endpunkten [latex]a

θ:[a,b]R2, ssaκ(r)dr

und setzen

γ:[a,b]R2, tta(cos(θ(s)),sin(θ(s))ds.

Zeigen Sie, dass die Komponenten von γ jeweils zweimal stetig differenzierbar ist und dass γ eine reguläre, nach Bogenlänge parametrisierte Kurve ist. Verifizieren Sie anschliessend, dass κγ=κ gilt.

Übung: Irrationalität der Kreiszahl

In dieser Übung möchten wir zeigen, dass π irrational ist, wobei wir dem Beweis von Niven [3]folgen werden.

Per Widerspruch wollen wir annehmen, dass π=ab ist für a,bN. Nun betrachten wir die Polynome

f(x)=xn(abx)nn!,F(x)=f(x)f(2)(x)+f(4)(x)+(1)nf(2n)(x)

für ein nN, welches wir später wählen werden.

  1. Begründen Sie, wieso f, alle Ableitungen von f und F bei 0 und bei π ganzzahlige Werte annehmen. Verifizieren Sie des Weiteren, dass f|[0,π] eine nicht-negative Funktion ist, welche genau bei 0 und π verschwindet.
  2. Zeigen Sie, dass
    (F(x)sin(x)F(x)cos(x))=f(x)sin(x)

    und π0f(x)sin(x)dx=F(π)+F(0).

  3. Schliessen Sie auf einen Widerspruch.

Übung: Summe der Reziproken der Primzahlen

In dieser Übung möchten wir für natürliche Zahlen nN die Summe pP:pn1p betrachten, wobei PN die Menge der Primzahlen bezeichnet. Dabei möchten wir zeigen, dass

pP:pn1plog(log(n))log(C)

für alle n3 und eine Konstante C>1. Insbesondere gibt es unendlich viele Primzahlen (wieso?). Die obige Ungleichung stellt eine (stark) abgeschwächte Version des zweiten Theorems von Mertens (und damit einen Vorreiter des Primzahlsatzes) dar.

  1. Verifizieren Sie für alle nN die Ungleichung
    exp(pP:pn1p)pP:pn(1+1p).
  2. Zeigen Sie für alle nN
    nk=11k(n=112)pP:pn(1+1p)
  3. Schliessen Sie auf die Aussage.

Hinweis.

Für den zweiten Teil können Sie die Existenz und Eindeutigkeit einer Primfaktorzerlegung verwenden, wonach sich insbesondere jede natürliche Zahl zwischen 1 und nN als Produkt einer Quadratzahl mit einer Zahl schreiben lässt, in deren Faktorisierung jede Primzahl nur einmal vorkommt. Für den letzten Teil können Sie Übung 8.47 benutzen.

8.8.3 – Lernkarten

Sie können wiederum die Lernkarten oder den Graphen für Ihre Wiederholung der Themen des Kapitels verwenden.

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  1. Man kann die Sinnhaftigkeit einer Definition zwar hinterfragen, doch kann man eine Definition ohnehin nicht beweisen.
  2. D. Hilbert: Über die Transzendenz der Zahlen e und π (Mathematische Annalen, 1893)
  3. I. Niven: A simple proof that π is irrational (Bull. Amer. Math. Soc., 1947)

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