Wir nehmen im Folgenden immer an, dass M={x∈U∣F(x)=0} eine Teilmannigfaltigkeit innerhalb einer offenen Menge U⊆Rn ist, welche wie im Theorem über den konstanten Rang (Theorem 11.16) als Niveaumenge einer glatten Funktion F:U→R (für einen regulären Wert — hier 0∈Rm) gegeben ist. Um den Anschauungsfaktor und damit auch den Spassfaktor zu maximimieren, setzen wir m=1, n=3 und meist sogar U=R3 fest.
Wir wollen natürliche Differentialgleichungen auf der Teilmannigfaltigkeit M und deren Tangentialbündel TM entwerfen und die daraus resultierenden dynamische Systeme (abstrakt) untersuchen.
B.1 – Vektorfelder und Flüsse auf einer Teilmannigfaltigkeit
Wir wollen nun annehmen, dass ein Vektorfeld f:U→R3 gegeben ist. Dieses Vektorfeld soll die Bewegungsrichtung und Bewegungsgeschwindigkeit eines Punktes angeben. Doch wird für einen vorgegebenen Punkt p∈M weiter noch verlangt, dass der gesuchte Lösungsweg innerhalb von M bleibt. Wie können wir das Anfangswertswertproblem
˙p=f(p)p(0)=p0
so modifizieren, dass der Lösungsweg t↦p(t) in M bleibt und abgesehen davon «so gut wie möglich» noch dem Vektorfeld f folgt?
Die Idee ist hier, einfach f(p) für p∈M durch die Projektion von f(p) auf TpM zu ersetzen. Sei also für p∈U und v∈R3 die orthogonale Projektion Pp durch
definiert. Auf Grund der Wahl von F (0 war ein regulärer Wert auf M) ist dabei ‖∇F(p)‖≠0 für alle p∈M, womit wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit ∇F(p)≠0 für alle p∈U annehmen können. Die Abbildung Pp bildet auf das orthogonale Komplement von ∇F(p) ab, da ⟨Pp(v),∇F(p)⟩=0 für alle p∈M und v∈R3 gilt. Insbesondere ist Pp für p∈M die orthogonale Projektion auf TpM nach Satz 11.21. Wir wollen also anstelle des Anfangswertproblems in (B.1) das Anfangswertproblem
˙p=Pp(f(p))p(0)=p0
betrachten.
Für geeignete Vektorfelder f (wie zum Beispiel glatte Vektorfelder) können wir das Theorem von Picard-Lindelöf (Theorem 12.23) anwenden und erhalten für jedes p0∈M einen maximalen Lösungsweg p:I→U. Nun gilt aber für alle t∈I
da ˙p(t)=Pp(F(p)) orthogonal auf ∇F(p(t)) steht für alle t∈I. Auf Grund von F(p0)=0 erhalten wir also F(p(t))=0 für alle t∈I oder äquivalenterweise p(t)∈M für alle t∈I. Der Lösungsweg t↦p(t) bleibt also wie gewünscht in der Teilmannigfaltigkeit M.
Das Anfangswertproblem (B.2) beschreibt gewissermassen die Bewegung eines masselosen Teilchens, das einer Strömung ausgesetzt ist, aber dessen Bewegung durch die Nebenbedingung (gegeben durch F(p)=0) eingeschränkt ist.
Falls wir (B.2) für den Gradienten ∇φ=f einer reellwertigen, glatten Funktion φ anwenden, so können wir die so erhaltenen Lösungskurven auch als eine Suche nach einem Maximum von φ auf M interpretieren. In der Tat ist in diesem Fall
da für eine orthogonale Projektion P:R3→P(R3) und einen Vektor v∈R3 stets ⟨v,P(v)⟩=⟨P(v),P(v)⟩≥0 gilt. In anderen Worten ist t↦φ(p(t)) monoton wachsend (und strikt monoton wachsend, solange ∇φ(p) nicht senkrecht auf TpM steht.
Ist nun M zusätzlich kompakt, so strebt φ(p(t)) gegen einen Kandidaten für ein Maximum von φ auf M. Es kann dabei allerdings vorkommen, dass p(t) durch ein lokales Maximum oder einen Sattelpunkt «gefangen wird» .
B.2 – Geodätischer Fluss auf dem Tangentenbündel
Wie bereits erwähnt, entspricht (B.2) der Bewegung eines masselosen Teilchens. Wir wollen jetzt die Bewegung eines Massepunktes p∈M untersuchen, wenn nicht nur der Startpunkt, sondern auch die ursprüngliche Geschwindigkeit (p0,v0)∈Tp0M bekannt ist. Weiter soll die Bewegung nach wie vor auf M eingeschränkt sein, aber es sollen sonst keine Kräfte auf den Massepunkt wirken. Die Lösung des gesuchten Anfangswertproblems wird als eine Geodäte auf M bezeichnet und beschreibt eine «möglichst gerade Kurve» , die innerhalb M liegt.
Die ungestörte Bewegung eines Teilchens im R3 mit Ausgangsgeschwindigkeit (p0,v0)∈Tp0R3 ist natürlich durch das Anfangswertproblem
¨p=0p(0)=p0˙p(0)=v0
gegeben. Wir wollen wiederum das Anfangswertproblem auf natürliche Weise so modifizieren, dass die Lösungen des modifizierten Problems innerhalb von M bleiben. Der Lösungsweg p:I→R3 soll also F∘p=0 erfüllen. Für die Ableitungen sollen insbesondere die Gleichungen
und
gelten, wobei HF(p)=(∂j∂kF(p))j,k die Hesse-Matrix von F bei p ist. Es ist klar, dass obige Bedingungen noch nicht unsere gewünschte Differentialgleichungen darstellen, da diese von jedem glatten Weg in M erfüllt werden. Sie sind allerdings notwendig für die von uns gewünschte Modifikation von (B.3).
Um die gesuchte Modifikation zu erraten, möchten wir uns kurz in den R2 setzen und uns die Teilmannigfaltigkeit S1=M vorstellen, welche durch die Gleichung F(x,y)=x2+y2−1=0 gegeben ist. In diesem Fall können wir uns denken, dass der Massepunkt mit Hilfe eines starren Seiles der Länge 1 mit einem Pfeiler im Ursprung verbunden ist. Bei Rotation des Massepunktes entlang des Kreises wirkt ständig eine Kraft durch das straff gespannte Seil auf den Massepunkt. Diese Krafteinwirkung ist stets orthogonal zur Tangente des Punktes an S1.
Dieses Beispiel drängt die Vermutung auf, dass die gesuchte Differentialgleichung der geodätischen Bahnen auf M verlangen sollte, dass ¨p orthogonal auf TpM ist. Gemeinsam mit den bereits diskutierten, notwendigen Bedingungen wollen wir also das Anfangswertproblem
¨p=−˙ptHF(p)˙p‖∇F(p)‖−2∇F(p)p(0)=p0˙p(0)=v0
für einen vorgegebenen Anfangswert (p0,v0)∈Tp0M betrachten. In der Tat gilt mit dieser Definition
sowie
Daraus folgt, dass die maximale Lösung p:I→R3 von (B.4) auch F(p(t))=0 für alle t∈I erfüllen muss. In anderen Worten liegen Lösungswege von (B.4) auf M. Des Weiteren gilt für die Lösung p
(‖˙p‖2)˙=⟨˙p,˙p⟩˙=2⟨¨p,˙p⟩=0.
In der Tat wissen wir, dass F∘p=0 ist, womit nach Ableiten ⟨∇F(p),˙p⟩=0 und somit ˙p∈TpM ist. Auch ist nach Definition des Anfangswertproblems (siehe (B.4)) ¨p ein Vielfaches von ∇F(p) und insbesondere orthogonal auf TpM, womit sich (B.5) ergibt.
Hoffentlich lenken obige Formeln nicht zu sehr von der Schönheit und der Natürlichkeit des zugrundeliegenden Gedanken ab. Um letzteres zu betonen und die Formeln etwas weniger in den Vordergrund zu stellen, können wir noch eine formelfreie Vorstellung anbieten. Dazu verbinden wir den Massepunkt p∈M mit zwei Seilen mit den Punkten p+∇F(p) und p−∇F(p). Die letzteren beiden Punkte statten wir mit genauen Sensoren, starken Raketenantrieben und ausgeklügelten Algorithmen aus, welche bei Bewegung von p jeweils die nötige Kraft auf p in Richtung ∇F(p) wirken lassen, so dass p eben auf M bleibt. Unser Formalismus in (B.4) beschreibt genau diesen Mechanismus.
Applet B.1: Geodätischer Fluss auf einem Doppeltorus
Es wird der geodätische Fluss auf einer kompakten Fläche visualisiert. Sie können die Bewegung mit dem Pfeil auf dem flachen Teilstück neu starten. Können Sie die Bewegung genau vorhersagen? Wenn ja, dann sollten Sie eine Karriere als Wahrsager versuchen, denn die Bewegung reagiert für lange Zeitspannen sehr sensibel auf kleine Änderungen in den Anfangsbedingungen: Die Bewegung ist «chaotisch» .
B.3 – Physikalisch relevante Modifikationen
In obiger Diskussion haben wir uns von physikalischer Interpretation leiten lassen, um eine vernünftige Definition der Differentialgleichung der Geodäten von M zu finden. Dennoch haben wir übliche, weitere physikalische Phänomene wie zum Beispiel
- die Schwerkraft,
- Krafteinwirkungen durch Strömungen eines Mediums (zum Beispiel Wind),
- Reibung oder auch
- Magnetfelder
ausser Acht gelassen. Wir wollen kurz andeuten, wie wir durch Modifikation von (B.4) Anfangswertprobleme erhalten können, die diese Phänomene in Betrachtung ziehen und noch immer Lösungen in M annehmen. In der Tat nimmt jede Lösung von
für eine glatte Störfunktion s:TU→R3 mit der Eigenschaft (p,s(p,v))∈TpM für alle (p,v)∈TpM und für alle Anfangswerte (p0,v0)∈Tp0M nur Werte in M an. Dies verwendet ⟨∇F(p),s(p,v)⟩=0 für alle (p,v)∈TM und dasselbe Argument wie zuvor. Nun kann der Störterm s eine Summe von folgenden Ausdrücken sein:
- (Schwerkraft) Für eine vorgegebene Potentialfunktion Ψ kann der Term ∇Ψ die Bedeutung der Schwerkraft haben. Die Projektion (p,v)↦Pp(∇Ψ(p)) auf TpM ist der von der Nebenbedingung, dass die Bahn in M liegen soll, erlaubte Anteil der Schwerkraft.
- (Krafteinwirkung) Für ein allgemeines Kraftfeld f:U→R3 können wir wiederum (p,v)↦Pp(f(p)) erlauben.
- (Reibung) Für eine glatte Funktion r:TU→R≥0 können wir (p,v)↦−r(p,v)v als Reibungsterm in obiges Anfangswertproblem einbauen.
- (Magnetfeld) Angenommen das Teilchen hat nun eine elektrische Ladung. In diesem Fall könnte eine glatte Funktion m:U→R auch als Stärke eines Magnetfelds interpretieren werden. Dementsprechend können wir den Term (p,v)↦m(p)v×∇F(p) in das Anfangswertproblem aufnehmen. Dies wird die Bahn je nach Grösse und Vorzeichen von m mehr oder weniger nach rechts oder nach links ablenken.
Wir bemerken, dass es folgende Erhaltungsgesetze gibt.
- (Nur Schwerkraft) Die Grösse (potentielle plus kinetische Energie) Ψ(p)+12‖˙p‖2 ist konstant.
- (Schwerkraft und Reibung) Die Grösse Ψ(p)+12‖˙p‖2 nimmt monoton ab.
- (Nur Magnetfeld) Die Geschwindigkeit ‖˙p‖2 ist konstant.
Applet B.2: Bewegungen auf einem Hyperboloid
Wir sehen wie sich ein Teilchen auf einem Teil eines Hyperboloids bewegt, wenn wir den Rand der Fläche mit einer elastischen Bande ausstatten. Des Weiteren können wir die Bewegung bei Schwerkraft oder magnetischer Krafteinwirkung betrachten.
Hinweis.
Man kann hier auch einige unnatürliche Phänomene, zum Beispiel das Versagen der elastischen Bande bei flachem Einfallswinkel und Energieerhöhung bei Simulation der Schwerkraft, beobachten, die mit der Rechengenauigkeit der numerischen Approximation zusammenhängen. Die Geschwindigkeit bei geodätischer oder geodätisch-magnetischer Bewegung wird bei der einfachen numerischen rekursiven Approximation normalisiert, weswegen hier keine Geschwindigkeitsänderung (mehr) eintritt. Die beiden anderen Phänomene müssten ebenso im Algorithmus nachträglich korrigiert werden. Doch ist es vielleich auch einmal lehrreich zu sehen, dass eine einfache rekursive Approximation nur eine Approximation liefert, die gewisse systematische Fehler aufweisen kann.
B.4 – Dynamische Systeme
Ein dynamisches System besteht aus einem hier immer kompakten, metrischen Raum X und einer Wirkung einer Gruppe, hier immer R, auf X. Genauer formuliert wollen wir annehmen, dass wir eine stetige Abbildung
haben, die
- Φ(0,x)=x für alle x∈X und
- Φ(s,Φ(t,x))=Φ(s+t,x) für alle s,t∈R und x∈X
genügt. Wir sprechen in diesem Fall auch von einem Fluss auf X. In Worten besagt dann die erste obige Eigenschaft, dass wenn man einen beliebigen Punkt x∈X für Zeit 0 fliessen lässt, der Punkt fixiert bleibt. Die zweite Eigenschaft verlangt, dass der Punkt, den man erhält, wenn man zuerst x∈X für Zeit t fliessen lässt und dann den erhaltenen Punkt x′=Φ(t,x) für Zeit s fliessen lässt, derselbe ist, wie wenn man auf x direkt den Fluss für Zeit s+t angewendet hätte.
Oft vereinfacht man die Notation auch etwas, indem man den Fluss für Zeit t durch ϕt=Φ(t,⋅):X→X für alle t∈R definiert. Dann besagen obige Eigenschaften des Flusses, dass ϕ0=idX sowie ϕs+t=ϕs∘ϕt für alle s,t∈R gelten soll.
Beispiel B.3: Flüsse auf Teilmannigfaltigkeiten
Seien M,F,U wie zu Beginn dieses Kapitels, wobei wir hier zusätzlich annehmen wollen, dass M kompakt ist. Folgende Beispiele von Flüssen auf M, TM oder auch auf dem Einheits-Tangentialbündel
haben wir bereits gesehen.
- Mit dem Anfangswertproblem in (B.2) für ein glattes Vektorfeld f:U→R3 lässt sich ein Fluss auf X=M angeben. Die maximale Lösung von (B.2) zu einem Anfangswert p0 ist auf ganz R definiert und wir nennen Φ(t,p0)∈M den Wert der Lösung für den Anfangswert p0 zum Zeitpunkt t.
Um zu sehen, dass die maximale Lösung in der Tat auf ganz R definiert ist, bemerken wir, dass eine maximale Lösung mit nach oben oder nach unten beschränkten Geltungsbereich nach dem Theorem von Picard-Lindelöf (Theorem 12.23) gegen den Rand ∂U streben sollte, was wegen Φ(t,p0)∈M für alle t nicht der Fall ist. Für letzteres Argument haben wir die Kompaktheit von M verwendet, welche garantiert, dass M und ∂U eine positive Distanz voneinander haben.
Die so definierte Abbildung Φ:R×M→M, (t,p0)↦Φ(t,p0) definiert nun einen Fluss. In der Tat ist p nach Proposition 12.32 stetig und erfüllt per Definition Φ(0,p0)=p0 für alle p0∈M. Die zweite Eigenschaft von Flüssen folgt aus der Eindeutigkeit der Lösungen von Anfangswertproblem (siehe wiederum Theorem 12.23), da die Abbildung s↦Φ(s+t,p0) das Anfangswertproblem (B.2) für den Anfangswert Φ(t,p0) löst.
- Sei X=T1M. Dann definiert das Anfangswertproblem (B.4) einen Fluss p auf T1M, den geodätischen Fluss. Einen Startpunkt x=(p0,v0) bildet Φ(t,⋅)=ϕt auf jenen Punkt ab, den man erhält, wenn man der Geodäte mit Ausgangsort und -vektor (p0,v0) für Zeit t folgt. Es lässt sich wie im letzten Fall verifizieren, dass dies in der Tat einen Fluss definiert (und insbesondere alle Geodäten für unbeschränkte Zeiten definiert sind). Wir haben hierbei auch verwendet, dass Geodäten Einheitsgeschwindigkeit haben (siehe Gleichung (B.5)).
- Genauso kann man auf X=T1M für eine glatte Magnetstärke m:M→R einen Fluss erhalten, welcher eine Modifikation des geodätischen Flusses darstellt (wie in Abschnitt B.3 beschrieben).
- Ebenso können wir Potentialfelder, andere Krafteinwirkungen oder Reibungen erlauben, um auf X=TM einen Fluss zu definieren. Dieser kann möglicherweise «grosse» invariante, kompakte Teilmengen besitzen (mehr dazu später). Dabei ist es allerdings wichtig, dass die Störterme zeitunabhängig (autonom) sind, da ansonsten meist kein Fluss im Sinne obiger Definition zustande kommt.
B.4.1 – Existenz minimaler Teilmengen
Im Folgenden sei Φ:R×X→X ein Fluss auf einem kompakten metrischen Raum X und ϕt=Φ(t,⋅) der Fluss für Zeit t.
Definition B.4: Invariante Teilmengen und Limesmenge
Eine Teilmenge K⊆X heisst invariant, falls für alle x∈K auch ϕt(x)∈K liegt für alle t∈R oder in Worten falls die Bahn {ϕt(x)∣t∈R} jedes Punktes x∈K in K enthalten ist. Des Weiteren ist der ω-Limes eines Punktes x∈X definiert durch
Beweis
Da X kompakt ist, existiert eine Folge (tk)k mit tk→∞ für k→∞, so dass die Folge (ϕtk(x))k gegen einen Punkt z∈X konvergiert. Also ist z∈ω(x), womit insbesondere ω(x) nicht-leer ist.
Wir zeigen nun Invarianz von ω(x). Sei also z∈ω(x), t∈R und (tk)k eine Folge mit tk→∞ und ϕtk(x)→z für k→∞. Dann gilt
für k→∞, also ist ϕt(z)∈ω(x) und ω(x) ist invariant.
Um Abgeschlossenheit des ω-Limes zu zeigen, sei (zℓ)ℓ eine Folge in ω(x) mit zℓ→z für ℓ→∞. Dann existiert für jedes ℓ eine Folge (tℓ,k)k mit tℓ,k→∞ und Φ(tℓ,k,x)→zℓ für k→∞. Wir konstruieren nun iterativ eine Folge (sk)k in R wie folgt. Sei s1=t1,k1, wobei k1 der Ungleichung d(Φ(t1,k1,x),z1)s1+1 ist und [latex]\mathrm {d}(\Phi (t_{2,k_2},x),z_2)
für k→∞, womit z∈ω(x) ist. Also ist ω(x) abgeschlossen. ∎
Übung B.6
Es bezeichne ψx die Abbildung t↦Φ(t,x)∈X für ein x∈X, welche die Bahn von x beschreibt. Zeigen Sie, dass
für alle x∈X gilt.
Als Hauptziel unserer Exkursion in die Theorie der dynamischen Systeme wollen wir zeigen, dass unter einem Fluss auf einem kompakten metrischen Raum stets einen rekurrenten Punkt gibt.
Definition B.7: Rekurrenz
Ein Punkt x∈X heisst rekurrent, falls x∈ω(x) ist oder in anderen Worten falls es eine Folge von Zeiten (tk)k in R mit tk→∞ für k→∞ gibt, so dass ϕtk(x)→x für k→∞ gilt.
In Worten ausgedrückt ist ein Punkt rekurrent, falls er beliebig nahe zu sich selbst zurückkehrt. Es wird sich zeigen, dass es im Wesentlichen genauso schwierig ist, eine gewisse stärkere Aussage zu beweisen, die folgenden Begriff benötigt.
Definition B.8: Minimalität
Eine nicht-leere invariante abgeschlossene Teilmenge K⊆X heisst minimal, falls ω(x)=K für jedes x∈K erfüllt ist.
Jeder Punkt x in einer minimalen Teilmenge K ist dann rekurrent, da x∈K=ω(x) gilt.
Satz B.9: Existenz minimaler Teilmengen
Sei Φ:R×X→X ein Fluss auf einem nicht-leeren, kompakten metrischen Raum. Dann existiert eine nicht-leere minimale Teilmenge K⊆X für den Fluss Φ. Insbesondere existieren unter Φ rekurrente Punkte in X.
Beweis
Sei x1∈X beliebig und K1=ω(x1). Nach Lemma B.5 ist K1 eine nicht-leere invariante abgeschlossene Teilmenge. Falls K1 minimal ist, so gilt der Satz bereits. Also nehmen wir an, dass K1 nicht minimal ist und können somit einen Punkt x2∈K1 wählen, so dass ω(x2)⊆K1 eine echte Teilmenge ist (die auch nicht-leer, abgeschlossen und invariant ist nach Lemma B.5). Wir iterieren diese Konstruktion und erhalten entweder eine nicht-leere minimale Teilmenge (nach endlich vielen Schritten) oder eine Kette
von nicht-leeren invarianten abgeschlossenen Teilmengen von X. Da X kompakt ist, gilt das Schachtelungsprinzip (siehe Satz 9.66) und
ist eine nicht-leere invariante abgeschlossene Teilmenge. Da die Teilmengen Kn für alle n∈N invariant sind, ist auch Kω invariant. (Wieso?) Wir bemerken, dass der Index ω hier nicht für den ω-Limes steht, sondern für die erste unendliche «Ordinalzahl ω» aus der Mengentheorie.
Man könnte nun hoffen, dass Kω minimal ist. Leider muss dies nicht immer so sein. Wir müssen also obiges Argument wiederholen, um entweder eine nicht-leere minimale Teilmenge (nach weiteren endlich vielen Schritten) oder eine weitere Kette
von nicht-leeren invarianten abgeschlossenen Teilmengen zu finden. Im zweiten Fall ist
wiederum eine nicht-leere invariante abgeschlossene Teilmenge. Falls Kω⋅2 nicht minimal ist, so müssen wir möglicherweise
und so weiter konstruieren.
Eine derartige Induktion über alle «Ordinalzahlen» der Mengenlehre nennt man auch eine «transfinite Induktion» . Dass diese mit der Konstruktion einer minimalen Teilmenge enden muss, folgt daraus, dass wir ansonsten für eine beliebige Ordinalzahl α eine Injektion von
\begin{aligned}[]\alpha = \left \lbrace {\beta } \mid {\beta \text { Ordinalzahl mit } \beta [/latex]
in die Potenzmenge P(X) finden können. Doch gibt es auch Ordinalzahlen der Kardinalität P(P(X)), was einen Widerspruch liefert.
Mathematiker (abgesehen von Experten in Mengentheorie und mathematischer Logik) verwenden die obige Sprache der transfiniten Induktion nicht so oft. Stattdessen verwendet man häufiger das Lemma von Zorn, welches zum Auswahlaxiom äquivalent ist. Hierfür betrachtet man die nicht-leere Teilmenge
und zeigt zuerst, dass für eine beliebige linear geordnete Teilmenge L⊆G auch
gilt. Hierbei ist L linear geordnet, falls wir für alle K1,K2∈L eine der Inklusionen K1⊆K2 oder K2⊆K1 haben. Der Beweis von ⋂K∈LK∈G verwendet wieder Satz 9.66 (in der stärkeren, nicht abzählbaren Form) und ist völlig analog zum Beweis, dass unser Kω=⋂∞n=1Kn von unserer vorherigen Diskussion zu G gehört.
Nach Überprüfung von ⋂K∈LK∈G für alle linear geordneten Teilmengen L schliesst man aus dem Lemma von Zorn, dass G ein minimales Element Kmin enthält (das heisst, ein Element mit K⊆Kmin⟹K=Kmin).
Nun gilt, dass Kmin eine minimale Teilmenge von X ist. Denn für x∈Kmin ist ω(x)⊆Kmin eine nicht-leere abgeschlossene invariante Teilmenge. Falls also ω(x)≠Kmin wäre, so hätten wir mit ω(x)∈G ein kleineres Element von G gefunden, was der Wahl von Kmin als ein minimales Element widerspricht. ∎
B.5 – Der geodätische Fluss auf (Quotienten) der Ebene
Der geodätische Fluss auf der Ebene R2 ist gegeben durch
und ist eigentlich ziemlich langweilig. In der Tat bewegt dieser jeden Punkt p bei vorgegebener Richtung v∈R2 mit ‖v‖=1 mit Geschwindigkeit 1 entlang der Geraden p+Rv nach Unendlich. Dabei ist insbesondere der ω-limes für jedes Paar (p,v)∈T1R2 die leere Menge. Dies ist wohlgemerkt kein Widerspruch zu Lemma B.5, da T1R2 kein kompakter Raum ist.
Allerdings wird der geodätische Fluss deutlich interessanter, wenn wir die Ebene zu einem Torus verkleben. Dabei wird das Einheitsquadrat [0,1]2 wie in folgender Figur zuerst zur Mantelfläche eines Zylinders verbogen und verklebt. Anschliessend wird der obere Kreis mit dem unteren Kreis identifiziert.
Im Gegensatz zu Beispiel 11.18 möchten wir uns den erhaltenen 2-Torus nicht als Teilmannigfaltigkeit des R3 vorstellen. Bei dieser Vorstellung (welche wir in obigem Bild angewendet haben) werden unsere Geodäten im R2 nicht auf Geodäten der Teilmannigfaltigkeit abgebildet (wovon man sich zuerst überzeugen müsste). Grund dafür ist, dass der 2-Torus als Teilmannigfaltigkeit des R3 im Gegensatz zur «flachen» Ebene R2 «Krümmung» aufweist.
Eine bessere Vorstellung erhalten wir, wenn wir die nur mit dem Quadrat [0,1]2 (mit identifizierten Kanten) arbeiten, ohne den damit erhalten 2-Torus in ein konkretes Rn einbetten zu wollen (was wohlgemerkt allerdings möglich wäre). Wie bei (eher klassischen) Computer-Spielen kann man das Quadrat (also den Bildschirm) nicht verlassen. Versucht man dies trotzdem, so erscheint man auf der gegenüberliegenden Seite wieder. Dabei ändert sich nur der Ort, aber nicht die Richtung der Geodäte.
Abbildung B.1 – Die Markierungen am Rand deuten die Verklebungen an. Die Geodäte zum Startpunkt (p,v) bleibt auf Grund der den Verklebungen entsprechenden Identifikationen innerhalb des Quadrats.
Wenn Sie eine formalere Definition von obigem wollen, so haben Sie die Wahl zwischen
- der Auffassung des 2-Torus als Quotienten
T2=\raise 0.4ex\hbox {R2}\big /\lower 0.4ex\hbox {Z2}={p+Z2∣p∈R2}
womit
TT2=T2×R2,T1T2=T2×S1={(p,v)∣p∈T2, v∈R2:‖v‖=1}das Tangentialbündel respektive das Einheits-Tangentialbündel ist oder
- der eingebetteten Auffassung
T2=S1×S1⊆R4,
welche in Übung 11.19 diskutiert wurde und für welche das Tangentialbündel mit Hilfe von Satz 11.21 beschrieben wird (siehe auch Beispiel 11.23 und Übung 11.24).
Die Dynamik des geodätischen Flusses ist nun definitiv interessanter:
- Für v1=(1,0) oder allgemeiner für Einheitsvektoren v∈R2, für welche die Linie Rv rational ist (d.h. Rv∩Z2≠∅), ist jede Bahn periodisch. In anderen Worten existiert für jedes p∈T2 eine Zeit T, so dass p+Tv=p in T2 ist.
Abbildung B.2 – Darstellung dreier periodischer Bahnen für «rationale Richtungen» .
- Für eine irrationale Richtung v∈R2 mit ‖v‖=1 (also Rv∩Z2=∅) ist die Geodäte p+Rv aufgefaltet in T2 nicht periodisch und auch nicht abgeschlossen. Stattdessen ist sie dicht und für den ω-Limes von (p,v) gilt
ω((p,v))=T2×{v},
da sich der Richtungsvektor entlang der Geodäte nie ändert. Zum Beweis dieser Aussagen benützt man am besten die Theorie der Fourier-Reihen auf T2.
B.6 – Ein Quotient einer nicht-euklidschen Ebene
Die hyperbolische Ebene H2 kann auf verschiedene Arten definiert werden; eine davon werden wir unten sehen. Ursprünglich von Interesse war die hyperbolische Ebene unter anderem, da sie alle Axiome der Euklidschen Geometrie erfüllt bis auf das Parallelenaxiom. Sie wurde auch bereits von Gauss untersucht und ist seither in vielen Gebieten der Mathematik wichtig geworden, unter anderem in der Differentialgeometrie, in der Theorie der dynamischen Systeme, in der Theorie der Lie-Gruppen. Man könnte sich aber auch in anderen Gebieten mit weniger direkten Beziehung zur Geometrie wie beispielsweise der Zahlentheorie die hyperbolische Ebene oder ihre Isometriegruppe SL2(R) kaum wegdenken.
Wir definieren die hyperbolische Ebene H2 als die obere Halbebene
H2={z∈C∣Im(z)>0}.
Dabei möchten wir in H2 die Distanzen aber nicht auf die übliche (Euklidsche) Art und Weise messen, sondern einen Skalierungsfaktor einführen (siehe Abschnitt 10.6.1). Genauer statten wir für jedes p∈H2 den Tangentialraum TpH2={p}×R2 mit dem (reellen) inneren Produkt
für alle (p,v),(p,w)∈TpH2 aus. Die Länge eines (stückweise stetig differenzierbaren) Weges γ:[a,b]∈H2 definiert man nun durch
Nimmt man das Infimum aller Wege zwischen zwei Punkten, so lässt sich damit eine Metrik definieren, auf welche wir hier allerdings nicht genauer eingehen wollen (siehe Übung 10.42).
Bemerkung
Alternativ kann man die hyperbolische Ebene auch als Teilmannigfaltigkeit M von R6 auffassen, wobei das innere Produkt auf TpM für alle p∈M das Standardskalarprodukt ist (siehe [1]). Insbesondere passt die hyperbolische Ebene in die Diskussion der vorherigen Abschnitte (nach geeigneter Auffassung). Dieses Model ist allerdings nicht gleich praktikabel wie das Model aus (B.6), weswegen wir nicht weiter darauf eingehen wollen.
Nun kann man beispielsweise überprüfen, dass die Kurve
für alle x∈H2 eine Geodäte von H2 darstellt, in dem Sinne, dass jeder beliebige Weg von γ(a) nach γ(b) für alle a,b∈R länger als γ|[a,b] ist. Darum nennt man die vertikalen Geraden auch Geodäten auf der hyperbolischen Ebene H2.
Wir wenden uns nun den Isometrien der hyperbolischen Ebene zu. Es ist vielleicht überraschend, dass die Matrixgruppe SL2(R)={g∈Mat2(R)∣det(g)=1} isometrisch auf H2 (mittels sogenannten Möbiustransformationen) wirkt. Für jedes Element g=(\arraycolsep=0.3\arraycolsep\ensuremathabcd)∈SL2(R) und z∈H2 setzt man
Des Weiteren gilt für jeden Weg γ:[a,b]→H2
womit insbesondere die Aktion von SL2(R) die Distanz zwischen je zwei Punkte erhält oder in anderen Worten eben isometrisch wirkt. Auf diese Weise können wir die bereits gefundenen vertikalen Geodäten durch Möbiustransformationen auf eine neue Art von Geodäte auf H2 wie in folgendem Bild senden.
Abbildung B.3 – Einige sich schneidende Geodäten und einige sich nicht schneidende Geodäten der hyperbolischen Ebene.
Viele der obigen Aussagen lassen sich durch konkrete Rechnungen verifizieren, die auch in ihrer Schönheit überzeugen können.
Der geodätische Fluss auf H2, der für einen vorgegebenen Punkt p∈H2 und einen Richtungsvektor (p,v)∈T1pH2 den Punkt p entlang der Geodäte durch p mit Richtung v verschiebt, ist genauso wie schon der geodätische Fluss auf R2 dynamisch nicht sehr interessant.
Falten und verkleben wir hingegen H2, so kann man mit den sich ergebenden dynamischen, quantentheoretischen und zahlentheoretischen Fragen und Antworten ohne Probleme eine einjährige Vorlesung (mit sechs Vorlesungsstunden pro Woche) füllen. Beispielsweise kann die hyperbolische Ebene H2 kann mittels (\arraycolsep=0.3\arraycolsep\ensuremath1101)∈SL2(Z) und (\arraycolsep=0.3\arraycolsep\ensuremath0−110)∈SL2(Z) zu der Modulfläche M=SL2(Z)∖H2 verklebt werden.
Der geodätische Fluss auf dem nicht-kompakten Tangentenbündel T1M ist «ergodisch» , womit insbesondere die Bahn zu fast jedem Anfangswert dicht in T1M liegt.
- D. Blanusa: Über die Einbettung hyperbolischer Räume in euklidische Räume (Monatsh. Math., 1955) ↵