Der Geschmackssinn ist ein chemisches Frühwarnsystem, welches das im Mund befindliche Material während des Kauens einer Schnelluntersuchung unterzieht. Dabei ist die alles entscheidende Frage: Eignet sich ein Material als Nahrung oder nicht? Zu bittere oder zu saure Dinge können wir nicht schlucken. Der Geschmack von Süssem oder Salzigem dagegen belohnt uns mit einem Wohlgefühl.
Lernziele
- Sie kennen den Aufbau und die Verteilung der verschiedenen Geschmacksknospen.
- Sie können den Mechanismus der Geschmackstransduktion der verschieden Geschmacksrezeptoren vergleichen und wissen um deren Besonderheiten.
- Sie kennen die Modelle der Geschmackskodierung und können beschreiben, wie und mit welchem Ergebnis diese Modelle experimentell getestet wurden.
10.1 – Geschmacksrichtungen
Unser Geschmackssinn hat sich im Laufe der Evolution darauf spezialisiert, Nahrungsquellen von potenziellen Giften zu unterscheiden. Wir bevorzugen süssen und salzigen Geschmack, saure und bittere Substanzen werden instinktiv zurückgewiesen. Tatsächlich sind viele Gifte bitter. Unsere Instinkte können jedoch durch Erfahrungen verändert werden und wir können lernen, bitteren Geschmack zu tolerieren oder sogar zu geniessen, wie etwa bei Koffein oder Chinin.
Die Anzahl der verschiedenen chemischen Geschmacksstoffe und die Vielfalt möglicher Aromen erscheinen praktisch unbegrenzt. Dennoch können wir nur einige wenige Grundgeschmacksrichtungen erkennen. Die vier bekannten sind salzig, sauer, süss und bitter. Der weniger bekannte fünfte Geschmack ist umami, was auf Japanisch so viel bedeutet wie „köstlich“. Er ist durch den angenehmen Geschmack der Aminosäure Glutamat definiert, welchen man zum Beispiel beim Verzehr von Fleisch wahrnimmt. In Geschmacksverstärkern wird der Umami Geschmack über Natriumglutamat vermittelt. Entgegen der allgemeinen Meinung, dass jeder Geschmack in einer bestimmten Zone der Zunge wahrgenommen werden kann, sind die Rezeptoren für jede Geschmacksrichtung auf der gesamten Zunge verteilt. Allerdings hat es an bestimmten Orten mehr Geschmacksknospen für einzelne Geschmäcker. Somit gibt es für die entsprechenden Geschmäcker bevorzugte Repräsentationszonen auf der Zunge.
10.2 – Papillen & Geschmacksknospen
Die Zunge enthält verschiedenförmige Ausstülpungen, in welchen sich die Geschmacksstoffe „verfangen“ damit die Geschmacksrezeptoren sie dann detektieren können. Diese verschiedenen Arten von Ausstülpungen werden Papillen genannt. Es werden vier morphologische Formen unterschieden: die Pilzpapillen, die Blätterpapillen, die Wallpapillen und die Fadenpapillen. Pilzpapillen sind über die ganze Zunge verstreut. Entsprechend ihrem Namen ragen sie wie kleine Pilze aus der Zunge. Die Blätterpapillen sind in ihrer Form den Pilzpapillen sehr ähnlich, jedoch sind sie mit viel mehr Geschmacksknospen bestückt. Sie befinden sich am äusseren Zungenrand. Von den grossen Wallpapillen gibt es nur 7-12 Stück, welche sich an der Grenze zum Zungengrund befinden. Sie sind etwas tiefer in die Zunge eingelassen und enthalten viele Geschmacksknospen. Die anderen Ausstülpungen, die wir im Spiegel erkennen können, wenn wir unsere Zunge betrachten, sind Fadenpapillen, welche nur eine taktile Funktion übernehmen. Sie sind über die ganze Zunge verteilt.
Eine Geschmacksknospe ist eine kleine „Nische“, die in das Zungenepithel eingelassen ist. Sie enthält neben Stütz- und Basalzellen 10-50 verschiedene Geschmackszellen, d.h. Sinneszellen die Geschmacksmoleküle wahrnehmen. Geschmackszellen sind wie Orangenstücke mit fingerförmigen Fortsätzen (sogenannten Microvilli) angeordnet die in die Geschmackspore, eine kleine Öffnung der Epitheloberfläche, hineinragen. Über die Geschmackspore, erreichen der Speichel und die darin gelösten Stoffen Zugang zu den Microvilli der Geschmackszellen die mit vielen Geschmacksrezeptoren besetzt sind. Jede Geschmacksknospe enthält teilungsfähige Stammzellen, welche die Geschmackszellen ungefähr alle acht bis zehn Tage erneuern. Insgesamt gibt es ca. 2000-4000 Geschmacksknospen auf der menschlichen Zunge, welche allerdings mit dem Alter degenerieren.
10.3 – Geschmackstransduktion
Für jeden der fünf Gechmacksrichtungen besitzen wir spezifische Rezeptoren. Dabei erfolgt die Signalwandlung für salzig und sauer anders als für süss, bitter und umami.
10.3.1 – Salzig und sauer
Ein typischer Vertreter der salzig schmeckenden chemischen Verbindungen ist Kochsalz (NaCl). Salzempfindliche Geschmackszellen besitzen einen speziellen Natriumkanal. Er unterscheidet sich von den spannungsgesteuerten Natriumkanälen, da er im Allgemeinen geöffnet ist. Wenn man einen Schluck Hühnersuppe trinkt, steigt die Na+ Konzentration ausserhalb der Geschmackszelle, und der Na+ Gradient quer zur Membran wird grösser. Na+ diffundiert dann entlang des Gradienten und fliesst verstärkt in die Zelle. Der so entstehende einwärtsgerichtete Strom führt zu einer Depolarisation der Membran. Geschmackszellen sind sekundäre Sinneszellen, das heisst sie haben kein eigenes afferentes Axon um Aktionspotentiale zur ZNS weiterzuleiten. Deshalb bewirkt die Depolarisation der Geschmackszellen, dass sich spannungsabhängige Calciumkanäle öffnen. Durch die geöffneten Calciumkanäle gelangt Ca2+ in die Geschmackszelle und löst dort die Freisetzung von Transmittermolekülen aus präsynaptischen Vesikeln aus. Diese Transmitter wirken auf nachgeschaltete afferente Neurone. In den afferenten Neuronen werden Aktionspotentiale gebildet, die das Signal ins ZNS leiten.
Nahrungsmittel schmecken sauer, wenn sie einen hohen Säuregehalt aufweisen. Säuren wie HCl sind in Wasser löslich und erzeugen Protonen (H+ Ionen). Diese Protonen gelangen durch spezielle H+Kanäle in die Geschmackszellen. Wie in den salzempfindlichen Geschmackszelle kommt es durch den Einstrom von positiv geladenen Ionen zu einer Depolarisation der Geschmackszelle, die zur Öffnung von spannungsgesteuerten Calciumkanälen und der damit verbundenen Transmitterauschüttung führt.
10.3.2 – Süss, bitter und umami
Beim Sauer- und beim Salzgeschmack finden wir die einfachste Variante der Signalwandlung: Das Rezeptorprotein ist gleichzeitig der Ionenkanal, dessen Aktivierung zur Erregung der Zelle führt. Bei den Geschmacksstoffen, die die Geschmacksrichtungen süss, bitter und umami vermitteln, ist das anders. Sie verwenden die etwas kompliziertere Variante der Signalvermittlung über einen Rezeptor und eine Second-Messenger-Kaskade.
Beim Menschen werden bittere Substanzen von etwa 25 verschiedenen Rezeptortypen erkannt. Bitterstoffrezeptoren sind Giftdetektoren, und da wir so viele davon besitzen, können wir eine grosse Vielfalt von giftigen Substanzen erkennen. Zur Detektion der Geschmacksstoffe für die Geschmacksrichtung süss oder umami expremieren die Geschmackszellen dagegen jeweils nur einen Geschmacksrezeptor.
Wenn ein Geschmacksstoff an einen passenden Geschmacksrezeptor bindet, aktiviert dieser über eine Second-Messenger-Kaskade einen besonderen Ionenkanaltyp, der nur in Geschmackszellen vorkommt. Er öffnet sich und lässt Na+ einströmen, was zur Depolarisation der Geschmackszellen führt. Zudem werden Ca2+ -Ionen aus zellinternen Speichern freigesetzt. Den Geschmackszellen für bitter, süss und umami fehlen die herkömmlichen transmittergefüllten präsynaptischen Vesikel. Stattdessen aktiviert die Zunahme von Ca2+-Ionen in der Zelle einen speziellen Membrankanal, der den Ausstrom von ATP aus der Zelle ermöglicht. Dieses ATP dient als synaptischer Transmitter und aktiviert Rezeptoren an den nachgeschalteten primären afferenten Neuronen.
Ziehen Sie die Textboxen an die entsprechenden Stellen der Bilder um die Transduktionsmechanismen in den Geschmackszellen darzustellen. Sie können die Übung oben rechts vergrössern.
10.4 – Geschmackskodierung
Die Geschmackszellen werden von Geschmacksstoffen erregt und aktivieren so nachgeschaltete afferente Nervenfasern. Aber wie wird die Information der fünf verschiedenen Geschmacksstoffe im Nervensystem verarbeitet? Wird die Information der einzelnen Geschmacksreize in separaten Nervenfasern an das Gehirn geleitet oder wird die Information gemischt?
Aktuell gibt es zwei Modelle bezüglich der Geschmackskodierung in den Geschmacksknospen: Das Labelled-line Modell und das Across-fibre Modell.
Labelled-line Modell
Jede Geschmackszelle in den Geschmacksknospen ist spezifisch für eine der fünf Geschmacksrichtungen süss, sauer, bitter, salzig und umami (verschiedene Farben der Zellen). Jede einzelne Geschmackszelle ist mit einer individuellen afferenten Nervenbahn verbunden. So kann jede Zelle eine spezifische Geschmacksrichtung kodieren und die Information direkt ans Gehirn weiterleiten (verschiedene Farben der Axone).
Across-fiber Modell
Beim Across-fibre Modell gibt es zwei unterschiedliche Theorien.
- Jede Geschmackszelle ist spezifisch für eine Geschmacksrichtung (verschiedene Farben der Zellen). Die afferenten Nervenfasern sind aber mit einem komplexen Muster aus mehreren Geschmackszelle verbunden und kodieren daher für verschiedene Geschmacksrichtungen (graue Axone).
- Die einzelnen Geschmackszellen kodieren für unterschiedliche Geschmacksrichtungen (graue Zellen). Daher kodieren auch die afferenten Nervenfasern, welche mit den Geschmackszellen verbunden sind, für mehrere Geschmacksrichtungen (graue Axone).
Um zwischen diesen Modellen zu unterscheiden wurden Experimente durchgeführt, in denen Geschmackszellen mit salzigen (NaCl), bitteren (Chinin), sauren (HCl) und süssen (Saccharose) Geschmacksreizen stimuliert wurden. Dabei wurde zum einen das Rezeptorpotential der Geschmackszellen (a) und zum anderen die Aktionspotentialfrequenz der primären Afferenzen (b) mit Elektroden abgeleitet (jeder senkrechte Strich stellt ein einzelnes Aktionspotenzial dar).
Schauen Sie sich das Ergebnis dieses Experiments an und beantworten Sie die Fragen weiter unten.
Dieses und andere Experimente haben gezeigt, dass man nicht eindeutig zwischen den oben beschriebenen Modellen unterscheiden kann. Während es einzelne Zellen gibt, die spezifisch für eine Geschmacksrichtung sind, reagieren die meisten Zellen auf mehrere Geschmacksrichtungen. Welchen Vorteil bringt eine Vermischung der Geschmacksinformationen? Wenn jede Geschmacksrichtung getrennte Geschmackszellen und getrennte Nervenbahnen nutzt, dann werden viele Nervenbahnen benötigt, um eine eindeutige Information über die Qualität und Konzentration der Geschmacksreize zu vermitteln. Wenn jedoch jede Zelle, in einer grossen Gruppe von Zellen, etwas anders auf verschiedene Geschmackstoffe reagiert, dann kann in einem charakteristischen Erregungsmuster (einem neuronalen Code) dieser Gruppe von Zellen sehr viel mehr Information vermittelt werden. Das Gehirn ist in der Lage, den neuronalen Code über Mustererkennungsprozesse zu lesen und daraus Art und Konzentration des Reizstoffes zu identifizieren.
Exkurs – Der Geschmack, der keiner ist
Bei der Darstellung der fünf Geschmacksqualitäten – süss, salzig und umami auf der guten Seite sowie bitter und sauer auf der schlechten – scheint doch etwas Wesentliches zu fehlen: Pfeffer, Meerrettich, Chili, Wasabi und andere scharfe Gewürze. Vielen von uns erscheinen Speisen fad und uninteressant, wenn sie nicht wenigstens etwas „Schärfe“ enthalten. Was also ist Scharfgeschmack? Schärfe wird über Schmerzrezeptoren vermittelt. Der Stoff Capsaicin zum Beispiel, der in Chillischoten vorkommt, bindet an einen Rezeptor für Hitze und aktiviert thermische Nozizeptoren, welche auch schmerzhafte Temperaturerhöhungen von über 43°C signalisieren. Durch die Wirkung auf thermische Nozizeptoren wird neben dem Gefühl für Schärfe auch ein Hitzegefühl ausgelöst und es kommt sogar zur Ausschüttung des Entzündungsmediators Substanz P, (den sie im Kapitel 6 “ Nozizeption“ kennengelernt haben).