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16 Hierarchische Willkürkontrolle

Im Kapitel Spinalmotorik haben wir gelernt, dass motorische Reaktionen durch einfache neuronale Verschaltungen im Rückenmark in Gang gesetzt werden können. Diese Schaltkreise sind die einfachsten und entwicklungsgeschichtlich ältesten Struktur des ZNS. Das motorische System ist hierarchisch aufgebaut. Das heisst, dass einfachere, entwicklungsgeschichtlich ältere Strukturen der Kontrolle von komplizierteren, entwicklungsgeschichtlich jüngeren Strukturen unterliegen. Die einfachen Schaltkreise im Rückenmark werden über die oberen Motoneurone von den komplexeren Schaltkreisen des Hirnstamms beeinflusst. Der entwicklungsgeschichtlich jüngste Teil, der Cortex, beeinflusst sowohl die Schaltkreise im Hirnstamm als auch die des Rückenmarks.

Abbildung 16.1 – Hierarchische Struktur des motorischen Systems. Quelle: Eigene Darstellung 2020

16.1 – Ziel- & Stützmotorik

Abhängig von der Funktion der Bewegung wird die Motorik, die über die oberen Motoneurone vermittelt wird, in zwei Kategorien eingeteilt. Den einen Teil führen wir unbewusst aus, wie zum Beispiel die Anspannung der Nackenmuskeln, die es uns ermöglicht, den Kopf aufrecht zu halten. Diese Mechanismen zur Sicherung der Körperhaltung entgegen der Schwerkraft werden als Haltungsmotorik oder Stützmotorik bezeichnet. Bei der Haltungsmotorik werden hauptsächlich axiale und proximale Muskeln kontrolliert. Weil wir uns beim Stehen oder Sitzen ständig aufrecht halten müssen, ist die Wirkung auf diese Muskeln tonisch. Die Muskeln werden zum Beispiel beim Sitzen am Schreibtisch über Stunden hinweg angespannt. Die Haltung- und Stützmotorik erfolgt hauptsächlich durch die Nervenbahnen aus dem Hirnstamm. 

Andererseits fasst die Zielmotorik alle willkürlichen, zielgerichteten Bewegungen zusammen. Wir führen sie bewusst aus, wie zum Beispiel das Greifen nach einem Stift. Für die Zielmotorik benutzen wir Muskeln die distal, also vom Zentrum unseres Körpers entfernt, liegen. Weil bei der Zielmotorik dynamische Bewegungen durchgeführt werden, ist die Muskelaktivität phasisch, dass heisst die Muskelaktivität ändert sich oft. Die bewusste Bewegungssteuerung der Zielmotorik benötigt die Beteiligung des Cortex.

Beide Kategorien interagieren miteinander, da für die Ausführung von Zielmotorik (z.B. einen Fussball treffen) oftmals eine stabile, aufrechte Haltung (Stützmotorik) Voraussetzung ist.

16.2 – Hirnstamm

Wenn wir stehen, sitzen oder laufen, dann wird das Gleichgewicht des Körpers im Gravitationsfeld der Erde normalerweise ohne willkürliche Anstrengung aufrechterhalten. Diese und weitere stützmotorische Aufgaben werden über motorische Kerne im Hirnstamm gesteuert. Die motorischen Hirnstammkerne erhalten von Sinnesorganen, wie zum Beispiel dem Auge, dem Gleichgewichtsorgan oder den Propriozeptoren, Informationen über unsere Umwelt und den Funktionszustand unseres Körpers. Diese Informationen werden im Hirnstamm verarbeitet und Körperbewegungen werden dann über die Aktivität der oberen Motoneuronen entsprechend angepasst. Der Hirnstamm steuert auch die Motorik des Gesichts, den Lidschluss sowie auch den Hustenreflex. Neben den motorischen Funktionen steuert der Hirnstamm noch viele weitere lebenswichtige Funktionen, wie unter anderem die Herzfrequenz, die Atmung und den Schlaf-Wach-Rhythmus. Diese Prozesse werden kontrolliert, ohne dass sie uns bewusst werden.

Abbildung 16.2 – Hirnstamm. Quelle: Mark Bear et al.: Neurowissenschaften, 4.Auflage, Springer Spektrum, 2018, S. 242

Ein Beispiel für die Funktion des Hirnstamms ist der Haltereflex. Haltereflexe sorgen dafür, dass wir eine aufrechte Körperhaltung entgegen der Schwerkraft einnehmen und unser Gleichgewicht auch in verschiedenen Situationen halten können. Dafür ist die Regulation des Muskeltonus von Streck- und Beugemuskeln wichtig. Unser Gleichgewichtsorgan detektiert eine Beschleunigung eines Skateboards (Abbildung 16.3) und leitet die Information an den Hirnstamm weiter. Von hier wird, über die oberen Motoneurone, eine reflektorische Gewichtsverlagerung in Richtung der Beschleunigung und entgegen der Trägheitskraft ausgelöst (B). Die Verzögerung des Skateboards, zum Beispiel durch ein Hindernis, bewirkt eine reflektorische Gewichtsverlagerung in die Gegenrichtung (C). 

Abbildung 16.3 – Reflektorische Körperstellung bei horizontaler Beschleunigung und Abbremsung. Quelle:Schmidt R. et al., Physiologie des Menschen mit Pathophysiologie  (31st ed., 2010), S.538

16.3 – Motorischer Cortex

In den Kapiteln der Sinnesphysiologie haben wir gelernt, dass die afferenten Bahnen aus den verschiedenen Sinnesorganen jeweils in primären Cortex Bereichen enden. Es gibt zum Beispiel einen primären auditorischen Cortex und einen primären visuellen Cortex. Hier enden jeweils die Hör- oder Sehbahnen. Als primäre Cortex Bereiche werden aber auch die Ursprungsorte der motorischen Efferenzen bezeichnet. Im primären motorischen Cortex entspringen die oberen Motoneurone, die in das Rückenmark ziehen und dort über die Aktivität der unteren Motoneurone Einfluss auf die Muskelkontraktionen nehmen.

Wie der primäre somatosensoriche Cortex ist auch der primäre motorische Cortex somatotop organisiert. Das heisst, dass die Neurone im Cortex entsprechend der relativen Lage der Körperteile, die sie ansteuern, gegliedert sind. Die Neurone, die das gleiche Körperteil ansteuern, liegen im Cortex jeweils nebeneinander. Die somatotope Karte des primären motorischen Cortex ist aber ungenauer als die Karte des primären somatosensorichen Cortex. Das liegt daran, dass es im primären motorischen Cortex nicht für jeden einzelnen Muskel ein Neuron gibt. Stattdessen codieren die Neurone für bestimmte Bewegungsabläufe und damit für mehrere Muskeln.

Abbildung 16.4 – Die somatotope Karte des primären motorischen Cortex. Quelle: Mark Bear et al.: Neurowissenschaften, 4.Auflage, Springer Spektrum, 2018, S. 527

Der primäre motorische Cortex liegt vor dem zentralen Sulcus, einer grossen Falte, die zentral durch den Cortex zieht. Vor dem primär motorischen Cortex gibt es noch einen zweiten Bereich, der eine wichtige Rolle für die Motorik spielt, den prämotorischen Cortex. Er ist für die Bewegungsplanung, also für die Entscheidung und Fokussierung darauf eine bestimmte Bewegung zu machen, wichtig. Wenn zum Beispiel Probanden aufgefordert werden, eine Bewegung in Gedanken durchzuführen, ohne dabei die Finger zu bewegen, dann ist der prämotorische Cortex aktiv, aber nicht der primäre motorische Cortex.

16.4 – Die Pyramidenbahn

Im primären motorischen Cortex entspringt der Tractus corticospinalis, die grösste und wichtigste motorische absteigende Bahn. Der Tractus corticospinalis zieht durch den Hirnstamm und teilt sich im unteren Teil des Hirnstamms auf. Der grösste Teil der Axone (90%) kreuzen auf die kontralaterale Seite. Diese Kreuzung wird auch als Pyramidenkreuzung bezeichnet. Nach der Trennung des Tractus corticospinalis steigen die zwei Zweige in unterschiedlichen Bereichen des Rückenmarks herab. Der grössere Teil zieht auf der kontralateralen Seite des Rückenmarks abwärts. Diese Bahn steuert die untere Motoneurone der distalen Extremitäten an, also die Körperteile, die für die Feinmotorik wichtig sind. Der kleinere Teil des Tractus corticospinalis bleibt auf der ipsilateralen Seite. Er steuert, wie die Bahnen des Hirnstamms, die proximalen Muskeln und damit die Haltungsmotorik.

Abbildung 16.5 – Die Pyramidenbahn. Quelle: https://eref.thieme.de/BYMDC

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Anatomie & Physiologie I - Neurophysiologie Copyright © Maria Willecke und Sarah Meissner. Alle Rechte vorbehalten.

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