Im letzten Kapitel (Basalganglien) haben Sie gesehen, dass die Basalganglien die willkürliche Bewegung beeinflussen indem sie die Aktivität der oberen Motoneurone modulieren. Dabei erleichtert die direkte Verbindung Bewegungen, während die indirekte Verbindung Bewegungen erschwert. Auch das Cerebellum beeinflusst willkürliche Bewegungen durch die Modulation der Aktivität der oberen Motoneurone. Dabei koordiniert und überwacht das Cerebellum die Ausführung von Bewegungen, so dass sie flüssig und ohne Fehler ablaufen.
Wenn immer möglich wird der lateinische Begriff „Cerebellum“ anstatt des deutschen Begriffs „Kleinhirn“ verwendet. Es gibt aber Bezeichnungen bei denen die Verwendung des deutschen Begriffs einleuchtender sind. Deshalb ist es für Sie wichtig, dass Sie den Begriff Cerebellum und Kleinhirn als Synonyme kennen und verwenden können.
Lernziele
- Sie können die Organisation des Cerebellums beschreiben und wissen welche Symptome bei Ausfällen zu erwarten sind.
- Sie verstehen wie das Cerebellum über interne Modelle die Konsequenzen von motorische Handlungen voraussagt.
- Sie kennen Beispiele dafür wie das Cerebellum Bewegungen an veränderte äussere Bedingungen anpasst.
- Sie kennen die Schleifen der Informationsverarbeitung durch das Cerebellum und wissen wie motorische Signale im Sinne eines adaptiven Filters optimiert werden könnten.
Das Cerbellum entspricht zwar nur etwa 10% des gesamten Hirnvolumens, es enthält aber ungefähr 50% aller Neurone des Zentralnervensystems. Daraus lässt sich bereits schliessen, dass das Cerebellum eine wichtige Funktion einnimmt. Die wichtigsten Funktionen des Cerebellums sind die Planung, Koordination und Korrektur von Bewegungsabläufen sowie das motorische Lernen und die motorische Adaptation. Dabei fungiert das Cerebellum nicht als Initiator der Bewegung, sondern überwacht und moduliert Bewegungen. Eine Hauptaufgabe des Cerebellums ist die Korrektur von Fehlern in der Zielmotorik. Dabei erkennt es Unterschiede zwischen einer beabsichtigten und der tatsächlich ausgeführten Bewegung und minimiert diese Unterschiede. Dies kann sowohl kurzfristig geschehen, um Bewegungen noch während der Ausführung zu korrigieren oder langfristig in Form von motorischen Lernen oder motorischer Adaptation. Ebenso spielt das Cerebellum eine wichtige Rolle in der Regulation der Körperhaltung (Stützmotorik).
4.1 – Organisation
Das Cerebellum ist dem Hirnstamm rückseitig (=dorsal) aufgelagert. Es besteht wie das Grosshirn aus zwei Hemisphären mit einem cerebellären Cortex (graue Substanz) und der darunter gelegenen weissen Substanz. Das Cerebellum kann funktionell in die drei Strukturen Vestibulo-, Spino-, und Pontocerebellum eingeteilt werden. Das folgende Bild (Abbildung 4.2) zeigt die 3 Strukturen des Cerebellums und deren anatomische Teilstrukturen.
Das Vestibulocerebellum besteht aus dem Nodulus und Flocculus. Es erhält über die im Hirnstamm lokalisierten Vestibulariskerne Informationen von den Gleichgewichtsorganen im Innenohr (Macula- und Bogengangsorgane). Diese Informationen werden im Vestibulocerebellum verarbeitet, modifiziert und zurück an die Vestibulariskerne im Hirnstamm geschickt. Diese nehmen dann über absteigende Bahnen Einfluss auf die lokalen Schaltkreise des Rückenmarks. Das Vestibulocerebellum nimmt so Einfluss auf das Körpergleichgewicht. Ebenso ist das Vestibulocerebellum über die Verschaltung der Vestibulariskerne an der Koordination der Augen- und Kopfbewegungen beteiligt.
Das Spinocerebellum besteht aus der Vermis und der intermediären Zone. Es erhält über aufsteigende Bahnen aus dem Rückenmark somatosensorische Informationen über die Lage und Stellung der Extremitäten. Diese Informationen werden von den Muskelspindeln, Hautrezeptoren und Golgi-Sehnenorganen vermittelt. Ebenso erhält das Spinocerebellum eine sogenannte Efferenz-Kopie des Bewegungskommandos vom Cortex. Dadurch wird das Cerebellum darüber informiert, welche Bewegungen vom motorischen Cortex geplant und initiiert werden. All diese Informationen werden im Spinocerebellum verarbeitet und modifiziert.
Schädigungen des Spinocerebellums äussern sich hauptsächlich in Problemen bei der Ausführung von gleichmässigen, koordinierten Bewegungen. Die Bewegungen erscheinen unpräzise und ruckartig. Diese Ruckartigkeit wird auch als cerebelläre Ataxie bezeichnet. Das folgende Video demonstriert, wie sich die Ataxie im Gangbild eines cerebellären Patienten äussert.
Video-Player
Das Pontocerebellum besteht aus den 2 Hemisphären des Cerebellums. Es erhält Informationen von den motorischen Cortexarealen. Diese Informationen werden zur Feinabstimmung komplexer, willkürmotorischer Bewegungsabläufe im Pontocerebellum weiter entwickelt und moduliert.
Bei einem Intentionstremor ist diese Verarbeitung gestört und die Bewegungskorrektur durch das Cerebellum ist verlangsamt oder unvollständig. Daher werden die Fehler nicht genügend korrigiert und es kommt zu einer „Übersteuerung“ der Bewegung. Häufig werden diese ruckartigen Korrekturbewegungen desto grösser, je näher man seinem Ziel kommt. Diese Übersteuerung wird in folgendem Video gezeigt.
4.2 – Das Cerebellum sagt die Zukunft voraus
Eine wichtige Theorie zur Funktion des Cerebellums besagt, dass es entscheidend an der korrekten Ausführung von Bewegungen beteiligt ist. Man vermutet, dass wenn eine bestimmte Bewegung ausgeführt werden soll, der Cortex das motorische Kommando berechnet und über die oberen und unteren Motoneurone an die Muskeln sendet. Gleichzeitig wird eine Kopie dieses Kommandos (Efferenz-Kopie) zum Cerebellum geschickt. Dadurch kann das Cerebellum die entstehenden Bewegungen und Kräfte vorausberechnen. Diesen Vorgang nennt man auch ein „Forward model“: auf Grund des motorischen Kommandos sagt es die sensorischen Konsequenzen voraus (der Soll-Zustand wird berechnet). Zum Beispiel, wenn man plant auf einem Klavier einen Ton zu spielen, dann kann das Cerebellum vorhersagen wie sich die Bewegung anfühlen soll, wie es aussehen muss wenn der Finger auf die Taste drückt und welcher Ton erklingen soll.
Wenn die Bewegung ausgeführt wird, dann wird der tatsächliche Ist-Zustand mit Hilfe unserer Sinne gemessen. Das heisst, die tatsächliche Bewegung des Fingers wird durch Rezeptoren des somatosensorischen und visuellen Systems wahrgenommen und der erzeugte Ton wird durch das auditive System erfasst. Soll- und Ist-Zustand werden dann in der unteren Olive – ein Kern im Hirnstamm (Medulla Oblongata) – verglichen.
Wenn die Bewegung nicht exakt ausgeführt wird, dann entspricht der Ist-Zustand nicht dem Soll-Zustand. Diese Diskrepanz führt dazu, dass das motorische Kommando korrigiert wird indem die Signale der oberen Motoneurone, durch Information vom Cerebellum so beeinflusst werden, dass entweder eine kurzfristige oder langfristige Korrektur der Bewegung erfolgt.
4.3 – Adaptation von Kopf- und Augenbewegungen
Der vestibulookuläre Reflex (VOR) dient zur Blickstabilisierung wenn sich der Kopf bewegt. D.h. wenn wir einen Blickpunkt fixieren wollen und den Kopf nach links drehen, müssen die Augen mit derselben Geschwindigkeit nach rechts drehen um ein stabiles Bild auf der Retina zu erhalten. Die Koordination dieser Kopf- und Augenbewegungen nennt man den VOR. Man kann den VOR mit Vergrösserungs- oder Verkleinerungsbrillen modifizieren. Da die Brillen die Grösse des visuellen Bildes verändern, ändert sich auch die Distanz, welche die Augen zurücklegen müssen, um den Blick zu stabilisieren. Dadurch fällt die kompensatorische Augenbewegung zu klein oder zu gross aus. Der VOR passt sich aber mit der Zeit an die neuen Gegebenheiten an und verändert die Augenbewegung so, dass das Bild auf der Retina wieder stabilisiert wird. Dieser Lernvorgang ist an die Intaktheit des Cerebellums gebunden.
4.4 – Filterung der Signale im Cerebellum
Wie bereits erwähnt ist die Hauptaufgabe des Cerebellums die Bewegungsausführung zu optimieren, so dass die Unterschiede zwischen beabsichtigten und tatsächlich ausgeführten Bewegungen minimiert werden. Diese Optimierung findet entweder noch während der Bewegungsausführung oder langfristig in Form von Adaptation statt.
Aber wie kann das Cerebellum diese komplizierten Prozesse koordinieren?
Im cerebellären Cortex sind unterschiedliche Neurone in einem speziellen Netzwerk miteinander verbunden. Die spezielle Verschaltung der Neurone ermöglicht es Informationen aus verschiedenen Bereichen des Körpers abzugleichen. Ein zentrales Element sind die Purkinje-Zellen. Purkinje-Zellen haben eine auffällige Struktur. In einer Ebene sind sie flach. Diese flache Struktur ermöglicht es, dass viele Purkinje-Zellen dicht hintereinander angeordnet sind. In der anderen Ebene sind ihre Dendriten stark verzweigt, was ihnen ermöglicht, Verbindungen mit bis zu 100.000 Parallelfasern einzugehen. Parallelfasern laufen parallel zu den Dendriten der Purkinje-Zellen wie Stromkabel an Strommasten. Parallelfasern sind die verzweigten Axone der sogenannten Körnerzellen, die afferente Informationen über die Moosfasern erhalten (als Moosfasern bezeichnet man zusammenfassend alle Afferenzen, die zum Kleinhirn ziehen und nicht zu den Kletterfasern gezählt werden). Das heisst, die Parallelfasern liefern den Purkinje-Zellen komplexe Informationen aus Cortex, Hirnstamm und Rückenmark. Einen weiteren Input erhalten Purkinje-Zellen von Kletterfasern. Kletterfasern steigen aus der unteren Olive im Hirnstamm auf und liefern sehr wahrscheinlich Information über Diskrepanzen zwischen dem Soll- und dem Ist-Zustand, d.h. Kletterfasern vermitteln ein Fehlersignal. Sie sind um die Dendriten der Purkinje-Zellen herumgewickelt und eine einzelne Kletterfaser steht über Hunderte von Synapsen mit einer einzelnen Purkinje-Zelle in Verbindung, das heisst Kletterfasern haben einen sehr grossen Einfluss auf die Aktivität der Purkinje-Zellen.
Die tiefen Kleinhirnkerne sind die wichtigsten Ausgangsstrukturen des Cerebellums und ihre Aktivität wird von zwei Einflüssen bestimmt: einerseits wird afferenter Input von Cortex, Rückenmark und Hirnstamm über die Moos- und Kletterfasern weitergeleitet und wirkt erregend auf die tiefen Kleinhirnkerne. Andererseits werden die tiefen Kleinhirnkerne von Purkinje-Zellen gehemmt. Man vermutet, dass die hemmenden Einflüsse der Purkinje-Zellen den afferenten Input selektiv abschwächen und so die resultierenden Aktivitätsmuster der Kleinhirnkerne formen. Befindet sich der Körper im Ruhezustand, zeigen viele Purkinje-Zellen eine relativ hohe Spontanaktivität wodurch die tiefen Kleinhirnkerne tonisch gehemmt werden. Kurzfristige Unterdrückung dieser Spontanaktivität der Purkinje-Zellen „enthemmt“ die tiefen Kleinhirnkerne und führt zu Bewegungen. Dabei werden Bewegungsamplitude, Bewegungsgeschwindigkeit und das Bewegungstiming systematisch verändert, je nachdem wie lange und wie stark die Aktivität der Purkinje-Zellen moduliert wird.
Was bestimmt nun die Aktivität der Purkinje-Zellen?
Die Aktivität der Purkinje-Zellen hängt entscheidend von den Signalen der Parallel-und Kletterfasern ab, die an den Dendriten der Purkinje-Zellen verarbeitet werden und unterschiedliche Aktivitätsmuster der Purkinje-Zellen verursachen. «Simple spikes» bezeichnet eine Folge einfacher Aktionspotentiale die entstehen, wenn die Purkinje-Zellen von den Parallelfasern stimuliert werden. Im Gegensatz dazu treten «Complex spikes» auf, wenn die Purkinje-Zellen von Kletterfasern stimuliert werden. «Complex spikes» werden durch die gleichzeitige Aktivierung von Hunderten von Synapsen zwischen einer Kletterfaser und einer Purkinje-Zelle ausgelöst. Sie verursachen massive Aktivität der Purkinje-Zelle die meistens von einer Phase ohne Spikes gefolgt wird. In dieser Phase kann die Purkinje-Zelle nicht durch Parallelfasern angeregt werden.
Neben dieser direkten Wirkung von Kletterfasern auf die Feuerrate der Purkinje-Zellen, gibt es noch einen zweiten wichtigen Mechanismus der Signalverarbeitung. Wenn Parallelfasersynapsen und Kletterfasersynapsen zur gleichen Zeit aktiviert werden, dann löst das biochemische Veränderungen in der Purkinje-Zelle aus, die dazu führen, dass die Parallelfasersynapse selektiv abgeschwächt wird. Dieser Prozess wird als Long-Term Depression (LTD) bezeichneten und führt dazu, dass die Purkinje-Zelle weniger stak von Signalen der Parallelfasern angeregt wird. Dies erlaubt langfristige Anpassungen wie sie, zum Beispiel, für die Adaptation nötig sind. Im cerebellären Cortex sind die Purkinje-Zellen und die Parallelfasern wie ein Netz angeordnet. Wenn man sich vorstellt, dass einzelne Synapsen (Verknüpfungen im Netz) individuell angepasst werden können, dann würde diese Struktur es dem Cerebellum erlauben eine grosse Vielfalt an Erfahrungen zu lernen und zu speichern.
Das in diesem Zusammenhang formulierte „Adaptive Filter Modell“ besagt, dass jede einzelne Komponente eines Bewegungsprozesses (z.B. die Stärke der Aktivierung jedes einzelnen Muskels) durch den Input einer Parallelfaser auf eine Purkinje-Zelle repräsentiert wird. Dadurch kann das Cerebellum jeden Prozess individuell optimieren, indem die Stärke von einzelner Verbindungen individuell durch LTD moduliert wird. Durch das Anpassen der relativen Stärke von jeder Komponente läuft der Bewegungsprozess dann flüssig und ohne Fehler ab.
Obwohl die cerebellären Verschaltungen seit vielen Jahren intensiv untersucht werden, hat man die genaue Funktion dieser Netzwerke noch nicht vollständig verstanden. Es gibt aber starke Hinweise von Läsionsstudien, dass das Cerebellum eine wichtige Rolle spielt für die Antizipation von Ereignissen, Fehlerkorrektur, Adaptation und Lernen, Zeitwahrnehmung, Timing und effiziente Bewegungskoordination.