Im letzen Kapitel (Autonome Kontrollsysteme und hierarchische Willkürkontrolle) haben Sie sich mit der autonomen Motorik des Rückenmarks befasst und Sie haben die motorischen Bahnsysteme kennengelernt, die aus dem Hirnstamm und Cortex absteigen. In diesem Kapitel werden wir uns mit den motorischen Funktionen des Cortex beschäftigen. Der Cortex ist der jüngste und am höchsten organisierte Teil unseres Nervensystems und der wichtigste Unterschied zur Motorik des Rückenmarks und des Hirnstamms besteht darin, dass der Cortex uns bewusste und zielgerichtete Bewegungen ermöglicht.
Lernziele
- Sie kennen den Aufbau der grauen Substanz des Cortex und wissen welche Funktionen die Zellen in den Schichten III, IV und V haben.
- Sie verstehen die Experimente zur Organisation und Funktion des motorischen Cortex.
- Sie kennen die Lage und die Funktion des primären motorischen Cortex (M1) und des prämotorischen Cortex (PM).
2.1 – Aufbau
Wie das Rückenmark, so besteht auch der Cortex aus grauer Substanz, die Zellkörper enthält und weisser Substanz, in der Axone verlaufen. In der grauen Substanz fallen besonders die grossen pyramidenförmigen Zellkörper der Pyramidenzellen auf, ihre Axone können den Cortex verlassen und Information an andere Strukturen des zentralen Nervensystems vermitteln. Sie bilden unter anderem den Tractus corticospinalis und dem Tractus corticobulbaris.
Die graue Substanz des Cortex wird mikroskopisch in sechs Schichten eingeteilt, die von aussen nach innen nummeriert sind. In den Schichten I und II sind die Fasern hauptsächlich parallel zur Oberfläche angeordnet. Diese parallelen Fasern verbinden verschiedene Cortexbereiche. Auch die Schicht III ist wichtig für die Vernetzung der verschiedenen Cortexschichten. Hier liegen Pyramidenzellen, die mit anderen cortikalen Zellen verbunden sind und deren Axone den Cortex nicht verlassen. In der Schicht IV enden viele sensorische Afferenzen. Die Zellen, die hier liegen, sind der Eintrittspunkt für sensorische Information. Entsprechend ist diese Schicht in den sensorischen Primärfeldern stark ausgebildet und sie spielt im motorischen Cortex keine zentrale Rolle. In der Schicht V liegen sehr grosse Pyramidenzellen mit langen Axonen, die den Cortex verlassen und die wichtigen motorische Bahnen bilden (Tractus corticospinalis und Tractus corticobulbaris). Diese Zellschicht ist im primär motorischen Cortex besonders stark ausgebildet.
2.1.1 – Motorischer Homunkulus
Der primär motorische Cortex enthält eine räumliche Karte der menschlichen Muskulatur bei der benachbarte Körperteile nebeneinander repräsentiert sind. Eine solche Gliederung von Nervengewebe wird als somatotope Organisation bezeichnet und kommt im zentralen Nervensystem häufig vor. Eine Karte, welche die komplette Körperoberfläche abbildet, wird auch als Homunkulus bezeichnet, das lateinische Wort für kleiner Mensch. Allerdings sind die Proportionen der Körperteilrepräsentationen in primär motorische Cortex verzerrt. Körperteile die für die Ausführung besonders feiner und genauer Bewegungen zuständig sind (z.B. Hand, Zunge) haben eine grössere Repräsentation als solche die eher für die Grobmotorik verantwortlich sind (z.B. Rumpf).
2.2 – Methoden zur Untersuchung des Cortex
Der motorische Homunkulus suggeriert, dass die Neurone im primär motorischen Cortex verschiedene Muskeln des Körpers repräsentieren und diese einzeln ansteuern. Heute weiss man jedoch, dass die Organisation des primär motorischen Cortex komplizierter ist. Diverse Studien mit Affen konnten die genauen Funktionen des primär motorischen Cortex enthüllen.
2.2.1 – Elektrische Stimulation des Cortex
Die Einführung der intrakortikalen (d.h. innerhalb des Cortex) elektrischen Stimulation in den 60er Jahren ermöglichte, die somatotope Karte im primär motorischen Cortex genauer zu untersuchen. Bei einer geringen Stimulationsintensität wurde nur ein kleines Gebiet des primär motorischen Cortex angesprochen. Dies führte jedoch zu einer unterschiedlich starken Aktivierung mehrerer Muskeln. Wie Abbildung 2.3 zeigt, liegen die Repräsentationen von Finger-, Handgelenk-, Arm- und Schultermuskulatur in der Realität viel mehr „durcheinander“ als dies der motorische Homunkulus suggeriert. Folglich sind die Repräsentationen verschiedener Muskeln im primär motorischen Cortex nicht klar abgegrenzt, sondern liegen „durcheinander“.
In einem weiteren Experiment platzierte man bei Affen Elektroden dauerhaft in den primär motorischen Cortex, wodurch verschiedene Gebiete über längere Zeit stimuliert werden konnten. Diese Stimulation führte dazu, dass die Affen elementare Bewegungsabläufe ausführten (Abbildung 2.4). Die Neurone im primär motorischen Cortex repräsentieren also nicht Muskeln, die sie einzeln ansteuern. Sondern sie beeinflussen neuronale Schaltkreise um spezifische Bewegungen zu koordinieren.
2.2.2 – Ableitung einzelner Neurone des Cortex
Eine weitere Möglichkeit die Funktion des primär motorischen Cortex zu untersuchen bestehet darin bestimmte Bewegungen zu provozieren und dabei die Aktivität einzelner Neurone abzuleiten. Wenn ein Neuron für die Ausführung der Bewegung eine Rolle spielt, dann kann man eine Änderung in der Feuerrate dieses Neurons detektieren. In diesem Experiment hielten die Affen einen Hebel und führten eine Extension des Handgelenks aus. Dabei wurde sowohl die Aktivität eines für die Handgelenkextension als auch eines für die Handgelenkflexion zuständigen Neurons aufgezeichnet (Abbildung 2.5).
Das Hangelenkextensions-Neuron begann kurz vor und während der Bewegungsausführung stärker zu feuern als in der neutralen Stellung. Das Handgelenkflexions-Neuron veränderte seine Aktivität vor und während der Bewegung nicht.
Führte man nun dasselbe Experiment mit einem Gewicht durch war die Aktivität im Handgelenkextensions-Neuron bereits vor der Handgelenkextension höher, da die Halteleistung in der neutralen Position durch das Gewicht grösser ist. Wurde nun die Handgelenkextension durchgeführt, so wurde die Aktivität im Handgelenkextensions-Neuron wieder kurz vor und während der Bewegungssauführung stärker. Im Vergleich zur ersten Situation war die Feuerfrequenz des Hangelenkextensions-Neurons während der Handgelenkextension wesentlich grösser.
In diesem Experiment wurde also einen Zusammenhang zwischen dem Feuern von Neuronen im primär motorischen Cortex und der Ausführung einer Bewegung hergestellt. Zusätzlich konnte man zeigen, dass die Neurone im primär motorischen Cortex die Kraft, die für die Ausführung der Bewegung nötig ist kodieren. Dass die Neurone im Cortex kurz vor der Bewegungsausführung feuern, ist dadurch erklärbar, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis das Signal die unteren Motoneurone erreicht. Diese bringen dann durch ihre Aktivität den Muskel zur Kontraktion. Dieser einfache Zusammenhang zwischen dem Feuern von Neuronen im primär motorischen Cortex und Muskelkontraktionen kann nur bei Eingelenksbewegungen so gut dargestellt werden. In der Realität sind die meisten Bewegungen jedoch komplizierter.
2.2.3 – Richtungsspezifisches Tuning
Das oben beschriebene Experiment hat gezeigt, dass es Neurone im primär motorischen Cortex gibt, die bei bestimmten Bewegungen feuern. Könnte man dann an der Aktivität der Neurone ablesen, welche Bewegung gemacht wird? Also in anderen Worten, kann man die Gedanken des Affen lesen um herauszufinden welche Bewegung er macht?
Um das zu untersuchen wurde eine Affe trainiert einen Hebel aufgrund eines Lichtsignals zu einem von 8 Zielpunkten zu führen. Während dieser komplexen, mehrgelenkigen Bewegung wurde die Aktivität von einem Neuron im primär motorischen Cortex aufgezeichnet. Abbildung 2.7 zeigt die Aufzeichnungen der Aktivität des Neurons während der Bewegungen in die verschiedenen Richtungen. Zum Zeitpunkt 0 wurde die Bewegung zum Lichtsignal ausgeführt. Jede Bewegungsrichtung wurde mehrmals aufgezeichnet.
Schauen wir uns die Aktivität des Neurons bei Bewegungen zu 180° an. Das Neuron erhöht seine Aktivität vor und während der Bewegungsausführung (gelber Bereich). Wird die Bewegung nun zu den 0° ausgeführt, vermindert dasselbe Neuron seine Aktivität vor und während der Bewegungsausführung (blauer Bereich). Wenn wir uns alle Richtungen anschauen stellen wir fest, dass das Neuron bei Bewegungen in die Richtung zwischen 90° und 225° seine Aktivität erhöht (gelbe Bereiche), bei Bewegungen in die Richtung zwischen 45° bis 315° seine Aktivität vermindert (blaue Bereiche). Diese richtungsspezifische Erhöhung oder Verminderung der Aktivität nennt man richtungsspezifisches Tuning.
2.2.4 – Populationskodierung
Die Aktivität eines einzelnen Neurons ist allerdings sehr ungenau und reicht nicht aus um die Bewegungsrichtung vorauszusagen. Es wurde deshalb getestet, ob die Bewegungsrichtung durch Betrachten der gemeinsamen Aktivität einer Neuronenpopulation bestimmt werden kann. Dazu wurde die Aktivität von mehr als 200 verschiedenen Neuronen gemessen während der Affe den Hebel in die verschiedenen Richtungen bewegte. Die Aktivität einer jeden Zelle wurde mithilfe eines Richtungsvektors dargestellt, der in die Richtung zeigt, auf die die Zelle optimal reagierte. Die Länge des Richtungsvektors gab Aufschluss darüber, wie aktiv die Zelle während einer bestimmten Bewegung gewesen war. Die Vektoren, die die Aktivität der einzelnen Zellen repräsentieren, wurden für jede Bewegungsrichtung grafisch dargestellt und gemittelt, sodass sich ein sogenannter Populationsvektor ergab. Der Populationsvektor zeigt an in welche Richtung die Bewegung ausgeführt wurde.
Wenn man also die richtungsspezifische Aktivität mehrerer Neurone im primär motorischen Cortex vergleicht, kann man die Bewegungsrichtung des Armes voraussagen. Dieses Prinzip wird Populationskodierung genannt, d.h. motorische Handlungen werden durch Gruppen (=Populationen) von Neuronen repräsentiert. Das Prinzip der Populationskodierung kommt im zentralen Nervensystem häufig vor und wird uns in späteren Kapiteln wieder begegnen.