Im Innenohr liegt zusätzlich zum Hörorgan das Gleichgewichtsorgan. Es vermittelt uns die Lage des Körpers im Gravitationsfeld der Erde und ermöglicht uns den aufrechten Gang. Ausserdem überwacht es die Bewegung des Kopfes und koordiniert sie mit der Bewegung der Augen.
Lernziele
- Sie kennen verschiedene Funktionen des Gleichgewichtsorgans.
- Sie können den Aufbau der Makularorgane und der Bogengänge beschreiben.
- Sie kennen den Mechanismus der Transduktion in den vestibulären Haarzellen.
8.1 – Gleichgewichtsorgan
Um den aufrechten Gang zu ermöglichen, muss unser Körper über das Gravitationsfeld der Erde informiert sein. Diese lebenswichtige Information wird durch zwei Gleichgewichtsorgane im linken und rechten Innenohr vermittelt, welche Beschleunigungen (auch die Erdbeschleunigung = Gravitation) mit Hilfe von je zwei Maculaorganen und drei Bogengängen messen. Die Macularorgane messen Linearbeschleunigungen. Sie haben einen einfachen und zuverlässigen Sensor in Form von kleinen Calciumkristallen, die von der Schwerkraft verlagert werden können. Schon die geringste Kopfneigung verschiebt die Calciumkristalle und verändert das Signal der Macularorgane. Das Gehirn kennt also immer die Lage des Kopfes relativ zur Erdbeschleunigung, auch in einem absolut dunklen Zimmer, wo keine visuelle Information verfügbar ist.
Die Übertragung eines klaren Lagesignals an das Gehirn wird aber durch unseren beweglichen Kopf erschwert; wir nicken, schütteln und wiegen den Kopf. Unser Gleichgewichtssinn löst dieses Problem mit einem zusätzlichen Messsystem, einem Sinnesorgan, das die Drehbeschleunigung des Kopfes in den drei Raumachsen registriert. Drei grosse Bogengänge am Vestibularorgan messen die Drehbeschleunigung des Kopfes. Mithilfe dieser Informationen kann das Gehirn die Signale aus den Maculaorganen besser interpretieren. Es kann sozusagen denjenigen Teil des Signals, der durch die Kopfbewegung verursacht wird, vom Gesamtsignal abziehen. Was übrig bleibt, ist die Lageinformation für den aufrechten Gang.
8.2 – Transduktion in vestbulären Haarzellen
Wir haben im Kapitel 7 „Gehör“ bereits Haarzellen kennengelernt, die Flüssigkeitsbewegungen in neuronale Signale umwandeln. Auch das vestibuläre System verwendet ähnliche Haarzellen, um die Ausrichtung des Körpers im Gravitationsfeld der Erde und die Bewegungen des Kopfes zu messen. Die Haarzellen beider Organe haben sich aus dem Seitenlinienorgan wasserlebender Wirbeltiere entwickelt. Dabei wurde der Mechanismus, Druckveränderungen im Wasser wahrnehmen zu können, übernommen und an den Einsatz in den Strukturen des Innenohrs angepasst.
Wie in der Cochlea besitzen die Sinneszellen des Vestibularorgans Stereozilien auf der Oberseite, welche mit tip-links verbunden sind und sich in einer kaliumreichen Umgebung befinden. Durch Auslenkung der Stereozilien öffnen oder schliessen sich Kaliumkanäle und das Signal wird von einem mechanischen in einen elektrischen Reiz umgewandelt. Kalium strömt in die Zelle ein und depolarisiert das Innere der Zelle. Ist die Zelle genügend depolarisiert, wird Glutamat in den synaptischen Spalt ausgeschüttet. Dadurch wird das Signal an ein afferentes Neuron des Gleichgewichtsnervs weitergeleitet. Selbst in Ruhe feuern die Afferenzen regelmässige Aktionspotentiale. Eine Auslenkung der Stereozilien verändert diese Aktionspotenzial-Frequenz, aber nicht jede Auslenkung der Stereozilien führt zum gleichen Ergebnis. Jede Haarzelle weist eine besonders lange Cilie auf, die Kinocilie. Eine Auslenkung der Haarzellen in Richtung der Kinocilie führt zu einem depolarisierenden exzitatorischen Rezeptorpotenzial und zu einer erhöhten Feuerfrequenz des afferenten Neurons. Eine Auslenkung in die andere Richtung bewirkt hingegen eine Hyperpolarisation und hemmt die Zelle, so dass auch die Feuerfrequenz des afferenten Neurons abnimmt .
8.3 – Maculaorgane
Wie bereits beschrieben, reagieren Maculaorgane auf Veränderungen der Lage des Kopfes im Gravitationsfeld der Erde. Sie messen den Neigungswinkel des Kopfes. Zusätzlich reagieren sie auch auf lineare Beschleunigungen. Eine Linearbeschleunigung tritt beispielsweise dann auf, wenn man in einem Zug sitzt, der anfährt oder abbremst.
Der Mensch besitzt pro Innenohr zwei Maculaorgane: Utriculi und Sacculi. Die Stereocilien der Maculaorgane ragen in eine gallertartige Kappe, die Statolithenmembran. Calciumkristalle, die Statolithen oder auch Otolithen genannt werden, bedecken die Oberfläche der Statolithenmembran. Sie haben eine höhere Dichte als die sie umgebende Endolymphe. Wenn sich der Neigungswinkel des Kopfes verändert oder der Kopf linear beschleunigt wird, wird auf die Statolithen eine Kraft ausgeübt. Diese wiederum üben eine Kraft in derselben Richtung auf die Statolithenmembran aus, die sich leicht bewegt, wodurch die Stereocilien der Haarzellen abgebogen werden.
Die Utriculi und Sacculi stehen senkrecht zueinander. In aufrechter Lage messen die Sacculi vor allem lineare Vor-/Rückbeschleunigungen und Vertikalbeschleunigungen, die Utriculi vor allem Vor-/Rückbeschleunigungen und Horizontalbeschleunigungen. Zusätzlich messen die Macularogane auch die Erdbeschleunigung, die wie eine permanente Kraft auf die Statolithen der Statolithenmembran wirkt. In einer aufrechten Position, wenn der Kopf gerade steht, wirkt eine Kraft auf die Statolithen der Sacculi nach unten zur Erde hin. Dies führt zu einer Auslenkung der Stereozilien und folglich zu einer Erhöhung der Feuerrate in den Nervenfasern der Sacculi. Da die Utriculi nahezu horizontal stehen, sind sie von der Erdanziehung in aufrechter Position nicht betroffen.
Der Kopf kann sich neigen und in jede Richtung bewegen – die Haarzellen von Utriculus und Sacculus sind so orientiert, dass sie all diese Bewegungen effizient in neuronale Signale umwandeln können. Das Zentralnervensystem kann durch die simultane Nutzung der Informationen, die von der gesamten Population der Haarzellen stammt, alle möglichen Linearbewegungen detektieren.
8.4 – Die Bogengänge
Die Bogengänge sind mit ihrer runden Form darauf spezialisiert, Drehbeschleunigung wahrzunehmen. Diese entstehen wenn wir nicken, den Kopf schütteln oder den Kopf wiegen. Um jede dieser Bewegungen detektiern zu können, sind die Bogengänge in drei verschiedene Winkel ausgerichtet. Die Messung der Drehbeschleunigung in den Bogengängen funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip wie die Messung der Linearbeschleunigung in den Maculaorganen – allerdings ohne Statolithen. Die Stereocilien der Bogengänge ragen ebenfalls in eine gallertige Kappe, die Cupula, die das Lumen des Bogengangs in der Ampulle durchspannt. Bei allen Haarzellen in einer Ampulle sind die Kinocilien in dieselbe Richtung orientiert. Das hat zur Folge, dass alle Haarzellen gemeinsam erregt oder gehemmt werden. Die Bogengänge sind mit Endolymphe gefüllt. Beginnen sich die Wand des Bogengangs und die Cupula zu drehen, bleibt die Endolymphe aufgrund ihrer Massenträgheit zunächst an ihrem Ort bestehen. Die zurückbleibende Flüssigkeit drückt auf die Cupula und stimuliert damit die Haarzellen.
Wenn sich die Kopfdrehung mit konstanter Geschwindigkeit fortsetzt, wie zum Beispiel auf einem Karussell, dann bleibt die Endolymphe nicht mehr zurück, sondern gerät auch in Bewegung. Dadurch kehrt die Cupula in ihre Ruhestellung zurück. Wenn dann jedoch die Rotation des Kopfes (und seiner Bogengänge) aufhört, bewirkt die Trägheit der Endolymphe, dass die Cupula in die andere Richtung ausgerichtet wird. Das ruft in den Haarzellen eine entgegengesetzte Reaktion und damit kurzzeitig das Gefühl hervor, die Umwelt drehe sich im Gegensinn. Dieser Mechanismus erklärt, warum man sich schwindelig fühlt, nachdem man aufhört, sich im Kreis zu drehen. Die Bogengänge signalisieren einem, der Körper drehe sich noch immer, wenn auch in die andere Richtung.
Gemeinsam helfen die drei Bogengänge auf jeder Körperseite dabei, alle nur möglichen Rotationswinkel des Kopfes wahrzunehmen. Das wird durch die Tatsache unterstützt, dass sich jeder Bogengang ein Äquivalent auf der gegenüberliegenden Kopfseite hat, welches in derselben Orientierungsebene liegt und auf Drehungen um dieselbe Achse reagiert. Während die Drehung die Haarzellen des einen Bogengangs jedoch erregt, hemmt sie die Haarzellen des kontralateralen Partners. Die wahrgenommene Drehbeschleunigung ergibt sich dann aus der Differenz zwischen der linken und rechten Haarzellenaktivität.
8.5 – Der Gleichgewichtssinn und andere Sinnessysteme
Wenn wir uns bewegen, ändert sich unsere Lage im Raum ständig. Die korrekte Bewegungsausführung basiert auf einem ständigen Messen und Korrigieren. Dazu werden die Informationen des Gleichgewichtsorgans mit Informationen aus dem visuellen System und mit Informationen von Muskel- und Gelenkrezeptoren (Propriorezeptoren), speziell aus der Halsregion, ergänzt. Das Gehirn und vor allem das Cerebellum nutzen die Informationen aus diesen Sinnesorganen, um Bewegungsabläufe ständig anhand sensorischer Informationen zu überprüfen und zu korrigieren.
Seekrankheit
Interessant ist die Reaktion des Körpers auf Schwierigkeiten bei der Interpretation der Signale aus dem Gleichgewichtsorgan. Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Sinneskonflikt ist die Seekrankheit. Wenn wir in der Kajüte eines Schiffes auf hoher See bei ordentlichem Seegang sitzen und die Wellenberge das Schiff in eine schlingernde Bewegung versetzen, meldet uns das Gleichgewichtsorgan, dass sich unsere räumliche Lage im Gravitationsfeld ständig und drastisch verändert. Von dem visuellen System kommt aber ein ganz anderes Signal: Die Wände der Kajüte lassen keine Bewegung erkennen, da sie sich mit uns zusammen als räumliche Einheit bewegen. Wie reagiert das Gehirn auf die widersprüchlichen Informationen aus Innenohr und Augen? Es kommt nicht damit zurecht. Wir fühlen uns elend und schlecht, müssen erbrechen, müssen Schwindel ertragen und sind weitgehend handlungsunfähig. Seekrankheit beruht möglicherweise auf einem Informationskonflikt zwischen dem Gleichgewichts- und dem Sehsinn. Diese oft genannte Erklärung ist aber keineswegs wissenschaftlich abgesichert. Wäre der Sinneskonflikt die alleinige Ursache, dann dürften Blinde niemals seekrank werden, denn ohne Sehsinn kann es ja keinen Konflikt geben. Untersuchungen mit blinden Probanden haben aber gezeigt, dass auch Blinde sehr wohl seekrank werden können, was auf den Gleichgewichtssinn als Hauptverursacher hindeutet.