Alles, was wir über unsere Umwelt wissen und alles was wir je erfahren haben, wurde uns von unseren Sinnen vermittelt. Unsere Sinne haben sich im Laufe der Evolution darauf spezialisiert, Reize die für uns wichtig sind, spürbar zu machen. Diese Reize werden als Sinnesreize bezeichnet. Sie erzeugen an den Zellmembranen der Sinnesrezeptoren Potentialänderungen, die zur Erregung von afferenten sensorischen Nervenfasern führen. Die Erregungen der Nervenfasern gelangen in sensorische Bereiche des Gehirns und werden dort verarbeitet.
Obwohl die verschiedenen Reize und die Funktionsweise der Sinnesorgane sehr unterschiedlich sind, haben alle Sinnesorgane einige gemeinsame Grundprinzipien. Diese Gemeinsamkeiten beschreiben wir in diesem Kapitel.
Lernziele
- Sie kennen den Begriff ‚Sensor‘ und kennen dessen Eigenschaften.
- Sie können den Prozess der Umkodierung eines Reizes in eine Aktionspotentialfrequenz mittels Transduktion und Transformation erklären.
- Sie können die Signalverarbeitung im Netzwerk der afferenten Neuronen beschreiben und kennen die laterale Hemmung.
- Sie kennen den Weg der Informationsverarbeitung im ZNS und die Eigenschaften der primären Cortexareale.
2.2 – Informationsverarbeitung in der Peripherie
2.1.1 – Sinnesmodalitäten
Die von einem bestimmten Sinnesorgan vermittelten Empfindungen werden als Sinnesmodalität bezeichnet. Die klassischen Sinnesmodalitäten sind Fühlen, Hören, Sehen, Schmecken und Riechen. Neben ihnen kennen wir heute noch eine Reihe weiterer Sinnesmodalitäten wie den Gleichgewichtssinn, den Temperatursinn, die Wahrnehmung von Schmerz und die Propriozeption, die die Position und Bewegung des eigenen Körpers vermittelt. Es gibt auch Sensoren in unserem Körper, die an der Regelung von physiologischen Prozessen mitwirken und die wir nicht bewusst wahrnehmen wie zum Beispiel die Barorezeptoren, welche den arteriellen Blutdruck messen.
2.1.2 – Adäquater Reiz
Sinnesorgane sind darauf spezialisiert auf bestimmte Reize zu reagieren. Meist ist das der Reiz, der das Sinnesorgan mit minimalst benötigter Energie erregt. Diese Reize nennt man adäquate Reize. In der Regel muss der adäquate Reiz eine Mindestgrösse erreichen, um eine Erregungsschwelle zu überschreiten.
2.1.3 – Transduktion
Ein Sensor ist der Bereich eines Sinnesorgans, der darauf spezialisiert ist, adäquate Reize in neuronale Informationen umzuformen. Hier befinden sich alle molekularen Komponenten, um auf den Reiz zu reagieren und ein elektrisches Signal zu erzeugen. Als Sensoren können frei im Gewebe liegende Nervenenden dienen, wie es zum Beispiel bei den Nozizeptoren (Rezeptoren für Schmerzwahrnehmung) der Fall ist. Die meisten Sensoren besitzen aber Aussensegmente, die darauf spezialisiert sind eine optimale Reizumwandlung zu ermöglichen. In Abbildung 2.2 sind Beispiele für Sensoren gezeigt. Das Aussensegment der Photorezeptoren, besteht aus Scheiben mit photosensitiven Membranen (a), bei Riechzellen besteht das Aussensegment aus dünnen, haarähnlichen Cilien (b), Haarzellen im Innenohr tragen Stereocilien (c) und bei der Geschmackszelle bilden Microvilli das Aussensegment (d). Die genaue Funktionsweise dieser und weiterer Sensoren werden Sie in den einzelnen Kapiteln des Skripts kennenlernen.
Reizung von Sensoren führen zu lokalen Änderungen des Membranpotentials, das auch als Sensorpotential bezeichnet wird. Man betitelt den Vorgang der Übersetzung eines Reizes in ein Sensorpotential als Transduktion. Die einfachste Möglichkeit, wie ein Reiz ein Sensorpotential in der Sinneszelle erzeugen kann, besteht darin, direkt einen Ionenkanal zu öffnen. Dieser Kanal wird vom Reiz direkt »freigegeben« und der Einfluss von Ionen erzeugt das elektrische Signal. Diese Art der Signalumwandlung findet man unter anderem bei Zellen die auf mechanische Reize spezialisiert sind. Das können Tastsinneszellen sein oder die Zellen im Innenohr.
Viele Sinneszellen verwenden jedoch eine kompliziertere Art der Signalwandlung, bei der sich verschiedene zelluläre Proteine in einer Reaktionskette zusammenfinden, so dass jedes Protein das nachfolgende Protein vom inaktiven Zustand in den aktiven Zustand überführt. Da bei dieser Form der Signalübertragung sekundäre Botenstoffe (Second Messenger) zwischen den Rezeptor und den Ionenkanal geschaltet sind, wird sie als Second Messenger Kaskade bezeichnet. Diese Vermittlung von Sinnesreizen bietet eine Reihe von Vorteilen: Erstens ist es möglich unterschiedliche Reize an die Aktivität von Ionenkanälen zu koppeln. Zweitens verstärkt die Signalkaskade das Signal. Ein Rezeptorprotein kann nämlich nicht nur eines, sondern viele nachfolgende Proteine aktivieren, sodass Hunderte von Ionenkanäle geöffnet werden. Diese Verstärkung ist der Grund dafür, weshalb unsere Sinneszellen eine so hohe Empfindlichkeit erreichen. Sie können ein einzelnes Duftstoffmolekül detektieren oder auf ein einziges Lichtquant reagieren. Ein weiterer Vorteil der Second Messenger Kaskade ist es, dass sie der Zelle viele Möglichkeiten bietet, regulierend in die Verstärkung einzugreifen.
2.1.4 – Transformation
Überschreitet die Reizstärke und das dadurch ausgelöste Sensorpotential eine bestimmte Schwelle, dann werden durch die veränderte Membranspannung spannungsgesteuerte Kanäle (z.Bsp. Natriumkanäle) geöffnet. Bei diesem Beispiel kommt es zu einem sehr schnellen und starken Natriumeinstrom und ein Aktionspotential wird ausgelöst. Während beim Sensorpotential die Grösse der Membranspannung (meist graduelle Depolarisation) die Reizgrösse abbildet, erfolgt die Abbildung der Reizgrösse beim Aktionspotential durch Frequenzänderung. Das heisst: je stärker der Reiz und das Sensorpotential, desto höher ist die Frequenz der Aktionspotentiale. Die Umkodierung von einem lokalen Potential, dessen Amplitude variiert, zu einem fortgeleiteten Signal, dessen Frequenz sich ändert wird als Transformation bezeichnet.
2.1.5 – Messverhalten der Sensoren
Die Antwort eines Sensors auf einen Reiz ist nicht immer proportional. Vielmehr kann das Messverhalten vieler Sensoren an die Reizintensität angepasst werden. Das bringt zum einen den Vorteil, dass nur für den Organismus relevante Aspekte eines Reizes detektiert werden und das Gehirn dadurch nicht unnötig mit Sinnesinformationen überflutet wird. Zum anderen kann die Empfindlichkeit des Sensors an unterschiedliche Reizstärken angepasst werden, wodurch sich der Arbeitsbereich des Sensors erweitert.
Die Anpassung eines Sinnesorgans an einen wiederholten oder länger andauernden Reiz bezeichnet man als Adaptation. Sie kann dadurch entstehen, dass die Struktur des Aussensegments des Sensors durch das Einwirken des Reizes so verändert wird, dass der Reiz keine Wirkung mehr auf den Sensor hat. Sie kann aber auch dadurch entstehen, dass die Menge oder Aktivität einzelner Komponenten der Reizverarbeitung und dadurch die Übertragungseigenschaften des Signals reduziert werden.
Sensoren werden anhand ihres Messverhaltens in drei Gruppen eingeteilt:
- Proportionalfühler reagieren proportional zur Reizstärke und adaptieren nicht.
- Differentialfühler reagieren ausschliesslich auf Reizänderungen und adaptieren schnell.
- Proportional-Differentialfühler reagieren auf Reizstärke und Reizänderung. Sie zeigen nach der Adaptation noch eine statische Antwort, die über die gesamte Reizdauer anhält.
Beispiele für das Messverhalten von Sensoren
Im Bild unten sind unterschiedliche Reizverläufe eines rechteckförmigen und eines rampenförmigen Reizes dargestellt. Wie verändert sich die Feurfrequenz eines Proportional-Differentialfühler bei rechteckförmigen Reizen und die eines Differentialfühlers bei rampenförmigen Reizen? Ziehen Sie die Bilder der Aktionspotenzialfrequenzen an die entsprechenden Abbildungen der Reizverläufe.
2.1.6 – Rezeptive Felder
Die Information des Sensors wird über primäre Afferenzen an das ZNS geleitet. Einige Sensoren besitzen selber ein langes Axon, das die Information ans ZNS sendet. In dem Fall sind die Sensoren selbst die primäre Afferenz. Andere Sensoren übertragen ihre Information auf nachgeschaltete primäre Afferenzen, die dann zum ZNS ziehen. Vergleichbar mit den Ästen eines Baumes, verzweigt sich die primäre Afferenz in ihrem Innervationsgebiet. Den Bereich der Abzweigungen, in dem die primäre Afferenz erregt werden kann, bezeichnet man als primäres rezeptives Feld.
Die Information der primären Afferenz wird im ZNS auf nachgeschaltete Neurone übertragen. Ein nachgeschaltetes Neuron wird als sekundäre Afferenz bezeichnet. Die Afferenzen leiten die Information aber nicht einfach linear weiter. Vielmehr sind sie untereinander synaptisch verbunden, wodurch eine Netzwerkstruktur entsteht. In diesem Netzwerk kann die Information einer primären Afferenz an zwei sekundäre Afferenzen weitergeleitet werden. Dies nennt man Divergenz der Information. Eine sekundäre Afferenz kann Information aber auch von zwei primären Afferenzen erhalten, was als Konvergenz bezeichnet wird. Durch Konvergenz erhält die sekundäre Afferenz ein grösseres rezeptives Feld, welches als sekundäres rezeptives Feld bezeichnet wird. Diese Netzwerkstruktur ist redundant, d.h., dass der Ausfall einer Zelle keinen zu grossen Schaden anrichtet, da andere Zellen ihre Funktion übernehmen können.
2.1.7 – Laterale Hemmung
Innerhalb der Netzwerke von primären und sekundären Afferenzen, kommt es bei einigen Sinnesorganen zu einer Verstärkung von Aktivitätsunterschieden von funktionell benachbarten Neuronen, d.h. Neuronen mit benachbarten rezeptiven Feldern. Dieser Vorgang wird auch als Kontrastverstärkung bezeichnet. Kontrastverstärkung entsteht durch laterale Hemmung, bei der funktionell benachbarte Zellen sich gegenseitig hemmen. Ein Aktivitätsunterschied bildet sich dadurch, dass das am stärksten erregte Neuron funktionelle Nachbarneurone auch stark hemmt, wohingegen die schwächer erregten Nachbarregionen ihrerseits nur eine geringe hemmende Wirkung auf das am stärksten erregte Neuron ausüben.
Modell zur lateralen Hemmung
Dieses Modell soll die Grundlagen der lateralen Hemmung veranschaulichen. In gelb sind primäre Afferenzen, unter der Haut, gezeigt. Die Aktionspotentialfrequenz der primären Afferenzen wurde mit Elektroden abgeleitet und ist als schwarzer Balken dargestellt (jeder senkrechte Balken stellt ein einzelnes Aktionspotential dar). Alle primären Afferenzen feuern selbst ohne Stimulation mit einer Grundrate von fünf Aktionspotenzialen pro Sekunde. Wenn auf das rezeptive Feld einer primären Afferenz ein Reiz einwirkt (Nadelstich), dann steigt die Feuerrate dieser Zelle auf zehn Aktionspotenziale pro Sekunde. Die primären Afferenzen leiten ihr Signal an sekundäre Afferenzen (blau) weiter. In unserem Modell wird das Signal dabei um den Faktor drei verstärkt (+3). Aus fünf Aktionspotenzialen pro Sekunde werden fünfzehn Aktionspotenzialen pro Sekunde. Die primären Afferenzen sind zusätzlich über inhibitorische Interneurone (schwarz) mit benachbarten Afferenzen verbunden. Durch diese inhibitorischen Interneuronen wird die Feuerrate der benachbarten Neuronen abgeschwächt. Die Abschwächung erfolgt umgekehrt proportional zur Erregung der primären Afferenz (-1x). Welche Feuerrate ergibt sich bei einer Ableitung der sekundären Afferenzen? Sie lässt sich durch einfaches Summieren der erregenden und hemmenden Einflüsse berechnen.
Ziehen Sie die Bilder der Aktionspotentialfrequenz zu den entsprechenden Axonen der sekundären Afferenzen. Diese Bilder können mehrfach verwendet werden. Sie können die Übung oben rechts vergrössern.
Informationsverarbeitung im ZNS
2.2.1 – Unbewusste Signalverarbeitung
Die Signale aus den Sinnesorganen, die sich im Kopf befinden wie das Vestibularorgan, die Ohren, die Augen, der Mund und die Nase, gelangen zuerst zum Hirnstamm. Hier werden schnelle körperliche Reaktionen ausgelöst, die ohne eine Beteiligung des Bewusstseins ablaufen. Das können motorische Reaktionen, wie die Kontraktion bestimmter Muskeln zum Halten des Gleichgewichts oder zur Bewegung der Augen sein, es können aber auch vegetative Reaktionen, wie die Anregung von Speichelfluss und die Vorbereitung des Verdauungssystem auf Nahrung sein.
Somatosensorische Signale aus der Haut und den Muskeln des Körpers (Tastsinn, Wahrnehmung von Schmerz, und Orientierung unseres Körpers im Raum) gelangen zuerst ins Rückenmark. Hier sind sie in Rückenmarksschaltkreise eingebunden, die schnelle motorische Reaktionen (Reflexe) auslösen können. Zum Beispiel löst ein Schmerzreiz, der durch die Berührung einer heissen Herdplatte entsteht, eine Reaktion aus, die dazu führt, dass die Hand zurückgezogen wird. Das Rückenmark dient aber auch als Leitungsbahn für die afferenten Nervenfasern, die als Faserbündel in der weissen Substanz des Rückenmarks aufsteigen. Die Nervenbahnen aus dem Rückenmark durchqueren den Hirnstamm und bilden Abzweigungen auf Hirnstammkerne aus, über die ebenfalls unbewusste, körperliche Reaktionen ausgelöst werden können.
Vom Hirnstamm führt der Weg zunächst in die zentrale Verteilungsstelle, den Thalamus. Der Thalamus ordnet die hereinkommende Sinnesinformation und schickt sie dann auf zwei verschiedene Wege ins Gehirn: den Weg zum Bewusstsein und den Weg zum Gefühl.
2.2.2 – Der Weg zum Gefühl
Der Weg zur emotionellen Empfindung führt zu den Strukturen des limbischen Systems, tief im Inneren des Gehirns. Hier ist vor allem die Amygdala interessant, da sie für die emotionale Bewertung von Sinnesinformation verantwortlich ist. In diesem Teil des Gehirns werden Emotionen, Instinkte und triebgesteuertes Verhalten reguliert. Sie erzeugen Angst beim Anblick einer Schlange, Abscheu beim Geruch von verdorbenem Fleisch oder Freude beim Anblick eines lachenden Babys.
2.2.3 – Der Weg zum Bewusstsein
Der Weg zum Bewusstsein führt vom Thalamus zum Cortex. Die Information aus den Sinnesorganen wird vom Thalamus aber nicht einfach an den Cortex weitergeleitet,sondern sie wird auch gefiltert. Jede Cortex Region, die vom Thalamus mit Sinnesinformation versorgt wird, schickt Kontrollsignale zum Thalamus zurück. Durch diese Rückkopplung können sensorische Areale im Cortex selbst darüber entscheiden, welche Informationen sie erhalten möchten und welche nicht. Es handelt sich dabei um genau die Informationen, die in einem bestimmten Moment interessant und wichtig ist. Da man nur das, was im Cortex verarbeitet wird, bewusst wahrnimmt, wird der Thalamus auch »Tor zum Bewusstsein« genannt. Der Thalamus ist eine wichte Übertragungs-Station für alle Sinnesmodalitäten ausser dem Riechen.
Im Cortex gibt es für jedes Sinnesorgan einen bestimmten abgegrenzten Bereich in dem die Information verarbeitet wird. Dieser Bereich wird als primärer Cortex bezeichnet. Es gibt einen primären visuellen Cortex, einen primären auditorischen Cortex, einen primären somatosensorischen Cortex, usw. Auch innerhalb der primären Cortexareale bleibt die Information aus den Sinnesorganen geordnet. Jede Nervenzelle im Cortex empfängt Informationen von einer bestimmten Stelle des Sinnesorgans in der Peripherie. Die Bereiche, die in der Peripherie nebeneinander liegen, liegen auch im Cortex nebeneinander, sodass eine geordnete Abbildung der Sinnesorgane in den primären Cortexarealen entsteht. Je nachdem aus welchem Sinnesorgan die Karten ihre Information erhalten, werden sie als retinotope (Auge), tonotope (Ohr) oder somatotope (Körper) Karten bezeichnet. Die somatotope Karte, welche die Körperoberfläche abbildet, wird auch als Homunkulus bezeichnet, das lateinische Wort für „kleiner Mensch“. Der Homunkulus ist im Vergleich zum Körper nicht Massstabsgetreu. Mund, Finger und Zunge beanspruchen mehr Cortexoberfläche. Das liegt daran, dass diese Bereiche besonders dicht mit Sinneszellen besetzt und dadurch besonders sensibel sind.