In den letzen Kapiteln haben Sie sich mit der autonomen und der hierarchischen motorischen Kontrolle, sowie der Modulation der hierarchischen Willkürkontrolle befasst. Die folgenden Kapitel befassen sich nicht mehr mit der Motorik, sondern damit, wie Sinneswahrnehmungen zustande kommen und welche Bestandteile des Nervensystems an deren Vermittlung beteiligt sind. Dieses Kapitel wird sich dem somatosensorischen System widmen und dabei genauer auf die Verarbeitung von nozizeptiven Signalen eingehen.
Lernziele
- Sie kennen das spinothalamische und das lemniskale System.
- Sie können Ausfallerscheinungen der somatosensorischen Bahnsysteme analysieren.
- Sie kennen die Funktionen der somatosensorischen Brodmann-Areale und die weiteren Verarbeitungswege der somatosensorischen Information im Cortex.
- Sie können die Funktionsweise des endogenen Schmerzkontrollsystems beschreiben.
- Sie verstehen den Zusammenhang zwischen synaptischer Plastizität und dem „Schmerzgedächtnis“.
Beim motorischen System werden Bewegungskommandos aus den motorischen Cortexarealen über efferente Bahnen (d.h. obere und untere Motoneurone) an die Muskulatur in die Peripherie geschickt. Im Gegensatz dazu registrieren beim somatosensorischen und sensorischen System verschiedene sensorische Rezeptoren den Reiz in der Peripherie und leiten diesen über afferente Bahnen (d.h. sensible Neurone) an sensorische Gebiete im Cortex weiter.
Zur Erinnerung finden Sie hier nochmals die wichtigsten Begriffe. Überlegen Sie sich ob Sie die Definition noch wissen, bevor Sie die Erläuterung aufklappen.
5.1 – Somatosensorisches System
Das somatosensorische System vermittelt Empfindungen, welche die Körperwahrnehmung betreffen. Dabei handelt es sich um die taktilen, propriozeptiven, thermischen und nozizeptiven Empfindungen der Haut, der Muskeln und der Gelenke sowie um Empfindungen der Eingeweide. Abbildung 5.1 zeigt eine Übersicht über die 5 Submodalitäten des somatosensorischen Systems und die 2 Bahnsysteme, welche diese Sinneswahrnehmungen vermitteln.
5.1.1 – Bahnsysteme
Somatosensorische Wahrnehmungen werden entweder über das lemniskale System oder das spinothalamische System vermittelt. Je nach Lehrbuch oder Vorlesung könnte das spinothalamische System auch als anterolaterales System bezeichnet werden. Es ist wichtig, dass Sie die Begriffe als Synonyme erkennen.
Spinothalamisches System
Das spinothalamische System vermittelt die Thermo-, Nozi- und Viscerozeption. Die afferenten Nervenfasern (d.h. primäre Sinneszelle oder erstes afferentes Neuron) treten über das Hinterhorn der grauen Substanz in das Rückenmark ein. Dort machen sie eine Synapse auf das zweite afferente Neuron. Dieses kreuzt dann auf derselben Höhe zur kontralateralen Seite und steigt dort in den sensiblen Vorderseitenstrangbahnen zum Thalamus auf. Im Thalamus erfolgt eine erneute Synapse auf das dritte Neuron, welches daraufhin sowohl zum primären (S1) als auch zum sekundären (S2) somatosensorischen Cortex zieht.
Lemniskales System
Das lemniskale System vermittelt die Mechano- und Propriozeption. Die afferenten Nervenfasern (d.h. primäre Sinneszelle/erstes Neuron) treten über das Hinterhorn der grauen Substanz in das Rückenmark ein, wo sie in den ipsilateralen Hinterstrangbahnen der weissen Substanz des Rückenmarks bis auf die Höhe der Medulla oblongata aufsteigen. Dort wird die Information auf das zweite afferente Neuron übertragen, welches dann auf die kontralaterale Seite des Rückenmarks kreuzt und zum Thalamus aufsteigt. Im Thalamus erfolgt eine Synapse auf das dritte afferente Neuron, welches zum primären somatosensorischen Cortex (S1) zieht.
5.1.2 – Primärer somatosensorischer Cortex (S1)
Der primäre somatosensorische Cortex (S1) befindet sich im postzentralen Gyrus, posterior zum primären motorischen Cortex (M1). Die meisten afferenten Neurone des somatosensorischen Systems projizieren vom Thalamus zum S1. Im S1 werden die somatosensorischen Informationen verarbeitet und integriert. Der S1 ist wie der M1 somatotop gegliedert, d.h. benachbarte Körperregionen liegen auch im S1 nebeneinander. Im Unterschied zum M1, ist die Somatopie im S1 sehr genau. Zum Beispiel lassen sich die Repräsentationen der 5 Finger deutlich unterscheiden. Die Proportionen des sensorischen Homunkulus sind wie jene des motorischen Homunkulus stark verzerrt. Die Hand- und Gesichtsregion sind vergrössert, da diese Regionen sensorisch dichter innerviert sind als andere. Der S1 besteht aus 4 bestimmten Regionen, den sogenannten Brodmann-Arealen 1, 2, 3a und 3b . Jedes Areal besitzt eine eigene somatotope Karte. Allerdings gibt es Unterschiede in der Funktion der Areale.
Die Areale 3b und 1 verarbeiten vorwiegend die Mechanozeption, während das Areal 3a hauptsächlich die Propriozeption verarbeitet. Das Areal 2 integriert taktile und propriozeptive Reize. Innerhalb der Areale gibt es ebenfalls Verbindungen, die zu einer hierarchisch organisierten Informationsverarbeitung führen. Der grösste Teil der taktilen Rezeptoren gelangt über den Thalamus zum Areal 3b. Somit fungiert das Areal 3b als obligatorische erste Station in der Verarbeitung der taktilen Reize. Vom Areal 3b aus werden die Informationen an die Areale 1 und 2 weitergeschickt, um komplexere Aspekte der Somatosensorik zu integrieren. Beispielsweise wird die Textur eines Objekts im Areal 1 und die Form und Grösse im Areal 2 integriert.
5.2 – Nozizeption
Im Abschnitt 5.1.1 «Bahnsysteme» haben Sie erfahren über welche aufsteigenden Bahnen Schmerzreize an den Cortex vermittelt werden. Lösen sie zur Wiederholung diese Aufgabe:
5.2.1 – Endogenes Schmerzkontrollsystem
Die Wahrnehmung von Schmerzen hängt nicht nur von der effektiven Stimulationsintensität der Nozizeptoren ab, sondern auch von dem generellen Kontext, in welchem die Schmerzen empfunden werden. Beispielsweise wurde während des zweiten Weltkrieges vermehrt beobachtet, dass Soldaten mit schwerwiegenden Kriegsverletzungen keine oder nur sehr wenige Schmerzen verspürten. Auch ist bekannt, dass ein Placebo-Schmerzmedikament zu einer deutlichen Reduktion der Schmerzen führt, selbst wenn kein Wirkstoff darin enthalten ist. Diese beiden Beispiele verdeutlichen, dass die Schmerzwahrnehmung einer zentralen Regulierung unterliegt. Ähnlich wie bei der Kontrolle der Reflexe wird die Schmerzwahrnehmung durch absteigende Bahnen reguliert. Diese Bahnen ziehen vom somatosensorischen Cortex zum periaquäduktalen Grau (PAG). Das PAG spielt eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung der absteigenden Signale, was daran deutlich wird, dass künstliche Stimulation des PAG eine totale Analgesie erzeugen kann. Vom PAG projizieren Fasern zu den Raphekernen im Hirnstamm und dann zu den Synapsen der Nozizeptoren im Hinterhorn des Rückenmarks. Hier hemmen sie die Weiterleitung der nozizeptiven Signale durch die Freisetzung von Serotonin. Serotonin bindet an die Synapse der Nozizeptoren und reduziert deren Aktivität. Ausserdem setzen die absteigenden Bahnen Noardrenalin frei. Noardrenalin löst über Interneurone die Freisetzung von Endorphinen (endogene Opioide) aus, die an die Opioidrezeptoren der Nozizeptoren binden und dadurch die Weiterleitung des nozizeptiven Signals blockieren. Über die absteigenden Bahnen kann der Körper die Wahrnehmung von Schmerzen also selbst regulieren.
Schauen Sie sich zur Wiederholung der aufsteigenden und absteigenden Bahnen das folgende Video an.
Die Anatomie der aufsteigenden und absteigenden nozizeptiven Bahnen können Sie im Arbeitsauftrag 5 im Kapitel Somatosensorisches System- Nozizeption im Übungsskript wiederholen.
Die Wahrnehmung von Schmerz kann auch durch Signale aus der Peripherie verändert werden. Zum Beispiel kann durch die Aktivierung der Mechanorezeptoren (z.B. Auflegen der Hand auf die schmerzende Stelle oder Reiben der schmerzenden Stelle) das Gefühl des Schmerzes vermindert werden. In diesem Fall modulieren Interaktionen zwischen den mechanorezeptiven Afferenzen und den nozizeptiven Afferenzen im Rückenmark die Weiterleitung von Schmerzwahrnehmung.
5.2.2 – Verstärkung des Schmerzsignals
Neben der oben beschriebenen hemmenden Einflüsse auf die Schmerzweiterleitung, kann es auch zu einer Verstärkung der Schmerzsignale kommen. Zum Beispiel kann es mit einem Sonnenbrand schmerzhaft sein eine Dusche zu nehmen. Das liegt daran, dass die Haut jetzt auf mechanischen und thermischen Reize reagiert, die normalerweise keinen Schmerz auslösen würden. Eine solche Sensibilisierung der Schmerzwahrnehmung wird als Hyperalgesie bezeichnet. Sie wird durch Substanzen ausgelöst, die bei einer Schädigung von Gewebe freigesetzt werden und als Entzündungsmediatoren wirken. Diese Substanzen signalisieren dem Körper, durch Herabsetzen der Schwelle für Schmerzwahrnehmung, dass der betroffene Bereich geschont werden muss.
Darüber hinaus kann eine starke Erregung der Nozizeptoren auch zu einem „Schmerzgedächtnis“ führen. Man geht davon aus, dass die Mechanismen, die einer langfristigen Veränderung der Schmerzwahrnemung zugrunde liegen, den Mechanismen der Langzeitpotenzierung (LTP) bei der Gedächtnisbildung im Hippocampus ähneln. In der Grundlagenvorlesung haben wir beim Thema Lernen und Gedächtnis bereits die molekularen Mechanismen einer Langzeitpotenzierung (LTP) kennengelernt. Auch in den nozizeptiven Afferenzen spielen die Glutamatrezeptoren AMPA und NMDA eine wichtige Rolle. Diese beiden Rezeptoren unterscheiden sich darin, wie leicht sie durch Glutamat aktiviert werden können. Der AMPA Rezeptor öffnet sich nach präsynaptischer Freisetzung von Glutamat und wird für Na+ Ionen durchlässig. Beim NMDA Rezeptor dagegen reicht die präsynaptische Freisetzung von Glutamat alleine nicht aus um den Ionenkanal des Rezeptors zu öffnen, da er durch Mg2+ Ionen blockiert ist. Bei einer starken Aktivierung der präsynaptischen Zelle (zum Beispiel bei einer Verletzung oder bei einer Operation) wird zusätzlich zu Glutamat noch der Entzündungsmediator Substanz P freigesetzt. Substanz P bindet an NK1 Rezeptoren in der postsynaptischen Membran und löst eine Depolarisation der postsynaptischen Membran aus. Durch die Depolarisation der postsynaptischen Membran löst sich der Mg2+ Block aus den spannungsgesteuerten NMDA Rezeptoren, sodass sie nun auf die Bindung von Glutamat reagieren können. Eine Aktivierung und Öffnung der NMDA Rezeptorkanäle führt zum Einstrom von Ca2+ in das postsynaptische Neuron. Ein Ca2+ Anstieg in der postsynaptischen Zelle löst nun Veränderungen aus, die die synaptische Übertragungsstärke langanhaltend steigern. Dazu werden Proteinkinasen aktiviert, die über weitere Zwischenschritte dazu führen, dass neue AMPA Rezeptoren gebildet und die Leitfähigkeit bereits bestehender AMPA Rezeptoren erhöht wird. Durch die Veränderung der AMPA Rezeptoren auf der postsynaptischen Membran reagiert diese nun leichter auf Glutamat. Die Schwelle für die Schmerzleitung wird also über einen längeren Zeitraum herabgesetzt.
Bei einer Narkose wird die Weiterleitung des nozizeptiven Signals vom Thalamus zum Cortex unterdrückt, so dass keine bewussten Schmerzen erzeugt werden. Die nozizeptiven Vorgänge in der Peripherie und im Rückenmark sind jedoch nicht ausgeschaltet. Da eine starke Aktivierung der Nozizeptoren zur Ausschüttung von Substanz P und damit zu einem „Schmerzgedächtnis“ führen kann, besteht eine moderne Narkose immer aus einer Kombination von Schmerztherapie und Ausschaltung des Bewusstseins.