1.1 – Warum komplexe Zahlen? Erweiterung der Zahlenbereiche im Hinblick auf die Lösbarkeit von Gleichungen
Wir sind bereits den natürlichen Zahlen, den ganzen Zahlen, den rationalen Zahlen und schliesslich auch den reellen Zahlen begegnet. Aber die reellen Zahlen sind nicht das Ende dieser «Reise». Jedes Mal, wenn wir den Zahlenbereich erweitert hatten, hatten wir einen guten Grund dafür. Im Folgenden werden wir nochmals kurz diese Erweiterungen der Zahlenbereiche in Hinblick auf die Lösbarkeit von Gleichungen betrachten.
Was war bis jetzt dieses Menschenwerk? Wie haben wir den Zahlenbereich von [latex]\mathbb {N}[/latex] nach [latex]\mathbb {R}[/latex] erweitert? Was war der Grund für jede weitere Erweiterung? Von [latex]\mathbb {N}[/latex] zu [latex]\mathbb {Z}[/latex], weil wir subtrahieren wollten, oder anders gesagt, weil wir
lösen wollten. Dann von [latex]\mathbb {Z}[/latex] zu [latex]\mathbb {Q}[/latex], weil wir dividieren wollten, oder anders gesagt, weil wir
lösen wollten. Dann von [latex]\mathbb {Q}[/latex] zu [latex]\mathbb {R}[/latex], weil wir zum Beispiel Wurzel ziehen wollten, oder anders gesagt,
lösen wollten. Allmählich haben wir verstanden, dass die Zahlengerade voller Lücken ist, wie ein Schweizer Käse. Wir haben diese Lücken gefüllt und damit die reellen Zahlen bekommen.
Bisher waren diese Erweiterungen ziemlich leicht zu erfinden und vorzustellen, denn diese Zahlen haben Platz auf der Zahlengeraden und damit können wir sie einfach veranschaulichen.
Jetzt kommt aber etwas Merkwürdiges. Wir können die Gleichung
nicht lösen. Diese Tatsache ist leicht einzusehen, weil Quadrate immer grösser gleich Null sind! Man darf keine Wurzel aus negativen Zahlen ziehen, oder? Dennoch haben Mathematiker im 16. Jahrhundert entdeckt, dass sie, um eine Formel für Gleichungen dritten oder vierten Grades formulieren zu können, die Wurzel aus negativen Zahlen ziehen müssen. (Sogar wenn sie wussten, dass die Lösung der Gleichung reell ist!) Das war für sie verblüffend, aber trotzdem haben sie das Folgende gemacht, und wir werden ihnen folgen.
Definition
Wir definieren eine neue Zahl, deren Quadrat minus 1 ist. Diese Zahl bezeichnen wir mit [latex]i[/latex], wobei [latex]i[/latex] für imaginär steht. Manchmal schreibt man diese Zahl auch als [latex]\sqrt {-1}[/latex], aber wir werden diese Schreibweise vermeiden.
Bemerkung
Es ist wichtig zu betonen, dass [latex]\sqrt {2}[/latex] genauso eine Erfindung war wie [latex]i[/latex]. Der Unterschied ist, dass [latex]\sqrt {2}[/latex] einen Platz auf der Zahlengeraden hat, während [latex]i[/latex] dort keinen Platz findet! Und deshalb nannten die Mathematiker des 16. Jahrhunderts diese Zahl imaginär. Etwa fünfzig Jahre später haben drei Mathematiker gleichzeitig und unabhängig voneinander den richtigen «geometrischen» Platz für [latex]i[/latex] gefunden – die komplexe Ebene. Wir werden sie später einführen.
Wir haben also eine Lösung für die obige Gleichung, nämlich [latex]i,[/latex] weil
per Definition gilt.
Wie lösen wir jetzt [latex]x^{2}=-2[/latex] ? Sollen wir eine neue Zahl erfinden, dessen Quadrat [latex]-2[/latex] ist? Aber nein! Wir können [latex]i[/latex] mit [latex]\sqrt {2}[/latex] multiplizieren erhalten dann
Die Zahlen[latex]\sqrt {2}i[/latex] und[latex]i[/latex] sind erste Beispiele von komplexen Zahlen. Können wir auch andere Polynomgleichungen mit anderen komplexen Zahlen lösen?
Es gilt eine erstaunliche Tatsache: Mit komplexen Zahlen lassen sich nicht nur Wurzeln ziehen, sondern jede Polynomgleichung findet in den komplexen Zahlen ihre Nullstellen. Das ist der Inhalt des berühmten «Fundamentalsatzes der Algebra», den wir im Kapitel besprechen werden. Wer nicht warten kann, kann die folgende Aufgabe schon jetzt lösen:
Aufgabe
Das Polynom [latex]x^{2}-2x+3[/latex] hat keine reellen Nullstellen. Zeigen Sie mit Hilfe vom quadratischen Ergänzen, dass man eine Nullstelle dieses Polynoms als [latex]1+i\sqrt {2}[/latex] schreiben kann. [1]
Im Hinblick auf die Lösbarkeit von Gleichungen, sind die komplexen Zahlen das Ende der Geschichte.
Nun folgt die konkrete Definition der komplexen Zahlen.
1.2 – Definition der komplexen Zahlen
Zuerst soll man an komplexe Zahlen wie an Symbole mit einer bestimmten Form denken, die man addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren kann – wie wir sehen werden. Gleichzeitig werden wir sehen, dass die komplexen Zahlen auch eine geometrische Bedeutung haben, und bilden daraus eine nützliche Erweiterung der reellen Zahlen.
Definition
Ausdrücke der Form [latex]a+bi[/latex] mit [latex]a,b\in \mathbb {R}[/latex] heissen komplexe Zahlen.
Die Menge der komplexen Zahlen notieren wir mit
Eine komplexe Zahl ist durch zwei reelle Zahlen [latex]a[/latex] und [latex]b[/latex] gegeben. Diese reellen Zahlen haben einen speziellen Namen.
Definition
Sei [latex]a+bi[/latex] eine komplexe Zahl. Die reelle Zahl [latex]a[/latex] heisst der Realteil von [latex]z[/latex], und man bezeichnet ihn mit [latex]{\rm Re}(z)[/latex]. Die reelle Zahl [latex]b[/latex] heisst der Imaginärteil von [latex]z[/latex], und man bezeichnet ihn mit [latex]{\rm Im}(z)[/latex].
Beispiele
[latex]{\rm Re}(3+2i)=3[/latex] und [latex]{\rm Im}(3+2i)=2[/latex].
[latex]{\rm Re}(5-8i)=5[/latex] und [latex]{\rm Im}(5-8i)=-8[/latex].
Wir identifizieren die reelle Zahl [latex]a\in \mathbb {R}[/latex] mit der komplexen Zahl [latex]a+0i[/latex]. Dann sind die reellen Zahlen eine Teilmenge der komplexen Zahlen, das heisst [latex]\mathbb {R}\subset \mathbb {C}[/latex]. Die komplexe Zahl [latex]a+0i[/latex] schreiben wir einfach als [latex]a[/latex]. Analog schreiben wir
und solche Zahlen heissen rein imaginäre Zahlen.
Aufgabe
Welche komplexen Zahlen sind sowohl reell als auch rein imaginär?
Beispiel
[latex]{\rm Re}(2)=2[/latex] und [latex]{\rm Im}(2)=0[/latex].
[latex]{\rm Re}(2i)=0[/latex] und [latex]{\rm Im}(2i)=2[/latex].
Bemerkung
Der Real- und Imaginärteil einer Zahl bestimmen die komplexe Zahl. In der Mathematik nennen wir diese Eigenschaft Eindeutigkeit und formulieren sie so:
Man erkennt also eine komplexe Zahl eindeutig an ihrem Real- und Imaginärteil. Noch anders gesagt sind zwei komplexe Zahlen genau dann gleich, wenn sowohl ihre Real- als auch ihre Imaginärteile identisch sind.
Diese Bemerkung mag etwas umständlich erscheinen. Sie kann uns aber helfen, wenn wir Gleichungen lösen. Dazu hier ein sehr einfaches Beispiel:
Beispiel
Die reelle Lösungen von
findet man indem man [latex]2x=2[/latex] (Realteil gleich setzen) und [latex]3y=6[/latex] (Imaginärteil gleich setzen) nach [latex]x[/latex] und [latex]y[/latex] auflöst d.h. [latex]x=1[/latex] und [latex]y=2[/latex].
Um unsere Einführung zu beenden, lassen Sie uns wiederholen, dass der Inhalt des berühmten «Fundamentalsatzes der Algebra» Folgendes ist: Jede Polynomgleichung beliebigen Grades hat mindestens eine Lösung der Form
Diesen Satz besprechen wir in Kapitel 6 . Im Hinblick auf die Lösbarkeit von Gleichungen, sind die komplexen Zahlen also das Ende der Geschichte. Wer noch mehr über die Geschichte der komplexen Zahlen erfahren möchte, kann in den «In our time»-Podcast schauen.
- Die Lösung dieser Aufgabe finden Sie im Abschnitt 5.1 des Buches Arens, Tilo and Hettlich, Frank and Karpfinger, Christian and Kockelkorn, Ulrich and Lichtenegger, Klaus and Stachel, Hellmuth: Mathematik (Springer-Verlag, 2015). Alternativ können Sie ein Computerprogramm zu Hilfe nehmen. ↵