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4 Mechanorezeption

Wenn wir einen Gegenstand ertasten, den wir nicht sehen können, erhalten wir trotzdem viele Informationen: Grösse, Oberflächenstruktur, Härte, Temperatur und Gewicht ertasten wir in wenigen Sekunden. Dies ermöglichet es uns in unserer Vorstellung ein Bild des Gegenstands zu erzeugen. In unserer Jackentasche können wir zum Beispiel ohne weitere Probleme ein Taschentuch von einer Münze unterscheiden.

4.1 – Eigenschaften der Mechanorezeptoren

In der unbehaarten Haut liegen Mechanorezeptoren mit vier verschiedenen Aussensegmenten. Sie sind darauf spezialisiert unterschiedliche mechanische Reize wie Druck, Dehnung, Berührung und Vibration zu detektieren und unterscheiden sich in der Grösse ihrer rezeptiven Felder, ihrer Adaptationsgeschwindigkeit und ihrer Lage in der Haut.

Abbildung 4.1 – Nervenendigungen der Mechanorezeptoren. Quelle: Biologie der Sinne, S. Frings 2014, S. 252

Meissner-Körperchen und Pacini-Körperchen sind Differentialfühler. Wird eine Reizsonde plötzlich auf die Haut gedrückt, dann reagieren sie sehr schnell, ihre Entladungsfrequenz nimmt jedoch auch schnell wieder ab, obwohl der Reiz noch vorhanden ist. Merkel-Zell-Rezeptoren und Ruffini-Körperchen zählen dagegen zu den Proportional-Differentialfühlern. Sie reagieren stark bei Unterschieden in der Reizstärke, zeigen aber auf langanhaltende Reize auch eine zwar schwächere, aber andauernde Antwort. Dass Mechanorezeptoren adaptieren, können wir daran erkennen, dass wir ein Kleidungsstück, das konstant auf unserer Haut aufliegt, nicht spüren. Wir spüren es nur dann, wenn wir uns bewegen und sich dadurch der Druck der Kleider auf unserer Haut verändert.

Mechanorezeptoren unterscheiden sich auch in der Grösse ihrer rezeptiven Felder. Meissner Körperchen und Merkel-Zellen haben kleine rezeptive Felder und reagieren auf senkrecht zur Haut aufgebrachte Druckreize. Sie können eine genaue räumliche Auflösung liefern. Von diesen Rezeptoren befinden sich besonders viele an unseren Fingerspitzen. Pacini-Körperchen und Ruffini-Körperchen haben grosse rezeptive Felder. Sie sind gleichmässig über die Hand verteilt und liefern zum Beispiel Information über Kanten eines Gegenstands oder über laterale Zugspannung in der Haut.

4.2 – Die Funktion der Mechanorezeptoren am Beispiel der Blindenschrift

Wie Tastinformation von den verschiedenen Mechanorezeptoren verarbeitet wird, lässt sich am Beispiel der Blindenschrift veranschaulichen. Abbildung 4.2 zeigt die Feuerrate der verschiedenen Rezeptoren während ein Finger über die Schriftpunkte gezogen wird. Die Aktivität der Merkel-Zellen gibt eine gute Abbildung der Punkte wieder. Durch ihre kleinen rezeptiven Felder, können sie den Umriss der Punkte gut abbilden und da sie Proportional-Differentialfühler sind, feuern sie während der gesamten Zeit, in der sie sich über dem Punkt befinden. Der Druckunterschied beim Lesen der Blindenschrift ist daher der adäquate Reiz für Merkel-Zell-Rezeptoren. Meissner Körperchen sind Bewegungsrezeptoren. Sie können die Blindenschrift ebenfalls abbilden, da sie als Differentialfühler einen Reiz vermitteln wenn der Finger über die Punkte gezogen wird. Ruffini-Körperchen können die Form der Punkte nicht abbilden. Mit ihren grossen rezeptiven Feldern reagieren sie auf Zugspannung, die in der Haut entsteht, wenn sie über die Punkte gezogen werden. Paccini-Körperchen reagieren auf Vibration die entsteht, wenn die Haut über das Papier reibt. Interessanterweise sieht man, dass sie an den Stellen der Schrift an der sich ein Punkt befindet, weniger feuern. Es ist anzunehmen, dass der Druck der Punkte die Vibration abbremst.

Abbildung 4.2 – Aktivität der Mechanorezeptoren beim lesen der der Blindenschrift. Quelle: Neuroscience, third edition, Sinauer Associates, 2004, verändert 2020

4.3 – Zweipunktdiskrimination

Die Fähigkeit, verschiedene Merkmale eines Reizes in allen Einzelheiten zu unterscheiden, variiert stark über die Körperoberfläche hinweg. Eine einfache Methode, zur Bestimmung des räumlichen Auflösungsvermögens, ist der Zweipunktdiskriminationstest. Man kann diesen Test selbst mithilfe einer U-förmig zurechtgebogenen Büroklammer durchführen. Zunächst sollten die beiden Enden der Klammer einen Abstand von etwa 2,5 cm haben. Wenn man nun die beiden Enden auf eine Fingerkuppe drückt, sollten die zwei separaten Druckpunkte problemlos zu unterscheiden sein. Nun biegt man die beiden Drahtenden schrittweise immer näher zusammen und testet, bei welcher Entfernung man sie nur noch als einen einzelnen Druckpunkt wahrnimmt. Anschliessend kann man diesen Test auch am Handrücken, den Lippen, dem Bein oder beliebigen anderen Körperstellen durchführen und die Ergebnisse vergleichen. Die Zweipunktdiskrimination kann je nach Körperregionen um einen Faktor von 20 variieren, wobei die Fingerkuppen die höchste Auflösung besitzen.

Abbildung 4.3 – Zweipunktdiskrimination auf der Körperoberfläche.  Die minimalen Abstände, die notwendig sind, um zwei simultane Berührungen auf dem Körper noch differenzieren zu können, variieren über die Körperoberfläche. Quelle: Mark Bear et al.: Neurowissenschaften, 4.Auflage, Springer Spektrum, 2018, S. 444, verändert 2020.

 

Exkurs: Adaptation beim Pacini-Körperchen

Pacini-Körperchen adaptieren schnell und ihr adäquater Reiz sind Vibrationen. Ihre Adaptationsfähigkeit verdanken sie ihrem Aussensegment. Es besteht aus einer Kapsel, die sich aus zwiebelschalenartig angeordneten Gewebeschichten zusammensetzt. Die Schichten der Kapsel sind glatt und dazwischen mit einer viskosen Flüssigkeit gefüllt. In der Mitte der Kapsel befindet sich das Ende der Nervenfaser, also der Sensor. Wird mit einer Reizsonde Druck auf die Kapsel ausgeübt, tritt eine Verformung der Kapsel ein, die sich auf die Membran der Nervenendigung auswirkt. Ionenkanäle werden geöffnet und es kommt zu einer Depolarisation. Bei gleichbleibender Reizintensität gleiten die Schichten der Kapsel jedoch übereinander. Dadurch wird die Reizenergie so umgelagert, dass keine Verformung des Sensors mehr stattfindet und somit das Rezeptorpotenzial nicht erhalten bleibt. Nimmt der mechanische Druck nun wieder ab, verändert sich die Reizenergie erneut. Der Sensor depolarisiert und weitere Aktionspotenziale können erzeugt werden.

Abbildung 4.4 – Adaptation des Pacini-Körperchens. Ein einzelnes Pacini-Körperchen wurde isoliert und mit einer Testsonde durch einen kurzen Druck stimuliert. Das Rezeptorpotenzial im benachbarten Axonbereich wurde aufgezeichnet. Man erhält jeweils grosse Rezeptorpotenziale zu Beginn und Ende der Reizgabe, während bei andauernder Reizeinwirkung keine weiteren Rezeptorpotenziale gebildet werden. Quelle: Mark Bear et al.: Neurowissenschaften, 4.Auflage, Springer Spektrum, 2018, S. 442

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Anatomie & Physiologie I - Neurophysiologie Copyright © Maria Willecke und Sarah Meissner. Alle Rechte vorbehalten.

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