Im letzten Kapitel (Zentrale Verarbeitung von visuellen Afferenzen) haben Sie gesehen, wie visuelle Stimuli von der Retina zum visuellen Cortex gelangen und dort verarbeitet werden. Da die hohe räumliche Auflösung auf die Fovea centralis beschränkt ist, sind Augenbewegungen zur Erkundung und Entdeckung unserer Umwelt essentiell. Augenbewegungen können die Fovea auf neue intresannte Objekte lenken oder Störungen ausgleichen, die dazu führen, dass das Bild auf der Retina verrutscht. Welche Arten von Augenbewegungen es gibt und wie diese gesteuert werden, erfahren Sie in diesem Kapitel.
Lernziele
- Sie wissen wie Augenbewegungen gesteuert werden und kennen verschiedenen Arten von Augenbewegungen.
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Sie verstehen wie sensorische Information eines visuellen Stimulus im Colliculus superior in entsprechende Augenbewegungen übersetzt wird.
- Sie kennen die besonderen Eigenschaften der Neurone des frontalen Augenfelds.
- Sie können Experimente zur klinischen Evaluation des vestibulären Systems analysieren.
Augenbewegungen erlauben uns, das gesamte Gesichtsfeld zu erkunden oder an bestimmten Orten zu pausieren, wenn wir etwas genauer betrachten wollen. Augenbewegungen unterstützen also die visuelle Orientierung und Wahrnehmung. Der Fachbegriff für die Augenbewegungen ist „Okulomotorik“.
7.1 – Arten von Augenbewegungen
Die Augenbewegungen können aufgrund ihrer Funktion in zwei Kategorien eingeteilt werden.
Die erste Kategorie beinhaltet Augenbewegungen, welche das Verschieben des Blickes ermöglichen. Sie dienen der Fixierung neuer Ziele. Zu dieser Kategorie gehören die Sakkaden, die Zielfolgebewegungen und die Vergenzbewegungen. Sakkaden sind schnelle, ballistische Bewegungen welche einen ruckartigen Wechsel der Blickrichtung ermöglichen. Zielfolgebewegungen erlauben die ruckfreie und präzise Verfolgung eines sich bewegenden Objekts. Vergenzbewegungen bewegen die Blickachsen der beiden Augen aufeinander zu (Konvergenz) oder voneinander weg (Divergenz). Dadurch wird das Auftreten von Doppelbildern verhindert und die Tiefenwahrnehmung unterstützt.
Die zweite Kategorie beinhaltet Augenbewegungen, welche die Blickstabilisierung ermöglichen. Diese Bewegungen verhindern also, dass das Bild auf der Retina verrutscht wenn sich der Kopf oder die visuelle Szene bewegt. Zu dieser Kategorie gehören der vestibulookuläre Reflex (VOR) und der Nystagmus. Der VOR bezeichnet bei einer Drehung des Kopfes die reflektorisch erfolgende, kompensatorische Blickbewegung der Augen zur Gegenseite, um die Blickfixierung zu gewährleisten. Der Nystagmus ist eine schnelle Rückstellbewegung, die die Augen wieder in die Mittelstellung bringen, sobald die Augen ihre maximal Ausrichtung erreicht haben. Er tritt auf, wenn die Augen durch den VOR maximal ausgelenkt werden, er tritt aber auch auf, wenn man bewegte Gegenstände mit den Augen verfolgt oder selbst als bewegtes Objekt (z.B. aus einem fahrenden Zug) fixe Objekte beobachtet.
7.2 – Steuerung
Die Augen werden durch insgesamt 12 Muskeln (je 6 Muskeln pro Auge) gesteuert.
Jede Augenbewegung ist durch ihre Bewegungsrichtung und ihre Grösse (=Amplitude) charakterisiert. Die Richtung und die Amplitude der Augenbewegungen werden unabhängig voneinander gesteuert. Wie weit sich die Augen bewegen, also die Amplitude, hängt von der Dauer der Aktivität der unteren Motoneurone ab. Je länger die Feuerfrequenz dieser Neurone erhöht ist, desto grösser ist die Kontraktion der innervierten Augenmuskeln und desto grösser ist die Augenbewegung. Die Richtung der Augenbewegung hängt davon ab, welche Augenmuskeln aktiviert werden. Zwei sogenannte Blickzentren im Hirnstamm koordinieren die Augenbewegungen des linken und rechten Auges. Das horizontale Blickzentrum steuert die Augen nach links und rechts, während das vertikale Blickzentrum die Augen nach oben und unten bewegt. Diagonale Bewegungen der Augen werden durch die koordinierte Aktivität der beiden Blickzentren gesteuert. Beide Blickzentren liegen in der retikulären Formation (=Formatio reticularis) im Hirnstamm.
7.3 – Sakkaden
Wie bereits erwähnt, sind Sakkaden schnelle, ballistische Bewegungen, welche einen ruckartigen Wechsel der Blickrichtung ermöglichen. Dabei reichen die Sakkaden-Amplituden von ganz kleinen Bewegungen, wie beispielsweise während des Lesens, bis hin zu grossen Bewegungen, wenn ein Raum erkundet wird. Sakkaden können sowohl willkürlich, als auch reflektorisch ausgelöst werden, je nachdem ob der Cortex in der Steuerung der Sakkade involviert ist oder nicht.
Abbildung 7.3 zeigt den zeitlichen Verlauf einer Sakkade. Die rote Linie zeigt die Position eines Stimulus, welcher abrupt nach rechts springt. Die blaue Linie zeigt die Bewegung der Augen, welche dem Objekt folgen. Die Augenbewegung beginnt mit einer Verzögerung von zirka 200ms nachdem sich das Objekt bewegt hat. In dieser Zeit wird die Amplitude und Richtung der auszuführenden Sakkade berechnet. Dadurch wird ein Bewegungsplan und -befehl erstellt, wie weit und in welche Richtung die Sakkade auszuführen ist. Während der Augenbewegung werden keine visuellen Stimuli mehr wahrgenommen, weshalb keine weiteren Sakkaden ausgelöst werden können. Das heisst man ist effektiv für einige Millisekunden „blind“.
Oft werden Sakkaden ausgelöst, wenn etwas im Gesichtsfeld die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich lenkt und der Betrachter entsprechend die Augen zur genaueren Betrachtung dieses Gegenstandes bewegt. Wie wird nun aber die sensorische Information des visuellen Stimulus in eine korrespondierende Aktivität des vertikalen und horizontalen Blickzentrums umgewandelt, um eine Sakkade mit entsprechender Amplitude und Richtung auszulösen? Bis heute sind zwei Regionen des Gehirns bekannt, welche für die Initiierung und Genauigkeit der Sakkaden zuständig sind: der Colliculus superior und das frontale Augenfeld.
Beide Regionen haben Verbindungen zum horizontalen sowie zum vertikalen Blickzentrum. Die Neurone beider Regionen zeigen eine erhöhte Aktivität kurz vor der Ausführung einer Sakkade. Diese Aktivierung des Colliculus superior oder des frontalen Augenfeldes führt zu einer Produktion von Sakkaden mit einer bestimmten Richtung und Amplitude. In beiden Regionen werden spezifische Bewegungen und keine individuellen Muskeln kodiert. Dieses Prinzip haben Sie bereits im primären motorischen Cortex (M1) kennen gelernt.
7.3.1 – Colliculus superior
Der Colliculus superior ist aus verschiedenen Schichten aufgebaut. Dabei befindet sich in der obersten Schicht eine visuelle Karte des Gesichtsfeldes, welche die visuellen Stimuli repräsentiert. In der unteren Schicht befindet sich eine motorische Karte, welche für die Auslösung der Sakkaden zu den in der sensorischen Karte repräsentierten Stimuli zuständig ist.
Die visuelle Karte entsteht durch alle visuellen Informationen, welche der Colliculus superior von der Retina durch Abzweigungen des Tractus opticus erhält. Diese Abzweigungen schaffen im Colliculus superior eine Repräsentation des Gesichtsfeldes. Der Colliculus superior enthält also eine visuelle topographische Karte, d.h. jeder Punkt dieser visuellen Karte wird durch einen visuellen Stimulus an einer bestimmten Position des Gesichtsfelds maximal aktiviert. Der Colliculus superior enthält auch eine motorische Karte, welche die Sakkaden auslöst. Diese visuelle Karte ist in Einklang mit der motorischen Karte des Colliculus superior. Verbindungen zwischen der visuellen und motorischen Karte ermöglichen eine effiziente Transformation von visuellen Signalen in motorische Signale. Reagieren bestimmte visuelle Zellen im Colliculus superior beispielsweise auf einen visuellen Stimulus an einem bestimmten Ort im Gesichtsfeld, so aktivieren diese visuellen Zellen jene motorischen Zellen, welche die Sakkade zu dem Ort des Gesichtsfelds steuert wo der visuelle Stimulus registriert worden ist.
Die Aktivität der Neurone in der visuellen Karte des Colliculus superior ist aber nicht zwingend notwendig um Sakkaden auszulösen. Sakkaden treten nämlich auch im Dunkeln ohne jegliche visuelle Stimuli auf. Diese Sakkaden werden durch diverse andere, nicht-visuelle Inputs zum Colliculus superior ausgelöst. Beispielsweise durch das frontale Augenfeld.
7.3.2 – Frontales Augenfeld
Während der Colliculus superior eher reflexartige Augenbewegungen steuert, spielt das frontale Augenfeld eine Rolle bei der bewussten Steuerung der Augenbewegungen. Dabei integriert es komplexere Informationen wie Bewertung und Erinnerung in die Entscheidung für die Augenbewegung mit ein. Das frontale Augenfeld ermöglicht es uns zum Beispiel einen bestimmten Reiz auszuwählen und unsere Augen auf diesen Reiz auszurichten, auch wenn andere ablenkende Reize im Gesichtsfeld vorhanden sind. Stellen Sie sich vor, Sie möchten eine bestimmte Seite in einem Buch aufschlagen, dann können Sie Ihre Aufmerksamkeit ganz gezielt auf den Bereich der Seiten im Buch lenken, in dem die Seitenzahlen stehen und blenden die restliche Information auf der Seite jeweils aus. Das frontale Augenfeld kann aber auch Sakkaden an erinnerte Punkte im Gesichtsfeld auslösen, selbst wenn dort kein Reiz mehr vorhanden ist. Dafür muss es Gedächtnisinhalte abrufen können.
Das frontale Augenfeld ist Teil des prämotorischen Cortex, also des Teils vom Cortex, der für die Bewegungsplanung wichtig ist. Einerseits hat das frontale Augenfeld direkte Verbindungen zu den beiden Blickzentren, andererseits hat es Verbindungen zum Colliculus superior. Somit kann das frontale Augenfeld die Augenbewegungen in Abhängigkeit des Colliculus superior oder auch selbständig kontrollieren.
Um die Funktion des frontalen Augenfelds zu untersuchen, wurde ein Affe trainiert seine Aufmerksamkeit auf einen roten Punkt zu lenken, obwohl andere ablenkende Reize in Form von grünen Punkten im Gesichtsfeld vorhanden sind. Während der Aufgabe wurde ein einzelnes Neuron im frontalen Augenfeld abgeleitet. Das genaue Experiment und dessen Interpretation finden sie im Arbeitsauftrag 4 im Kapitel Augenbewegungen im Übungsskript.
7.3.3 – Läsionen des Colliculus superior und des frontalen Augenfeldes
Läsionen des Colliculus superior führen zur Unfähigkeit, Express-Sakkaden durchzuführen. Express-Sakkaden werden im Gegensatz zu normalen Sakkaden bereits nach 100ms reflexartig ausgelöst, wenn ein salienter Stimulus erscheint. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Sie in einem dunklen Raum sitzen und plötzlich ein Lichtpunkt erscheint. Eine reflexartige Express-Sakkade wird ihren Blick sofort zum Stimulus lenken. Ist hingegen das frontale Augenfeld beschädigt, so führt dies zu Problemen, Sakkaden in Abwesenheit eines visuellen Stimulus auszuführen. D.h. die Ausführung von Sakkaden zu erinnerten Zielpunkten oder Anti-Sakkaden (d.h. Sakkade weg von einem Stimulus) sind beeinträchtigt. Sind der Colliculus superior und das frontale Augenfeld beschädigt, können keine Sakkaden mehr ausgeführt werden.
7.4 – Blickstabilisierung
Sie haben jetzt die Augenbewegungen kennengelernt, welche eine Blickverschiebung ermöglichen. Im folgenden widmen wir uns den Augenbewegungen, welche den Blick stabilisieren, also dem vestibulookulären Reflex (VOR) und dem Nystagmus.
7.4.1 – Vestibulookulärer Reflex (VOR)
Drehen wir den Kopf zu einer Seite, so muss eine gleichzeitige kompensatorische Augenbewegung zur Gegenseite mit derselben Geschwindigkeit erfolgen, wenn wir den Blick stabilisieren wollen. Diese reflektorische Bewegung der Augen wird als vestibulookulärer Reflex (VOR) bezeichnet. Den VOR haben wir bereits im Kapitel Cerebellum kennengelernt. Er wird durch vestibuläre Signale aus den Bogengängen ausgelöst.
Die Bogengänge können durch ihre runde Form Drehbeschleunigung detektieren. Drehbeschleunigung entsteht, wenn wir unseren Kopf hin und her schwenken oder wenn wir in einem sich drehenden Karussell sitzen. Die Bogengänge sind auf den gegenüberliegenden Seiten des Kopfes spiegelbildlich angeordnet. Durch diese spiegelbildliche Anordnung werden die Sinneshärchen auf den beiden Kopfseiten jeweils in die entgegengesetzte Richtung ausgelenkt. Eine Drehbeschleunigung des Kopfs führt also in den primären Afferenzen des Bogengangs der einen Seite zu einer Depolarisation und in den primären Afferenzen des Bogengangs der anderen Seite zu einer Hyperpolarisation. Dieser Unterschied in der Feuerrate der Bogengänge ist der sensorische Input, der den VOR auslöst. Je stärker die Drehbeschleunigung, desto grösser der Unterschied in der Feuerrate der Neurone und umso stärker die kompensatorische Augenbewegung.
7.4.2 – Nystagmus
Unsere Augen können sich nicht endlosweit in eine Richtung drehen. Sobald die Augen maximal zur Seite ausgerichtet sind, werden sie über einen Nystagmus, also eine schnelle Rückstellbewegung, wieder in die Mittelstellung zurückgeholt. Diese zuckenden Augenbewegungen sind von aussen betrachtet besonders auffällig.
Wird ein Nystagmus bei einer Person beobachtet, die sich nicht oder nur wenig bewegt, dann spricht man von einem pathologischen Nystagmus. Er ist ein Hinweis dafür, dass etwas mit dem Gleichgewichtsorgan oder den vestibulären Afferenzen nicht stimmt. Eine Läsion der vestibulären Afferenzen kann zum Beispiel dazu führen, dass die Feuerrate der vestibulären Afferenz der einen Körperseite im Vergleich zur vestibulären Afferenz der anderen Körperseite schwächer ist. Das löst eine langsame Augenbewegung (VOR) zu der Seite der Läsion und einen Nystagmus zur gesunden Seite aus. Es kann auch passieren, dass sich Kristalle in der Endolymphe der Bogengänge bilden. Da die Kristalle eine andere Dichte haben, löst ihre Bewegung irreführende Signale in den afferenten Nervenfasern aus. Dies führt bei den betroffenen Personen zu einem sehr unangenehmen Schwindelgefühl, das ebenfalls mit einem Nystagmus einhergeht.
Ein Nystagmus kann aber auch künstlich ausgelöst werden um die Funktion der vestibulären Afferenzen und des Hirnstamms zu testen. So kann zum Beispiel bei komatösen Patienten die Funktionsfähigkeit des Hirnstamms eingeschätzt werden. Da dazu erwärmtes oder abgekühltes Wasser in den äusseren Gehörgang eingelassen wird, spricht man von einem kalorischen Nystagmus. Im Arbeitsauftrag 6 im Kapitel Augenbewegungen im Übungsskript erfahren Sie welche physiologischen Vorgänge zum kalorischen Nystagmus führen.