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1 Autonome Kontrollsysteme und hierarchische Willkürkontrolle

Jeden Tag führen wir ganz selbstverständlich bewusste (willkürliche) und unbewusste (autonome) Bewegungen aus, um unseren Alltag zu bestreiten. Beispielsweise stehen wir am Morgen auf, gehen zur Bushaltestelle, kneifen die Augen zusammen, wenn die Sonne blendet, oder treiben Sport. Wie diese Bewegungen zustande kommen und welche Bestandteile des Nervensystems an deren Kontrolle beteiligt sind, wird in den folgenden Kapiteln diskutiert.

Lernziele

  • Sie verstehen wie absteigende Bahnen aus dem Cortex und dem Hirnstamm die Aktivität autonomer Rückenmarksschaltkreise an den Bewegungskontext anpassen.
  • Sie wissen wie die Funktionalität der absteigenden Bahnen in neurologisch-klinischen Untersuchungen getestet werden kann.
  • Sie kennen Central Pattern Generators und verstehen wie sie auf Rückenmarsebene autonom funktionieren können.
  • Sie kennen das pyramidale- und das extrapyramidalen System.
  • Sie können erklären welchen Zusammenhang es zwischen der Gliederung der Bahnsysteme im Rückenmark und ihrer Funktion gibt.

1.1 – Aufbau des motorischen Systems

Das motorische System ist der Teil des Nervensystems, der an der Initiierung und Ausführung von Bewegungen beteiligt ist. In den folgenden Kapiteln geht es darum die Funktion und die Zusammenhänge der Komponenten des motorischen Systems zu verstehen. Dabei werden wir immer wieder auf diese Übersicht des motorischen Systems zurückkommen.

Abbildung 1.1 – Aufbau des motorischen Systems. Quelle: eigene Darstellung, 2018

Im unteren Teil der Übersicht sehen wir das Rückenmark. Hier entspringen untere Motoneurone, für die wir in dieser Vorlesung synonym auch den Begriff α-Motoneurone verwenden. Diese Neurone ziehen in die Peripherie und haben einen direkten Einfluss auf die Muskelaktivität. Die Aktivität der α-Motoneurone wird durch neuronale Schaltkreise im Rückenmark beeinflusst. So können einfache motorische Programme autonom koordiniert werden (autonome Kontrolle).

α-Motoneurone werden aber auch durch obere Motoneurone beeinflusst, die im motorischen Cortex oder im Hirnstamm entspringen und deren Axone im Rückenmark abwärts ziehen. Da hier die einfachen Strukturen des Rückenmarks der Kontrolle von komplizierteren Strukturen, wie Hirnstamm und Cortex unterliegen spricht man von einer hierarchischen Kontrolle.

Ordnen Sie den unteren- und oberen Motoneuroenen Eigenschaften zu, indem Sie sie in das entsprechende Feld ziehen.

Zusätzlich zur hierarchischen Kontrolle der Motorik sind dem motorischen System noch zwei extra Schleifen zugeschaltet, die selber keine Bewegungen auslösen, aber Bewegungen modulieren. Die eine Schleife führt durch die Basalganglien. Diese Schleife ist wichtig dafür, dass bestimmte motorische Programme ausgewählt und initiiert werden. Die andere Schleife führt durch das Cerebellum. Diese Schleife überwacht die Ausführung von Bewegungen und korrigiert sie, falls nötig, so dass sie flüssig und ohne Fehler ablaufen.

1.2 – Autonome Kontrollsysteme

1.2.1 – Reflexe

Fliegt uns im Sommer ein Insekt ins Auge, schliessen wir es sofort, ohne darüber nachzudenken. Stehen wir auf eine Scherbe, ziehen wir unseren Fuss unmittelbar wieder weg. Stolpern wir über einen Stein, wird automatisch die Streckmuskulatur des Standbeines angespannt. Alle genannten Beispiele sind Bewegungen, welche unwillkürlich und immer nach einem ähnlichen Muster (d.h. relativ stereotyp) ablaufen. Solche sogenannten Reflexe dienen dem Schutz vor Fremdkörpern (z.B. Insekt im Auge) oder der Erhaltung der aufrechten Körperhaltung (z.B. über Stein stolpern). Reflexe werden durch Reize ausgelöst und durch so genannte Reflexbögen umgesetzt. Reflexbögen haben einen afferenten Schenkel und einen efferenten Schenkel die über den sogenannten Eigenapparat des Rückenmarks (rückenmarkseigenes „Schaltwerk“ ) miteinander verschaltet werden.

Ziehen Sie die Begriffe an die richtige Stelle, so dass der Reflexbogen korrekt dargestellt wird.

Ein Reflex, den Sie in der Grundlagenvorlesung bereits kennengelernt haben, ist der Muskeldehnungsreflex. Er hält die Muskellänge entgegen unerwarteter Störungen konstant und ist beispielsweise wichtig für die aufrechte Haltung des Körpers entgegen der Schwerkraft. Den meisten von Ihnen ist der dafür exemplarische Kniesehnennreflex bestens bekannt. Der Arzt klopft zur Überprüfung des Kniesehnenreflexes mit einem Hammer auf die Kniescheibensehne unterhalb der Kniescheibe, woraufhin sich der Unterschenkel des Patienten/der Patientin nach vorne bewegt.

Abbildung 1.2 – Auslösung des Kniesehnenreflexes. Quelle: „Animate It“, http://www.animateit.net/details.php?image_id=1157, 16.01.2018

1.2.2 – Zentrale Kontrolle von Reflexen

Obwohl Reflexe im Prinzip unabhängig vom Gehirn funktionieren, werden sie durch absteigende Bahnen aus dem Cortex und Hirnstamm beeinflusst. Somit kann die Empfindlichkeit von Reflexen an den Bewegungskontext angepasst werden. Grundsätzlich gilt, dass die meisten Reflexe vom Cortex und Hirnstamm über absteigende Bahnen inhibiert werden. Diese generelle Reflex-Inhibition wird einerseits dadurch ersichtlich, dass bei Säuglingen viele Reflexe stark ausgeprägt sind und mit der Entwicklung des Gehirns zunehmend schwächer werden. Auch verändert sich die Reflexaktivität bei Schädigungen des Cortex (z.B bei einem Schlaganfall) oder der absteigenden Nervenbahnen aus dem Cortex und dem Hirnstamm (z.B bei einer Rückenmarksverletzung). Da in diesen Fällen die Reflexaktivität nicht mehr genügend gehemmt wird führen beide Krankheitsbilder zu einer gesteigerten Reflexaktivät.

Kontrolle der Reflexe. Quelle: eigene Darstellung, 2018

Ein typisches Symptom bei Schädigungen der absteigenden Bahnen ist das Babinski Zeichen. Es ist ein Reflex bei dem man die Zehen nach oben spreizt, wenn mit einem spitzen Gegenstand an der Fussohle entlanggefahren wird. Dieser Reflex tritt normalerweise bei Säuglingen auf und wenn man älter wird, dann wird dieser Reflex unterdrückt. Wenn die absteigenden Bahnen jedoch beschädigt sind, dann tritt dieser Reflex wieder auf und die Ärzte sprechen von einem positiven Babinski-Zeichen.

1.2.3 – Central Pattern Generators (CPGs)

Neuronale Schaltkreise im Rückenmark können neben der Vermittlung von Reflexen auch andere motorische Funktionen koordinieren. Tierstudien haben gezeigt, dass die zeitliche Regulation und Koordination von rhythmischen Bewegungen (z.B. Gehen oder Schwimmen) von neuronalen Schaltkreisen organisiert werden, die als Central Pattern Generators (CPGs) bezeichnet werden.
CPGs bestehen aus einem Netz von hemmenden und erregenden Interneuronen, welche in der grauen Substanz des Rückenmarks liegen und miteinander verschaltet sind. Sie regulieren die Aktivität der α-Motoneurone. CPGs werden durch Hirnstammkerne aktiviert und sind so verschaltet, dass sie die Strecker und Beuger eines Gelenks rhythmisch aktivieren und zu oszillierenden Gelenksbewegungen führen. Die verschiedenen Segmente einer Extremität werden von einem übergeordnetem oder mehreren gekoppelten CPGs kontrolliert. Dadurch wird die Aktivität der Strecker und Beuger der einzelnen Gelenke (z.B. Hüft-, Knie- und Fussgelenk) aufeinander abgestimmt. Die CPGs stimmen auch die Bewegung der linken und rechten Extremität aufeinander ab. Verändert sich die Aktivität des Hirnstamms, so können die Extremitäten flexibel gekoppelt werden um die Gangart (z.B. Schritt, Trab, Galopp) zu ändern.

Abbildung 1.4 – Illustration eines Central Pattern Generators (CPG). Beachten Sie dass der CPG sich über beide Hälften des Rückenmarks erstreckt und sowohl hemmende als auch erregende Interneurone beinhaltet. Dies ist wichtig damit beim Gehen beide Körperseiten aktiviert werden und ein Muskel auf der einen Seite inhibiert wird während derselbe Muskel auf der anderen Seite aktiviert wird. Quelle: McCrea, D. A., & Rybak, I. A. (2008). Organization of mammalian locomotor rhythm and pattern generation. Brain Research Reviews, 57(1), 134–146. http://doi.org/10.1016/j.brainresrev.2007.08.006

1.3 – Hierarchische Willkürkontrolle

Das motorische System ist hierarchisch aufgebaut. Das heisst, dass einfachere, entwicklungsgeschichtlich ältere Strukturen der Kontrolle von komplizierteren, entwicklungsgeschichtlich jüngeren Strukturen unterliegen. Einfache Schaltkreise im Rückenmark werden über obere Motoneurone von komplexeren Schaltkreisen im Hirnstamm und Cortex beeinflusst. Im folgenden werden wir uns die Funktion und den Verlauf der oberen Motoneurone genauer anschauen.

1.3.1 – Pyramidales System

Das pyramidale System besteht aus zwei grossen Bahnbündeln: dem Tractus corticospinalis (blau) und dem Tractus corticobulbaris (rot). Beide Bahnbündel entspringen den motorischen Cortexarealen.

Abbildung 1.5 – Das pyramidale System. Quelle: eigene Darstellung, 2022

Der Tractus corticospinalis ist die grösste und wichtigste motorische absteigende Bahnen. Er entspringt in den motorischen Cortexarealen und sendet Projektionen zum Rückenmark. Der grösste Teil der Axone des Tractus corticospinalis (ca. 90%) kreuzt zur gegenüberliegenden (=kontralateralen) Körperseite und steigen dort als Tractus corticospinalis lateralis ab. Weil der Tractus corticospinalis auf Höhe dieser Kreuzung als seichter Längswulst (Pyramide) sichtbar ist wird er auch auch als Pyramidenbahn bezeichnet und die Kreuzung als Pyramidenbahnkreuzung. Die Axone des Tractus corticospinalis lateralis verlaufen in der dorsolateralen Region des Rückenmarks. Hier innervieren sie untere Motoneurone und Interneurone, die die distale Muskulatur, insbesondere die Flexoren kontrollieren. Der Tractus corticospinalis lateralis vermittelt willkürliche Bewegungen der Extremitäten der kontralateralen Körperseite. Hierbei handelt es sich vor allem um die Feinmotorik.

Ein kleiner Teil des Tractus corticospinalis (ca. 10%) kreuzt nicht auf die kontralaterale Seite, sondern steigt auf derselben (=ipsilateralen) Seite als Tractus corticospinalis anterior ab. Die Axone dieser Nervenbahn sind vor allem an der Kontrolle der Haltungsmotorik beteiligt.

Der Tractus corticobulbaris entspringt wie der Tractus corticospinalis in den motorischen Cortexarealen. Allerdings zieht er nicht bis zum Rückenmark, sondern endet in motorischen Hirnnervenkernen des Hirnstamms. Somit ist der Tractus corticobulbaris nicht für die Steuerung der Körpermuskulatur zuständig, sondern innerviert über die Hirnnerven die Muskulatur des Gesichts.

1.3.2 – Extrapyramidales System

Das extrapyramidale System besteht aus motorischen Bahnen, die ausserhalb der Pyramidenbahn ins Rückenmark ziehen. Sie entspringen in motorischen Kernen im Hirnstamm.

Abbildung 1.6 – Das extrapyramidale System. Quelle: eigene Darstellung, 2022

Die Nuclei vestibularis erhalten vom Vestibularorgan Information über Veränderungen unseres Körpers im Gravitationsfeld der Erde. Sie koordinieren die Aktivität von oberen Motoneuronen, die im Tractus vestibularis im Rückenmark abwärts ziehen und Hals und Rückenmuskeln aktivieren. Sie ermöglichen Korrekturbewegungen, stabilisieren den Kopf und ermöglichen das Stehen. Weil Streckbewegungen die zweckmässigsten Korrekturbewegungen auf vestibuläre Reize sind vermitteln die Neurone des Tractus vestibularis eine Aktivierung von Extensoren und einer Hemmung von Flexoren.

Der Colliculus superior erhält sensorische Eingänge vom Auge, aber auch von der Haut und den Ohren. Er löst Orientierungsbewegungen aus bei denen der Kopf und die Augen so bewegt werden, dass wichtige Reize auf der Fovea centralis (dem Punkt des schärfsten Sehens) abgebildet werden. Axone des Tractus tectospinalisdie im Colliculus superior entspringen, beeinflussen Muskeln die die Wirbelsäule und den Nacken ausrichten.

Die Formatio reticularis ist ein komplexes Netzwerk von Neuronen und Fasern, das aus vielen verschiedenen Quellen Input erhält und an unterschiedlichen Funktionen beteiligt ist. Die neuronalen Verschaltungen der Formatio reticularis koordinieren z.B. lebensnotwendige Funktionen wie das Atem-und Kreislaufzentrum sowie das Brechzentrum. Für die Motorik besteht die Funktion der Formatio reticularis darin, den Körper entgegen der Einwirkung der Schwerkraft aufrecht zu halten. Für diese Funktion aktivieren die oberen Motoneurone des Tractus reticulospinalis die Extensoren der unteren Extremitäten.

Der Nucleus ruber bildet eine Schaltstelle des motorischen Systems. Er erhält Information vom Cortex und Cerebellum und leitet die Information ins Rückenmark weiter. Er ist an vielfältigen motorischen Funktionen beteiligt, z. b. hat er einen Einfluss auf Haltungsmotorik, Willkürmotorik und ist am motorischen Lernen beteiligt. Das Besondere an diesem Kern ist, dass der hier entspringende Tractus rubrospinalis, nicht so wie die anderen Bahnen des extrapyramidalen Systems, ventromedial im Rückenmark verläuft, sondern, dass er (wie der Tractus corticospinalis lateralis) im dorsolateralen Rückenmark absteigt. Wie wir im nächsten Abschnitt erfahren werden, lassen sich daraus wichtige Konsequenzen für die Funktion dieser Nervenbahn ableiten.

1.3.3 – Organisation der Bahnsysteme im Rückenmark

Die Nervenbahnen des pyramidalen und des extrapyramidalen Systems steigen in der weissen Substanz des Rückenmarks ab. Der Tractus corticospinalis lateralis und der Tractus rubrospinalis steigen im dorsolateralen Bereich des Rückenmarks ab und bilden das dorsolaterale System. Der Tractus corticospinalis anterior, der Tractus vestibularis, der Tractus tectospinalis und der Tractus reticulospinalis verlaufen im ventromedialen Bereich des Rückenmarks und Bilden das ventromediale System.

In der grauen Substanz des Rückenmarks liegen die Zellkörper der Interneurone und der unteren Motoneurone, die von den absteigenden Bahnen beeinflusst werden. Die Neurone der grauen Substanz sind so gegliedert, dass im dorsolateralen Bereich hauptsächlich untere Motoneurone entspringen, die zu den distalen Extremitäten ziehen (z.B. zu den Händen). Während im ventromedialen Teil untere Motoneurone entspringen, die vor allem die axiale und proximale Muskulatur versorgen (d.h für die posturale Kontrolle und die Rumpfstabilität wichtig sind). Eine weitere Gliederung besteht darin, dass Neurone, die im dorsolateralen Bereiche der grauen Substanz entspringen, hauptsächlich Flexoren innervieren und Neurone die im ventromedialen Teil der grauen Substanz entspringen hauptsächlich Extensoren innervieren.

Abbildung 1.7 – Organisation der motorischen Bahnsysteme im Rückenmark. Quelle: eigene Darstellung, 2022

Die Neurone des dorsolateralen und ventromedialen Systems beeinflussen also unterschiedliche Muskeln und haben entsprechend unterschiedliche Funktionen. Diese sind in der folgenden Tabelle noch einmal zusammengefasst.

 
Bahnsystem Funktion
ventromediales System
  • aktiviert Extensoren
  • hemmt Flexoren
  • ist verantwortlich für die Abstimmung zw. Körper- und Extremitätenbewegung
  • kontrolliert die aufrechte Körperhaltung sowie die Kopf- und Augenposition
dorsolaterales System
  • aktiviert Flexoren
  • hemmt Extensoren
  • ist an der Feinmotorik beteiligt

 

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Vertiefung Neuroanatomie & Neurophysiologie Copyright © 2018 Desiree Beck und Maria Willecke. Alle Rechte vorbehalten.

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